Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Voruntersuchung in Coyoacan


Während der ersten „kirowschen“ Prozesse (Dezember 1934 bis Januar 1935) war die Annäherung Paris – Moskau bereits in vollem Gange. Die „nationale“ Disziplin der französischen Presse ist zu gut bekannt. Vertreter der ausländischen, insbesondere der amerikanischen Presse konnten mich infolge meines „Inkognitos“ nicht erreichen. Ich war isoliert. Mein Echo auf den ersten Sinowjew-Kamenew-Prozess bestand in einer kleinen Broschüre, die in einer sehr beschränkten Auflage gedruckt und verbreitet wurde. In Moskau nahm man mit Befriedigung diese Tatsache zur Kenntnis: sie erleichterte die Inszenierung des kommenden großen Prozesses. Mit seiner Vorbereitung vergingen jedoch noch anderthalb Jahre. Während dieser Zeit hatte sich die Freundschaft Stalins mit den Parteien der Volksfront in Frankreich derart gefestigt, dass die GPU mit Bestimmtheit auf die wohlwollende Neutralität nicht nur der Radikalen, sondern auch der Sozialisten rechnen konnte. Tatsächlich schloss der Populaire vollständig seine Spalten für jegliche Enthüllungen über die Tätigkeit der GPU, nicht nur in der UdSSR, sondern auch in Frankreich. Die Verschmelzung der „roten“ Gewerkschaften mit den reformistischen hatte unterdessen den Siegel des Schweigens auf die Lippen der CGT gelegt. Wenn Léon Blum den Streit mit Thorez vertagt, so bemüht sich Léon Jouhaux, im Frieden mit beiden zu leben. Der Sekretär der II. Internationale, Friedrich Adler, tat, was er konnte, um die Wahrheit aufzudecken. Aber mit kleinen Ausnahmen boykottierte die Internationale ihren eigenen Sekretär. Nicht zum ersten mal in der Geschichte wurden die führenden Organisationen Werkzeuge einer Verschwörung gegen die Interessen der Arbeitermassen und die Forderungen ihres Gewissens. Doch niemals vielleicht hatte die Verschwörung solch zynischen Charakter angenommen. Stalin konnte deshalb glauben, seines Spieles sicher zu sein.

Er hat sich verrechnet. Ein dumpfer, nicht immer artikulierter, aber sicherer Widerstand erhob sich von unten. Die Arbeitermassen konnten nicht ruhig die Tatsache verdauen, dass der alte bolschewistische Stab plötzlich der Verbindung mit dem Faschismus beschuldigt und der Vernichtung ausgesetzt wurde. Es schlugen Alarm die ehrlicheren und feinfühligeren Elemente der radikalen Intelligenz. Unter diesen Umständen zeigte sich auch die ganze Bedeutung der Gruppen, die unter dem Banner der IV. Internationale stehen. Sie sind noch keine Massenorganisationen – und können nach dem Charakter der reaktionären Periode, die wir durchleben, keine sein. Das sind Kader, Ferment der Zukunft. Sie haben sich formiert im Kampfe gegen die führenden Arbeiterparteien der Epoche des Niedergangs. In der Geschichte Arbeiterbewegung war keine Fraktion solch bösartigen und vergifteten Verfolgungen ausgesetzt wie die sogenannten „Trotzkisten“. Das hat ihnen eine politische Stählung verliehen, den Geist der Opferbereitschaft eingeimpft und sie gelehrt, gegen den Strom zu schwimmen. Gehetzte junge Kader lernen viel, denken ernst und stehen ehrlich zum Programm. Nach der Fähigkeit, sich in der politischen Situation zu orientieren und deren Entwicklung vorauszusehen, überragen sie schon jetzt unermesslich die „autoritärsten“ Führer der II. und der III. Internationale. Sie sind tief der Sowjetunion ergeben, das heißt dem, was von der Oktoberrevolution dort übrig geblieben ist, und werden, zum Unterschiede von der überwiegenden Mehrzahl der offiziellen „Freunde“, in schwieriger Stunde es durch die Tat beweisen. Aber sie hassen die Sowjetbürokratie als den bösesten Feind. Deren Fälschungen und Amalgame können sie nicht täuschen. Jede dieser Gruppen war mindestens einmal selbst Opfer einer kleinen nationalen Fälschung gewesen, vorläufig allerdings noch ohne Erschießungen, aber mit Versuchen moralischen Mordes und nicht selten physischer Gewalt. Hinter den Fälschungen der Komintern steht stets die GPU. Die Moskauer Prozesse haben darum die ausländischen „Trotzkisten“ nicht überrascht. Sie haben als erste das Signal der Abwehr gegeben und sofort einen sympathisierenden Widerhall in verschiedenen Schichten und Gruppierungen der Arbeiterklasse und der radikalen Intelligenz gefunden. Die Hauptaufgabe bestand darin, eine öffentliche Untersuchung der Moskauer Verbrechen zu erreichen. Es konnte jedoch unter den gegebenen Verhältnissen nicht die Rede sein von der Schaffung einer Untersuchungskommission auf der Basis der offiziellen Arbeiterorganisationen. Es blieb nur ein anderer Weg übrig: zur Sache der Untersuchung einzelne autoritäre Menschen mit sauberer Reputation hinzuzuziehen. Gerade so hat das amerikanische „Komitee zur Verteidigung Trotzkis“ und danach auch das französische die Frage gestellt. Die Stalinsche Agentur hat in der ganzen Welt sofort ein Geheul erhoben, die Untersuchung werde „parteiisch“ sein. Diese Menschen haben ihre Kriterien: die Verkörperung der Unparteilichkeit ist für sie Jagoda, der den Prozess Sinowjew-Kamenew vorbereitete. Vergeblich hat das New Yorker Komitee versucht, zur Kommission Vertreter der Sowjetgesandtschaft, der amerikanischen kommunistischen Partei oder der „Freunde der Sowjetunion“ hinzuzuziehen. Ein heiseres Bellen antwortete aus verschiedenen Ländern der Alten und der Neuen Welt auf die wiederholten Einladungen: es demonstrierten die heißesten Anhänger der „Unparteilichkeit“ ihre Solidarität mit der Justiz Stalins und Jagodas. Aber es heißt schon immer: die „Freunde“ bellen, doch die Karawane zieht vorbei. Die Kommission wurde Tatsache. Ihr Zentrum ist natürlicherweise John Dewey, Philosoph und Pädagoge, Veteran des amerikanischen „Liberalismus“. Neben ihm sitzen in der Kommission: die radikale Schriftstellerin Suzanne La Follette; der bekannte Publizist des linken Lagers, Benjamin Stolberg; der alte deutsche Marxist des linken Flügels, Otto Rühle; der bekannte Politiker des anarchistischen Lagers, Carlo Tresca; das Haupt der amerikanischen Soziologen, Edward Alsworth Ross; der Rabbiner Edward L. Israel und andere Persönlichkeiten. Entgegen den absurden Behauptungen der Komintern-Presse, ist und war kein einziges Mitglied der Kommission ein Gesinnungsgenosse von mir. Der als Marxist politisch mir am nächsten Stehende, Otto Rühle, war in unversöhnlicher Opposition zur Komintern auch in jener Periode, als ich an ihrer Leitung nahen Anteil nahm. Aber es handelt sich ja gar nicht darum. Das Moskauer Gericht beschuldigt mich nicht des „Trotzkismus“, nicht der Verteidigung des Programms der permanenten Revolution, sondern des Bündnisses mit Hitler und dem Mikado, das heißt des Verrates am Trotzkismus. Wenn aber die Mitglieder der Kommission mit dem „Trotzkismus“ sympathisieren würden (wovon in Wirklichkeit nicht die Spur ist), so würde sie dies keinesfalls geneigt machen, meinem Bündnis mit dem japanischen Imperialismus gegen die UdSSR, die Vereinigten Staaten und China durch die Finger zu sehen. Seine Feindschaft gegen den Faschismus hat Otto Rühle durch das Werk seines ganzen Lebens wie auch durch seine Verbannung bewiesen. Er ist weniger fähig, Milde gegen Hitlers Verbündete zu zeigen, als jene Beamten, die auf Kommando der Vorgesetzten segnen und fluchen. Die „Parteilichkeit“ der Kommissionsmitglieder besteht nur darin, dass sie weder Jagoda, noch Wyschinski, noch Stalin selbst aufs Wort glauben. Sie wollen Beweise und fordern sie. Es ist nicht ihre Schuld, wenn Stalin ihnen das verweigert, was er nicht besitzt. An der Spitze der Pariser Kommission, die nach Direktiven aus New York arbeitet, stehen meine unversöhnlichen politischen Gegner: der sozialistische Advokat Delépine, Mitglied des Zentralkomitees der Partei Léon Blums; der italienische Advokat Modigliani, Mitglied des Exekutivkomitees der II. Internationale. Auch unter den übrigen Mitgliedern der Kommission (Frau César Chabrun, Vorsitzende des Hilfskomitees für politische Gefangene; Galtier-Boissière, Direktor der linken Zeitschrift Le Crapouillot; Mathe, der frühere Sekretär des Nationalen Gewerkschaftsbundes der Post- und Telegraphenangestellten, und Jacques Madaule, ein bekannter katholischer Schriftsteller) gibt es nicht einen Trotzkisten. Ich will noch hinzufügen, dass ich mit keinem einzigen Mitglied, sowohl der New Yorker wie der Pariser Kommission, je im Leben persönliche Beziehungen oder Verbindungen unterhalten habe.

Die New Yorker Kommission beschloss, vor allem durch eine besondere Unterkommission mich zu vernehmen, um festzustellen, ob ich über genügend Material verfüge, um die spätere Untersuchung zu rechtfertigen. Die Unterkommission bestand aus: John Dewey, La Follette, Stolberg, Otto Rühle und dem Journalisten Carleton Beals. Die Hinzuziehung des letzteren zur Unterkommission war nur deshalb erfolgt, weil einige in Aussicht genommene autoritäre Persönlichkeiten im letzten Moment verhindert waren, nach Mexiko zu reisen. Als juristischen Berater hat die Unterkommission den bekannten Advokaten John Finnerty eingeladen, einen Teilnehmer der irländischen revolutionären Bewegung und Verteidiger in den berühmten Prozessen Sacco und Vanzetti, Tom Mooney [1] und anderer. Ich meinerseits hatte als Rechtsbeistand den Chicagoer Advokaten Albert Goldman geladen. Die Stalinsche Presse hat ihn sofort des „Trotzkismus“ beschuldigt und hatte diesmal recht. Goldman hat jedoch niemals seine politische Solidarität mit mir verheimlicht, im Gegenteil, er hat sie während der Untersuchung offen bekannt. Hätte ich vielleicht zu meinem Advokaten Herrn Pritt erwählen sollen?

Nach ihrer Ankunft in Mexiko hat die Unterkommission sofort die kommunistische Partei, die Gewerkschaften und alle Arbeiterorganisationen des Landes überhaupt eingeladen, an der Untersuchung teilzunehmen, mit dem Recht, alle Fragen, die sie für nötig halten, zu stellen und die Nachprüfung der Erklärungen zu verlangen. Aber die sogenannten „Kommunisten“ und die offiziellen „Freunde“ Moskaus haben mit demonstrativen Ablehnungen geantwortet, bei denen die Feigheit sich mit Hochmut zu maskieren bemühte. Wenn Stalin in die Gerichtsarena nur solche Angeklagte lassen kann, denen alle nötigen „Reuebekenntnisse“ vorher entrissen wurden, so können die ausländischen „Freunde“ der GPU nur in einer solchen Umgebung auftreten, wo sie auf keinen Widerspruch stoßen. Den freien Dialog vertragen diese Menschen nicht.

Die ursprüngliche Absicht der Unterkommission war, ihre Arbeit öffentlich in einem der Säle Mexikos durchzuführen. Die „kommunistische“ Partei drohte mit Manifestationen. Die Partei ist zwar sehr klein, dafür aber verfügt die GPU über große finanzielle und technische Mittel. Die mexikanischen Behörden stellten der Arbeit der Unterkommission keine Hindernisse in den Weg. Jedoch würde der Schutz öffentlicher Sitzungen zu viel Mühe gekostet haben. Die Unterkommission beschloss aus eigener Initiative, ihre Sitzungen im Hause Riveras abzuhalten, in einem Raum, der fünfzig Personen fasst. Die Presse und die Vertreter der Arbeiterorganisationen, unabhängig von der Richtung, hatten freien Zutritt zu den Sitzungen. Einige mexikanische Gewerkschaftsverbände waren durch Delegierte vertreten. Die Sitzungen der Unterkommission dauerten eine Woche, vom 10.–17. April. In der einleitenden Rede erklärte Professor Dewey:

„Wenn Leo Trotzki der Taten, die man ihm vorwirft, schuldig ist, dann gibt es keine Strafe, die zu hart wäre. Der ausnehmende Ernst der Anklagen ist aber ein Grund mehr, dem Angeklagten in vollem Maße das Recht zu sichern, alle in seinen Händen befindlichen Beweise beizubringen zur Widerlegung der Anklage. Die Tatsache, dass Herr Trotzki die Beschuldigungen zurückweist, kann an sich in den Augen der Kommission nicht von Gewicht sein. Aber die Tatsache, dass er verurteilt wurde, ohne dass man ihm die Möglichkeit gab, gehört zu werden, ist für das Gewissen der ganzen Welt von größtem Gewicht.“

Diese Worte drücken am besten den Geist aus, der die Arbeit der Kommission erfüllte. Nicht weniger charakteristisch sind die Schlussworte seiner Rede, in der Dewey, diesmal im eigenen Namen, erklärt, weshalb er nach langem Schwanken sich bereit gefunden habe, die schwere Pflicht des Vorsitzenden der Kommission zu übernehmen:

„Ich habe mein Leben der Sache der Erziehung gewidmet, die ich als Aufklärung des Volkes im Interesse der Gesellschaft verstehe. Und wenn ich den verantwortlichen Posten, den ich heute einnehme, doch übernommen habe, so nur deshalb, weil ich zu dem Entschluss gekommen bin, dass anders zu handeln bedeutet hätte, der Sache meines Lebens untreu zu werden.“

Es gab im Saale keinen einzigen Menschen, der vom tiefen sittlichen Ernst dieser in ihrer Einfachheit außerordentlichen Worte des achtundsiebenzigjährigen Mannes nicht ergriffen war. Meine kurze Antwort enthielt unter anderem folgende Erklärung:

„Ich bin mir dessen klar bewusst, dass die Teilnehmer der Kommission bei ihrer Arbeit geleitet werden von ungleich bedeutenderen und tieferen Motiven als das Interesse für das Schicksal einer einzelnen Person. Um so größer aber ist meine Hochachtung und um so aufrichtiger mein Dank!“

Und weiter:

„Ich bitte um Nachsicht für meine englische Sprache, die – ich erlaube mir, es im Voraus zu sagen – der schwächste Punkt meiner Position ist. In allem anderen erwarte ich nicht die geringste Nachsicht. Am allerwenigsten neige ich dazu, a priori Vertrauen zu meinen Behauptungen zu verlangen. Die Aufgabe der Untersuchungskommission ist, alles, von Anfang bis zu Ende, nachzuprüfen. Meine Pflicht ist, ihr dabei zu helfen. Ich werde bemüht sein, diese Pflicht vor den Augen der ganzen Welt gewissenhaft zu erfüllen.“

Die Kommission ging an die Sache in außerordentlich weitem Ausmaße heran, das durch das Wesen der Moskauer Anklagen gerechtfertigt wird. Der gesamte Verlauf der Debatten wurde von einem vereideten Gerichtsstenographen niedergeschrieben. Der Bericht, der etwa 250.000 Worte enthält, wird bald in einer amerikanischen und in einer englischen Ausgabe erscheinen. Wer den Wunsch hat, die Wahrheit zu erfahren oder sich ihr auch nur zu nähern, wird mit dem aufmerksamen Vergleich der zwei stenographischen Berichte, des Moskauer und des Coyoacaner, beginnen müssen.

Die zwei ersten Sitzungen waren meiner politischen Biographie gewidmet, im besonderen meinen Beziehungen zu Lenin. Ich konnte mich wiederum überzeugen, dass die massive Lügenkampagne, die die Komintern unermüdlich seit zwölf Jahren führt, Spuren auch in den Gehirnen denkender und ehrlicher Menschen hinterlassen hat. Nicht alle Mitglieder kannten die wirkliche Geschichte der bolschewistischen Partei, besonders die Geschichte ihrer Entartung. Die Widerlegung der Erfindungen und Legenden der Moskauer Historiographie hätte eine zu detaillierte Arbeit, zu viel Zeit und ... eine weniger gebundene englische Zunge erfordert. Es ist möglich, dass dieser erste Teil der Vernehmung kein genügend abgeschlossenes politisches Bild ergeben hat. Mir blieb nur übrig, auf eine Reihe meiner Bücher zu verweisen und um deren Aufnahme in das Untersuchungsmaterial zu bitten. Die zwei folgenden Sitzungen waren mit der Aufklärung über meine Beziehungen zu den Hauptangeklagten der zwei großen Prozesse ausgefüllt. Ich war bemüht, der Unterkommission klarzumachen, dass die Angeklagten nicht Trotzkisten, sondern erbitterte Feinde des Trotzkismus und insbesondere meine persönlichen Feinde gewesen waren. Tatsachen und Zitate, die ich bekanntgab, schlugen der Moskauer Version und ihren Autoren derart ins Gesicht, dass die Mitglieder der Unterkommission nur staunen konnten. Als ich auf die Fragen meines Advokaten die Geschichte der Gruppierungen und persönlichen Beziehungen in der bolschewistischen Partei während der letzten zehn Jahre darlegte, staunte ich selbst mitunter: wie hat sich Stalin entschließen, wie hat er es wagen können, auch nur den Versuch zu machen, Sinowjew und Kamenew, Radek und Pjatakow als meine politischen Gesinnungsgenossen hinzustellen? Die Lösung des Rätsels ist jedoch in Wirklichkeit einfach: in diesem Falle, wie in so vielen anderen, steht die Frechheit der Lüge in proportionellem Verhältnis zur Macht des Inquisitionsapparates. Stalin hat nicht nur meine Feinde gezwungen, sich als meine Freunde auszugeben, er hat sie auch genötigt, als Strafe für diese angebliche Freundschaft um ihre Hinrichtung zu bitten. Hatte Wyschinski es nötig, bei einem solchen Prozess-Komfort sich um Tatsachen, Zitate, Chronologie und Psychologie zu kümmern? Fast drei Sitzungen waren der Analyse und der Widerlegung der wichtigsten, gegen mich persönlich gerichteten Aussagen gewidmet, nämlich: dem angeblichen Besuch Golzmanns und der anderen bei mir in Kopenhagen im November 1932; der angeblichen Begegnung Wladimir Romms mit mir im Bois de Boulogne, Ende Juli 1933, und endlich dem angeblichen Flug Pjatakows zu mir nach Norwegen, Dezember 1935. Zu diesen drei entscheidenden Punkten legte ich die Originalkorrespondenz vor, die sich auf die entsprechenden Momente bezieht, offizielle Dokumente (Pässe, Visen, telegraphische Gesuche, Photographien usw.) und mehr als hundert notariell beglaubigte Zeugenaussagen aus allen Ecken Europas. Alle Umstände meines Lebens in diesen drei kurzen, aber entscheidenden Perioden waren mit solcher Fülle klargestellt, dass den Organisatoren der Fälschung kein Loch geblieben war, wo auch nur eine Nadel hätte durchgehen können.

In diesem Teil erreichte die Untersuchung in Coyoacan ihren Höhepunkt. Die Mitglieder der Kommission, die Journalisten und das Publikum, alle erkannten und fühlten in gleicher Weise, dass der Nachweis meines Alibi in den drei einzigen Fällen, wo die Anklage Zeit- und Ortumstände nennt, dem Moskauer Gerichtsverfahren in seiner Gesamtheit einen tödlichen Schlag zufügte. Allerdings versuchte Beals, der Moskauer offiziellen Version zu Hilfe zu kommen und in meinen Antworten Widersprüche zu entdecken. Doch konnte ich diesem Kommissionsmitglied dafür nur dankbar sein, unabhängig von seinen Absichten. Meine Lage war sehr günstig: ich sprach vor vernünftigen und ehrlichen Menschen, die danach strebten, die Wahrheit zu erfahren; ich schilderte die Tatsachen, wie sie waren, und stützte mich auf unwiderlegbare Dokumente; Zeitungen, Bücher, Briefe, das menschliche Gedächtnis, die Logik und die Psychologie – alles kam mir zu Hilfe. Nach jeder Antwort auf die scharfen Fragen Beals verstummte dieses rätselhafte Mitglied der Kommission in völliger Verwirrung. Seine im Publikum sitzenden Inspiratoren hörten schließlich auf, ihm Zettelchen zu schicken. In den Geheimfächern des menschlichen Gewissens war das Schicksal des Prozesses eigentlich im Voraus entschieden. Allerdings vorläufig nur im kleinen Saal des blauen Hauses in Coyoacan. Das übrige ist eine Frage der Zeit und der typographischen Mittel.

Die nächsten sechs Sitzungen beschäftigten sich mit Fragen der Sabotage, meiner Stellung zur Sowjetwirtschaft, meinen Verbindungen mit meinen Gesinnungsgenossen in der UdSSR, dem Terrorismus, der Verteidigung der UdSSR, der Tätigkeit der IV. Internationale und schließlich meiner Stellung zum Faschismus. Ich war nicht in der Lage, auch nur einen zwanzigsten Teil meines Materials auszunutzen. Die Hauptschwierigkeit bestand in der raschen Wahl der krassesten Dokumente, der kürzesten Zitate, der einfachsten Argumente. Eine unersetzbare Hilfe leisteten mir dabei meine alten Mitarbeiter: Jan Frankel und Jean van Heijenoort. Die Kommissionsmitglieder bewahrten selbstverständlich äußerlich höchste Zurückhaltung. Aber doch schien es mir, als erreichten die Tatsachen und Argumente ihre Bestimmung und gruben sich ins Bewusstsein ein.

Entsprechend den Regeln des angelsächsischen Gerichtsverfahrens, ging die Leitung der Vernehmung in der zweiten Hälfte der Session von meinem Advokaten A. Goldmann zu dem juristischen Berater der Kommission, D. Finnerty, über. Die Stalinisten beschuldigten ihn, er habe die Leitung „zu milde“ gehandhabt: Vielleicht. Ich meinerseits wünschte nichts so sehr als misstrauische, kämpferische, scharfe Fragen. Doch Finnertys Lage war nicht leicht. Die Aussagen, die ich machte, und die Dokumente die ich vorlegte, vernichteten die Anklage restlos. Formell lief die Sache nur noch darauf hinaus, die Aussagen und die Dokumente kritisch zu prüfen. Das aber war zum Teil Aufgabe der europäischen Unterkommission und hauptsächlich der Plenarkommission in New York. Im gegebenen Stadium vermochten sogar die Inspiratoren Beals keine einzige Frage vorzubringen, die auch nur indirekt die Version des Moskauer Gerichts zu bekräftigen imstande gewesen wäre.

Finnerty und andere Kommissionsmitglieder waren eifrig bemüht, festzustellen, ob sich das „Regime Stalin“ tatsächlich vom „Regime Lenin-Trotzki“ so stark unterscheidet. Fragen über Wechselbeziehungen zwischen Partei und Sowjets und über das innere Regime der Partei selbst in verschiedenen Perioden wurden einer sorgfältigen Untersuchung ausgesetzt. Die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder neigte zu der Meinung, dass der Bürokratismus Stalins, mit all seinen Verbrechen, deren ich ihn beschuldige, ein unvermeidliches Resultat der revolutionären Diktatur sei. Ich konnte selbstverständlich eine solche Fragestellung nicht akzeptieren. Die Diktatur des Proletariats ist für mich kein absolutes Prinzip, das aus sich heraus wohltuende oder bösartige Folgen logisch erzeugt, sondern eine historische Erscheinung, die je nach den konkreten Bedingungen, den äußern wie den inneren, sich in die Richtung der Arbeiterdemokratie und der völligen Aufhebung der Herrschaft entwickeln wie auch in einen bonopartistischen Unterdrückungsapparat ausarten kann. Der tiefe Unterschied zwischen der formal-demokratischen und der dialektischen Stellung zu historischen Problemen in dieser Frage muss aus den Protokollen der Coyoacaner Untersuchung besonders grell hervortreten und damit allein beweisen, wie weit die Mitglieder der Kommission, mindestens in ihrer Mehrheit, vom „Trotzkismus“ entfernt sind.

In der zwölften Sitzung wurde die äußerst zweideutige Erklärung Beals über seinen Austritt aus der Kommission verkündet. Diese Demonstration kam für niemand überraschend. Seit dem Augenblick seiner Ankunft in Mexiko stand Beals, ein früherer Korrespondent der TASS, in enger Mitarbeit mit Lombardo Toledano, Klukhohn und anderen „Freunden“ der GPU. Vor den Kollegen aus der Kommission verbarg er seine Adresse. Eine Reihe von Fragen, die er mir stellte, hatten zum Prozess keine Beziehung, trugen aber einen bewusst provokatorischen Charakter, von dem Bestreben diktiert, mich bei der mexikanischen Behörde zu kompromittieren. Nachdem Beals seine kargen Hilfsmittel erschöpft hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als aus der Kommission auszutreten. Diese seine Absicht hatte er befreundeten Journalisten im Voraus anvertraut, die es mit lobenswerter Unvorsichtigkeit in der mexikanischen Presse drei Tage vor Beals tatsächlichem Austritt veröffentlichten. Es ist überflüssig zu sagen, dass die Presse, die von Stalin ausgehalten wird, Beals hinter den Kulissen sorgfältig vorbereiteten Austritt auf ihre Art ausnutzte. Gleichzeitig versuchten Moskaus Agenten ein anderes Mitglied der Kommission zum Rücktritt zu bewegen, und zwar mit Hilfe von „Argumenten“, die man weder im Wörterbuch der Philosophie noch im Wörterbuch der Moral finden kann. Aber darüber wird die Geschichte ein anderes Mal erzählen. Die letzte, dreizehnte Sitzung war zwei Reden gewidmet: meines Verteidigers und meiner eigenen. Auf den weiteren Seiten ist meine Schlussrede vor der Untersuchungskommission im Wortlaut angeführt. Ich hoffe, dass dies dem Leser, auch dem, der den stenographischen Bericht und die Dokumente nicht kennt, die Möglichkeit geben wird, sich darüber ein Urteil zu bilden: ob vom Moskauer Amalgam nach den Sitzungen in Coyoacan viel übrig geblieben ist.

Das unmittelbare Ziel der Unterkommission war, wie wir bereits wissen, aufzuklären, ob ich tatsächlich über ein solches Material verfüge, das eine weitere Untersuchung rechtfertigen kann. Am 9. Mai gab John Dewey auf einem öffentlichen Meeting in New York seinen für das Plenum der internationalen Kommission bestimmten Bericht: Der fünfte Paragraph des Berichtes lautet:

„Herr Trotzki als Zeuge. Entsprechend der bestehenden Regel, müssen sogar offiziell wirkende Gerichte das Benehmen eines Zeugen bei der Erwägung des Wertes seiner Aussagen in Betracht ziehen. Wir werden vom gleichen Prinzip geleitet bei der Wiedergabe unseres Eindrucks über das Benehmen und die Handlungsweise des Herrn Trotzki. Im Laufe sämtlicher Sitzungen schien er erfüllt von dem Wunsch, mitzuarbeiten mit der Kommission bei deren Bestreben, die Wahrheit über alle Perioden seines Lebens und seiner politischen und literarischen Tätigkeit festzustellen. Bereitwillig entgegenkommend und mit offener Aufrichtigkeit und dem Wunsche, mitzuhelfen, antwortete er auf alle Fragen, die ihm der Berater der Unterkommission und ihre Mitglieder stellten.

Die praktische Schlussfolgerung des Berichtes lautet:

„Unsere Unterkommission überbringt einen stenographischen Bericht über ihre Sitzungen zusammen mit den als Beweis vorgelegten Dokumenten. Dieser Bericht überzeugt uns davon, dass Herr Trotzki die Notwendigkeit einer weiteren Untersuchung vollauf begründet hat. Wir empfehlen deshalb, die Arbeit der Kommission zu Ende zu führen.“

Mehr konnte ich vorläufig nicht verlangen! Die Plenarsession der Kommission ist für September angesetzt. Ihr Verdikt wird historische Bedeutung haben.

Warum ist eine Untersuchung notwendig?

Ist eine Untersuchung politisch zulässig?

Die Expertise des Professors Charles Beard

Eine „rein juristische“ Expertise

Autobiographie

Meine „juristische“ Lage

Drei Kategorien von Beweisen

Mathematische Reihen der Fälschung

Die politische Basis der Anklage: Terrorismus

Kirows Ermordung

Wer hat die Liste der „Opfer“ des Terrors zusammengestellt?
(Die „Sache“ Molotow)


Die politische Basis der Anklage: Sabotage

Die politische Basis der Anklage: Bündnis mit Hitler und dem Mikado

Kopenhagen

Radek

Der „Zeuge“ Wladimir Romm

Pjatakows Flug nach Norwegen

Was wurde im letzten Prozess widerlegt?

Der Staatsanwalt als Fälscher

Die Theorie der „Maskierung“

Wozu und weshalb die Prozesse?

Die Enthauptung der Roten Armee

Stalin über seine Fälschungen

Der Anfang vom Ende


Anmerkung

1. Im Buch steht „Thom Muni“.

 


Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2018