Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Wozu und weshalb die Prozesse?


Ein amerikanischer Schriftsteller klagte mir im Gespräch: „Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie mit den Faschisten ein Bündnis eingegangen sind, aber es fällt mir auch schwer zu glauben, dass Stalin eine so schreckliche Fälschung begangen hat.“ Ich konnte meinen Gesprächspartner nur bedauern. Es ist in der Tat schwer, eine Lösung zu finden, wenn man an die Frage ausschließlich von der individuell-psychologischen und nicht von der politischen Seite herangeht. Ich will damit die Bedeutung des individuellen Elements in der Geschichte nicht bestreiten. Sowohl Stalin wie ich befinden uns nicht zufällig auf unseren heutigen Posten. Aber diese Posten haben nicht wir geschaffen. Jeder von uns ist in das Drama hineingezogen worden als Vertreter bestimmter Ideen und Prinzipien. Wiederum hängen Ideen und Prinzipien nicht in der Luft, sondern haben tiefe soziale Wurzeln. Man muss darum nicht die psychologische Abstraktion Stalin als „Menschen“ nehmen, sondern seine konkrete historische Figur als Führer der Sowjetbürokratie. Stalins Handlungen kann man nur verstehen, wenn man von den Existenzbedingungen der neuen privilegierten Schicht ausgeht, die, gierig nach der Macht, gierig nach den Gütern des Lebens, Angst hat um ihre Positionen, Angst vor den Massen – und jegliche Opposition tödlich hasst. Die Lage der privilegierten Bürokratie in der Gesellschaft, die sie selbst sozialistisch nennt, ist nicht nur widerspruchsvoll, sondern auch falsch. Je schärfer der Sprung von der Oktoberrevolution, die die soziale Lüge bis auf den Grund enthüllte, zur heutigen Lage, die eine Kaste von Parvenüs zwingt, die sozialen Wunden zu maskieren – um so tiefer die thermidorianische Lüge. Es handelt sich folglich nicht um eine individuelle Lasterhaftigkeit der einen oder der anderen Person, sondern um das Lasterhafte einer ganzen sozialen Gruppe, für die die Lüge eine politische Lebensfunktion geworden ist. Im Kampfe um ihre neuen Positionen hat sich diese Kaste selbst ganz neu erzogen und parallel damit hat sie ihre Führer erzogen oder richtiger demoralisiert. Sie hat auf ihren Schultern jenen hochgehoben, der am besten, am entschiedensten und am erbarmungslosesten ihre Interessen ausdrückt. So wurde Stalin, der einstmals ein Revolutionär war, zum Führer der thermidorianischen Kaste. Die Formeln des Marxismus, die die Interessen der Massen ausdrücken, haben die Bürokratie immer mehr behindert, insofern sie sich unvermeidlich gegen die Interessen dieser Bürokratie wenden. Seit ich mich in die Opposition zur Bürokratie gestellt habe, begannen deren Hoftheoretiker das revolutionäre Wesen des Marxismus Trotzkismus zu nennen. Gleichzeitig veränderte sich der offizielle Begriff Leninismus von Jahr zu Jahr, indem er immer mehr den Bedürfnissen der regierenden Kaste angepasst wurde. Bücher, die der Geschichte der Partei, der Oktoberrevolution oder der Theorie des Leninismus gewidmet waren, wurden jedes Jahr abgeändert. Ich habe ein Beispiel aus der literarischen Tätigkeit Stalins angeführt. Im Jahre 1918 schrieb er, dass der Sieg des Oktoberaufstandes „vor allem und am meisten“ durch Trotzkis Leitung gesichert war. Im Jahre 1924 schrieb er, dass Trotzki bei der Oktoberumwälzung keine besondere Rolle spielen konnte. Nach dieser Stimmgabel wurde die ganze Historiographie abgetönt. Das bedeutet praktisch, dass Hunderte junger Gelehrter und Tausende von Journalisten systematisch im Geiste einer Fälschung erzogen wurden. Wer Widerstand leistete, dem schnürte man die Kehle zu. In noch größerem Maße gilt das für die Propagandisten, Beamten, Richter, von den Staatsanwälten der GPU ganz zu schweigen. Die ununterbrochenen Säuberungen der Partei waren vor allem auf die Ausrottung des Trotzkismus gerichtet, wobei als Trotzkisten nicht nur unzufriedene Arbeiter bezeichnet wurden, sondern auch alle jene Schriftsteller, die gewissenhaft historische Tatsachen und Zitate anführten, die dem letzten offiziellen Standard widersprachen. Dichter und Künstler unterwarfen sich dem gleichen Regime. Die geistige Atmosphäre des Landes wurde durch und durch vom Gifte der Konvention, der Lüge und der direkten Fälschung erfüllt.

Alle Möglichkeiten auf diesem Wege waren jedoch bald erschöpft. Theoretische und historische Falsifikationen erfüllten nicht mehr den Zweck: man gewöhnte sich zu sehr an sie. Man musste den bürokratischen Repressalien eine massivere Begründung geben. Den literarischen Falsifikationen kamen Beschuldigungen kriminellen Charakters zu Hilfe.

Meine Ausweisung aus der UdSSR wurde offiziell damit motiviert, dass ich einen „bewaffneten Aufstand“ vorbereitet hätte. Allerdings wurde diese mir persönlich vorgehaltene Beschuldigung von der Presse nicht einmal gedruckt. Es mag vielleicht jetzt unglaublich scheinen, aber schon im Jahre 1929 beschuldigte die Sowjetpresse die Trotzkisten der „Sabotage“, „Spionage“, „Vorbereitung von Eisenbahnkatastrophen“ usw. Prozesse hat es jedoch wegen dieser Beschuldigungen nicht gegeben. Die Sache beschränkte sich auf literarische Verleumdungen, die jedoch ein wichtiges Glied in der Vorbereitung späterer Prozessfälschungen waren. Um die Repressalien zu rechtfertigen, brauchte man falsche Beschuldigungen. Um den falschen Beschuldigungen Gewicht zu verleihen, musste man sie durch noch schärfere Repressalien bekräftigen. So stieß die Logik des Kampfes Stalin auf den Weg der blutigen Prozessamalgame.

Sie wurden für ihn eine Notwendigkeit auch aus internationalen Gründen. Wenn die Sowjetbürokratie Revolutionen nicht wünscht und sie fürchtet, so kann sie dennoch nicht offen von der revolutionären Tradition sich lossagen, ohne ihre Reputation im Innern der UdSSR völlig zu untergraben. Ein offener Bankrott der Kommunistischen Internationale schafft Raum für eine neue Internationale. Seit dem Jahre 1933 hat der Gedanke neuer revolutionärer Parteien unter dem Banner der IV. Internationale große Fortschritte in der Alten und in der Neuen Welt gemacht. Ein außenstehender Beobachter kann schwer die tatsächlichen Ausmaße dieser Erfolge einschätzen. Sie lassen sich mit der Statistik der Mitgliedskarten allein nicht berechnen. Viel größere Bedeutung hat die allgemeine Tendenz der Entwicklung. Durch alle Sektionen der Komintern gehen tiefe Risse, die beim ersten historischen Stoß zu Spaltungen und Zusammenbrüchen führen werden. Wenn Stalin Angst hat vor dem kleinen Bulletin der Opposition und seine Einfuhr in die UdSSR mit Erschließungen bestraft, dann ist es nicht schwer zu begreifen, welche Furcht die Bürokratie davor hat, dass in die UdSSR Nachrichten dringen könnten über die aufopfernde Arbeit der IV. Internationale im Dienste der Arbeiterklasse.

Die moralische Autorität der Führer der Bürokratie und vor allem Stalins hält sich in großem Maße auf dem Babylonischen Turm von Verleumdungen und Fälschungen, der im Laufe von dreizehn Jahren errichtet wurde. Die moralische Autorität der Komintern hält sich voll und ganz auf der moralischen Autorität der Moskauer Bürokratie. Wiederum braucht Stalin unbedingt die moralische Autorität der Komintern und deren Unterstützung vor der russischen Arbeiterklasse. Dieser Babylonische Turm, der seine Erbauer selbst schreckt, hält sich im Inneren der UdSSR mit Hilfe immer schrecklicherer Repressalien, außerhalb der UdSSR – mit Hilfe des gigantischen Apparates, der auf Kosten der sowjetrussischen Arbeiter und Bauern die öffentliche Weltmeinung mit Mikroben der Lüge, Fälschung und Erpressung vergiftet. Millionen Menschen in der ganzen Welt identifizieren die Oktoberrevolution mit der thermidorianischen Bürokratie, die Sowjetunion – mit Stalins Clique, die revolutionären Arbeiter – mit dem durch und durch demoralisierten Apparat der Komintern. Die erste größere Bresche im Babylonischen Turm wird dazu führen, dass er völlig zusammenstürzt und unter seinen Trümmern die Autorität der thermidorianischen Führer begräbt. Deshalb ist es für Stalin eine Frage auf Tod und Leben: die IV. Internationale im Keime totzuschlagen! In dem Augenblick, da wir hier die Moskauer Prozesse analysieren, tagt in Moskau, nach den Zeitungsberichten, das Exekutivkomitee der Komintern. Auf ihrer Tagesordnung steht: Kampf gegen den Welttrotzkismus. Diese Session des Exekutivkomitees der Komintern ist nicht nur ein Glied in der langen Kette der Moskauer Fälschungen, sondern auch ihre Projektion auf die Weltarena. Wir werden morgen von neuen Verbrechen der Trotzkisten in Spanien hören, von ihrer direkten oder indirekten Unterstützung der Faschisten. Wir werden morgen hören, dass Trotzkisten in den Vereinigten Staaten Eisenbahnkatastrophen vorbereiten und im Interesse Japans den Panamakanal zuschütten wollen. Wir werden übermorgen hören, dass die Trotzkisten in Mexiko Maßnahmen zur Restaurierung Porfirio Diaz treffen. Man kann einwenden, Diaz sei schon lange tot? Die Moskauer Schöpfer des Amalgams machen vor solchen Kleinigkeiten nicht halt. Sie machen überhaupt vor nichts halt. Politisch und moralisch steht für sie die Frage auf Leben und Tod. Die Emissäre der GPU jagen durch alle Länder der Alten und der Neuen Welt. Mangel an Geld leiden sie nicht. Was bedeutet für die regierende Clique eine Mehrausgabe von 20–50 Millionen Dollar, wenn ihre Autorität und ihre Macht auf dem Spiele stehen! Menschliche Gewissen werden von diesen Herren wie Kartoffeln gekauft. Wir werden nicht wenige solcher Beispiele sehen.

Zum Glück sind nicht alle käuflich. Andernfalls wäre die Menschheit schon längst verfault. In der Untersuchungskommission besitzen wir eine wertvolle Zelle des unbestechlichen öffentlichen Gewissens. Alle, die sich nach einer Reinigung der öffentlichen Atmosphäre sehnen, wird die Kommission instinktiv anziehen. Trotz den Intrigen, Bestechungen und Verleumdungen wird sie bald ein Panzer von Sympathie der breiten Volksmassen umgeben.

Meine Herren Mitglieder der Kommission! Es sind nun fünf Jahre, ich wiederhole: fünf Jahre! dass ich unablässig die Schaffung einer internationalen Untersuchungskommission fordere. Der Tag, an dem ich das Telegramm von der Bildung Ihrer Unterkommission erhielt, war ein großes Fest in meinem Leben, Freunde fragten mich, nicht ohne Besorgnis: Werden nicht Stalinisten in die Kommission eindringen, wie sie in das Komitee zur Verteidigung Trotzkis eingedrungen sind? Ich antwortete: Bei Tageslicht sind die Stalinisten nicht schrecklich. Im Gegenteil: ich werde die vergifteten Fragen der Stalinisten begrüßen; um sie zu zerschmettern, brauche ich nur zu erzählen, was in Wirklichkeit war. Die Weltpresse wird meinen Antworten die notwendige Öffentlichkeit verschaffen. Ich habe gewusst, dass die GPU einzelne Journalisten und ganze Zeitungen bestechen wird. Doch habe ich keinen Augenblick gezweifelt, dass man das Weltgewissen nicht bestechen kann und dass es in diesem Falle einen seiner glänzenden Siege erringen wird.

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018