Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Wer hat die Liste der „Opfer“ des Terrors zusammengestellt?
(Die „Sache“ Molotow)


Der Sinowjew-Kamenew-Prozess (August 1936) ist gänzlich auf dem Terror aufgebaut. Die Aufgabe des sogenannten „Zentrums“ bestand darin, durch Ermordung der „Führer“ die Regierung zu beseitigen und die Macht an sich zu reißen. Bei einer aufmerksamen Gegenüberstellung beider Prozesse, Sinowjew-Kamenew und Pjatakow-Radek, ist es nicht schwer, sich davon zu überzeugen, dass die Liste der Führer, die angeblich ausgerottet werden sollten, nicht von den Terroristen zusammengestellt wurde, sondern von deren vorgesehenen Opfern, das heißt vor allem von Stalin. Seine persönliche Autorschaft tritt am deutlichsten hervor bei der Frage Molotow.

Nach dem Anklageakt in Sachen Sinowjew und Genossen „hat das vereinigte Trotzkistisch-Sinowjewistische terroristische Zentrum, nachdem es Kirow ermordete, sich nicht mit der Organisierung der Ermordung Stalins allein begnügt. Das terroristische Trotzkistisch-Sinowjewistische Zentrum arbeitete gleichzeitig an der Organisierung von Morden an anderen Parteiführern, nämlich der Genossen Woroschilow, Schdanow, Kaganowitsch, Kossior, Ordschonikidse und Postyschew“. Molotows Namen enthält diese Sammelliste nicht. Die Aufzählung der von den Trotzkisten ausersehenen Opfer variiert im Munde der verschiedenen Angeklagten, in verschiedenen Momenten der Untersuchung und der Prozessverhandlung. Aber in einem Punkt blieb sie unverändert: keiner der Angeklagten nannte Molotow. Bei der Vernehmung während der Untersuchung sagte Reingold aus: „Die wichtigste Weisung Sinowjews bestand darin: man müsse den Schlag gegen Stalin, Kaganowitsch und Kirow führen.“ In der Abendverhandlung vom 19. August 1936 sagte der nämliche Reingold: „Deshalb ist die einzige Kampfmethode terroristische Akte gegen Stalin und seine nächsten Mitkämpfer – Kirow, Woroschilow, Kaganowitsch, Ordschonikidse, Postyschew, Kossior und andere.“ Unter den „nächsten Mitkämpfern“ ist Molotow nicht bezeichnet. Mratschkowski gab an: „... wir sollten Stalin, Woroschilow und Kaganowitsch ermorden. In erster Linie war Stalin auserkoren.“ Molotow ist wiederum nicht erwähnt. Nicht anders verhielt sich die Sache auch mit meinen terroristischen „Direktiven“. „Die Gruppe Dreizer ... bekam die Instruktion, Woroschilow zu ermorden, unmittelbar von Trotzki“, lautet der Anklageakt. Wie Mratschkowski erzählt, hat Trotzki im Herbst 1932 „wieder die Notwendigkeit betont, Stalin, Woroschilow und Kirow zu ermorden“. Im Dezember 1934 erhielt Mratschkowski durch Dreizer einen Brief von Trotzki, der „die Beschleunigung der Ermordung Stalins und Woroschilows“ forderte. Das selbe bestätigt Dreizer. Bermann-Jurin sagt aus: „Trotzki sagte, es sei notwendig, außer Stalin auch Kaganowitsch und Woroschilow zu ermorden.“ Somit habe ich im Laufe von drei Jahren Auftrag erteilt, Stalin, Woroschilow, Kirow und Kaganowitsch zu ermorden. Von Molotow war keine Rede. Diese Tatsache ist um so bemerkenswerter, als sogar in den letzten Jahren meiner Zugehörigkeit zum Politbüro weder Kirow noch Kaganowitsch dieser Institution angehörten und keiner sie für politisch wichtige Figuren hielt, während Molotow in der führenden Gruppe die zweite Person nach Stalin war. Jedoch ist Molotow nicht nur Mitglied des Politbüros, sondern steht auch an der Spitze der Regierung. Seine Unterschrift schmückt neben der Stalins die wichtigsten Regierungsverfügungen. Nichtsdestoweniger ignorieren die Terroristen des vereinigten „Zentrums“, wie wir gesehen haben, beharrlich Molotows Existenz. Am seltsamsten ist, dass der Staatsanwalt Wyschinski sich über diese Ignorierung nicht nur nicht wundert, sondern sie in der Ordnung findet. So befragt Wyschinski in der Morgensitzung des 19. August Sinowjew über die geplanten Terrorakte: „Gegen wen?“

Sinowjew: „Gegen die Führer.“

Wyschinski: „Das heißt gegen die Genossen Stalin, Woroschilow und Kaganowitsch.“

Das Wort: „das heißt“ lässt keine Zweifel übrig: der Staatsanwalt schließt offiziell das Regierungshaupt von der Partei- und Landesführung aus. Schließlich, resümierend die Ergebnisse der gerichtlichen Untersuchung, geht der gleiche Staatsanwalt in seiner Anklagerede mit den Trotzkisten ins Gericht, „die die Hand erhoben haben gegen die Führer unserer Partei, gegen die Genossen Stalin, Woroschilow, Schdanow, Kaganowitsch, Ordschonikidse, Kossior und Postyschew, gegen unsere Führer, gegen die Führer des Sowjetstaates“. (Sitzung vom 22. August.)

Das Wort „Führer“ ist dreimal wiederholt, es bezieht sich aber auch diesmal nicht auf Molotow.

Es ist ganz unbestreitbar, dass während der langen Vorbereitung des Prozesses des vereinigten Zentrums irgend welche ernstlichen Gründe bestanden haben mussten, Molotow aus der Liste der „Führer“ zu streichen. Die in die Geheimnisse der Spitzen nicht Eingeweihten konnten es nicht begreifen: weshalb erachteten es die Terroristen als notwendig, Kirow, Postyschew, Kossior, Schdanow – „Führer“ von provinziellem Maßstabe, zu ermorden, während sie Molotow, der anerkannterweise um einen Kopf, wenn nicht um zwei Köpfe diese Opferkandidaten überragt, unbeachtet ließen. Schon im Rotbuch, das dem Prozess Sinowjew-Kamenew gewidmet ist, verweilt Sedow bei diesem Ostrakismus in Bezug auf Molotow. Er schreibt:

„In der von Stalin zusammengestellten Liste der Führer, die die Terroristen angeblich ermorden wollten, befinden sich Führer nicht nur erster Größe, sondern sogar Schdanow, Kossior und Postyschew. Molotow steht aber nicht drin. In solchen Sachen gibt es bei Stalin keine Zufälligkeiten ...“

Worin besteht das Geheimnis? Von Reibungen zwischen Stalin und Molotow, in Verbindung mit der Ablehnung der Politik der „Dritten Periode“, gingen lange und beharrliche Gerüchte, die in der Sowjetpresse einen indirekten, aber deutlichen Widerhall fanden: Molotow wurde nicht zitiert, nicht gerühmt, nicht photographiert, einfach nicht erwähnt. Das Bulletin der Opposition hat diese Tatsache wiederholt vermerkt. Nicht anzuzweifeln ist jedenfalls, dass im August 1936 der Hauptmitkämpfer Stalins gegen alle oppositionellen Gruppen aus der Liste der regierenden Spitze in gröbster Weise öffentlich hinausgeworfen wurde. Man muss somit die Schlussfolgerung ziehen, dass die „Geständnisse“ der Angeklagten, wie auch meine „Direktiven“, mithelfen sollten, eine bestimmte Konjunkturaufgabe zu lösen: Kaganowitsch, Schdanow und andere in den Rang von „Führern“ zu erheben und den alten „Führer“ Molotow zu diskreditieren. Vielleicht aber verhält es sich so, dass die Gerichtsbehörde zur Zeit des Prozesses noch keine Beweise für Attentate auf Molotow in Händen hatte? Eine solche Hypothese hält keiner Kritik stand. „Beweise“ existieren bekanntlich in diesen Prozessen überhaupt nicht: das Urteil vom 23. August 1936 spricht von Attentaten (gegen Postyschew und Kossior), die der Prozessbericht mit keinem Wort erwähnt. Diese an sich nicht unwichtige Erwägung tritt zurück im Vergleich mit der Tatsache, dass in den Geständnissen der Angeklagten und vor allem der Mitglieder des „Zentrums“ die Rede weniger von Attentaten als von Attentatsplänen war. Es wurde fast ausschließlich davon geredet, wen die Verschwörer zu ermorden als notwendig erachteten. Die Liste der Opfer wurde folglich nicht durch das Untersuchungsmaterial bestimmt, sondern durch die politische Einschätzung der führenden Gestalten. Um so erstaunlicher, dass die Pläne des „Zentrums“ und meine „Direktiven“ alle denkbaren und undenkbaren Märtyrerkandidaten betrafen – außer Molotow. Indes hat niemand jemals Molotow für eine dekorative Figur, wie etwa Kalinin, gehalten. Im Gegenteil, wenn man die Frage aufwerfen soll, wer könnte Stalin ersetzen, so muss man antworten, dass Molotow die meisten Chancen hat.

Vielleicht aber haben die Terroristen auf Grund der Gerüchte von Meinungsverschiedenheiten einfach beschlossen, Molotow zu schonen. Wir werden sehen, dass auch diese Hypothese einer Prüfung nicht standhält. In Wirklichkeit haben nicht die „Terroristen“ Molotow schonen wollen, sondern Stalin wollte, um seinen Widersacher endgültig kirre zu machen, den Eindruck erwecken, die Terroristen hätten angeblich Molotow schonen wollen. Die Tatsachen sprechen dafür, dass Stalins Absicht von Erfolg gekrönt war. Schon vor dem Augustprozess konnte man eine Versöhnung zwischen Stalin und Molotow wahrnehmen. Sie fand auch sofort ihre Widerspiegelung auf den Seiten der Sowjetpresse, die, auf ein Signal von oben, an die Wiedereinsetzung Molotows in seine alten Rechte ging. Man könnte auf Grund der Prawda ein grelles und überzeugendes Bild von der allmählichen Rehabilitierung Molotows während des Jahres 1936 geben. Das Bulletin der Opposition (Nr. 50, Mai 1936) verzeichnete diese Tatsache und schrieb:

„Seit der Liquidierung der,Dritten Periode‘ befindet sich Molotow bekanntlich halb in Ungnade ...

Nun aber hat er sich in die Front eingereiht. In den letzten Wochen hielt er einige Panegyriken auf Stalin ... Als Entschädigung steht sein Name an zweiter Stelle und er selbst wird ‚nächster Mitarbeiter‘ tituliert.“

In dieser Frage, wie in vielen anderen, löst die Gegenüberstellung der offiziellen Organe der Bürokratie mit dem Bulletin der Opposition viele Rätsel.

Der Prozess Sinowjew-Kamenew widerspiegelte die Periode, die der Versöhnung vorausging: man konnte aber doch nicht in aller Eile das ganze Material der Voruntersuchung ändern! Außerdem hatte es Stalin mit der vollen Amnestie nicht eilig: man musste Molotow eine empfindliche Lehre erteilen. Und darum musste sich im August Wyschinski noch an die alte Direktive halten. Dagegen fand die Vorbereitung des Prozesses Pjatakow-Radek schon nach der Versöhnung statt. Dementsprechend verändert sich die Opferliste, und zwar nicht nur in Bezug auf die Zukunft, sondern auch in Bezug auf die Vergangenheit. In seiner Aussage vom 24. Januar erzählt Radek, sich auf eine Unterhaltung mit Mratschkowski im Jahre 1932 berufend: „Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass die Akte sich richten müssen gegen Stalin und seine nächsten Mitarbeiter: Kirow, Molotow, Woroschilow und Kaganowitsch.“ In der Morgenverhandlung vom 25. Januar sagte der Zeuge Loginow aus: „Pjatakow erklärte (Anfang des Sommers 1935:), dass das Trotzkistische parallele Zentrum ... terroristische Akte gegen Stalin, Molotow, Woroschilow und Kaganowitsch vorbereite ...“ Pjatakow versäumte selbstverständlich nicht, die Aussagen Loginows zu bestätigen. Die Angeklagten des letzten Prozesses nennen im Gegensatz zu den Mitgliedern des vereinigten „Zentrums“ Molotow nicht nur unter den Opfern, sondern stellen seinen Namen gleich nach Stalin.

Wer also hat die Liste der vorgemerkten Opfer zusammengestellt, die Terroristen oder die GPU? Die Antwort ist klar: Stalin durch die GPU. Die obenerwähnte Hypothese, die Trotzkisten hätten von den Reibungen zwischen Stalin und Molotow gewusst und Molotow aus politischen Rücksichten geschont, hätte nur dann auf den Schein der Glaubwürdigkeit Anspruch erheben können, wenn die Trotzkisten an die Vorbereitung der terroristischen Akte gegen Molotow erst nach dessen Versöhnung mit Stalin vorangegangen wären. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Trotzkisten schon im Jahre 1932 bestrebt waren, Molotow zu ermorden: nur haben sie im August 1936 „vergessen“, dies dem Staatsanwalt mitzuteilen, der Staatsanwalt seinerseits hat es „vergessen“, sie daran zu erinnern. Sobald aber Molotow die politische Amnestie von Stalin erreicht, ist das Gedächtnis bei dem Staatsanwalt wie bei den Angeklagten zurückgekehrt. So sind wir Zeugen eines Wunders: obwohl Mratschkowski selbst in seinen Aussagen von der Vorbereitung terroristischer Akte nur gegen Stalin, Kirow, Woroschilow und Kaganowitsch zu berichten wusste, nimmt Radek, auf Grund seiner Unterhaltung mit Mratschkowski im Jahre 1932, nachträglich Molotow in die Liste auf. Pjatakow hatte mit Loginow vom Attentat auf Molotow angeblich im Sommer 1935, das heißt mehr als ein Jahr vor dem Sinowjew-Prozess, gesprochen. Und schließlich erzählen von einem „tatsächlichen“ Attentat auf Molotow, das sich auf das Jahr 1934 bezieht – mehr als zwei Jahre vor dem Prozess des vereinigten „Zentrums“! – die Angeklagten Muralow, Schestow und Arnold. Die Schlussfolgerungen sind absolut klar: die Angeklagten waren hinsichtlich der Wahl ihrer „Opfer“ ebenso wenig frei, wie in Hinsicht auf alles andere. Die Liste der Objekte des Terrors bildet in Wirklichkeit eine Liste der den Massen offiziell empfohlenen Führer. Sie verändert sich je nach den Kombinationen an der Spitze. Den Angeklagten wie dem Staatsanwalt Wyschinski blieb nur übrig, sich den totalitären Instruktionen anzupassen.

Es bleibt noch die Möglichkeit folgenden Einwandes: sieht diese ganze Machination nicht zu plump aus? Darauf kann man nur antworten: sie ist nicht im geringsten plumper als alle anderen Machinationen dieser schändlichen Prozesse. Der Regisseur appelliert nicht an Vernunft und Kritik. Er will die Rechte der Vernunft erdrücken durch die Massivität der Fälschung, bekräftigt durch die Erschließungen.

 


Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018