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Der plumpste Teil der Justizfälschung, sowohl seinem Plane wie seiner Durchführung nach, ist jener, der die „Trotzkisten“ der Sabotage beschuldigt. Dieser Teil des Prozesses, der das wichtigste Element des ganzen Amalgams ist, hat niemand überzeugt (wenn man die Herren Duranti und Co. nicht mitzählt). Aus der Anklageschrift und der Verhandlung hat die Welt erfahren, dass sich die ganze Sowjetindustrie eigentlich in den Händen eines „Haufen Trotzkisten“ befand. Nicht besser verhielt es sich mit dem Transport. Worin aber bestanden eigentlich die Trotzkistischen Sabotageakte? Aus den Geständnissen Pjatakows, die durch die Aussagen seiner Untergebenen, die neben ihm auf der Angeklagtenbank sitzen, bestätigt werden, geht hervor, dass:
Es bleibt jedoch ganz unverständlich, welche Rolle dabei die staatlichen Organe der Industrie, der Finanzen und der Kontrolle spielten, schon nicht zu reden von der Partei, die in allen Institutionen und Betrieben ihre Zellen hat. Wenn man der Anklageschrift glauben soll, lag die Leitung der Wirtschaft nicht in den Händen „des genialen, unfehlbaren Führers“ und nicht in den Händen seiner nächsten Mitarbeiter, der Mitglieder des Politbüros, und der Regierung, sondern in den Händen eines isolierten Mannes, der seit neun Jahren in Verbannung und im Exil lebt. Wie ist das zu verstehen? Laut einem Telegramm der New York Times (25. März 1937) aus Moskau hat der neue Chef der Schwerindustrie, W. Meschlauk, in einer Versammlung seiner Untergebenen die verbrecherische Rolle der Saboteure bei der Aufstellung falscher Pläne gebrandmarkt. Aber bis zum Tode Ordschonikidses (am 18. Februar 1937) stand Meschlauk selbst an der Spitze des Gosplans (Staatsplanes), dessen Hauptaufgabe gerade die Nachprüfung der Wirtschaftspläne und der Kostenanschläge ist. So stellt sich die Sowjetregierung in der Jagd nach Fälschungen selbst ein beschämendes Zeugnis ihrer Unfähigkeit aus. Nicht umsonst hat der Temps, der Offiziosus des befreundeten Frankreichs, geschrieben, dass es besser gewesen wäre, diesen Teil des Prozesses nicht ans Licht zu ziehen. Das Obengesagte gilt auch für das Transportwesen. Die Eisenbahnfachleute rechneten damit, dass die Transportfähigkeit der Eisenbahnen bestimmte technische Grenzen habe. Seit Kaganowitsch an die Spitze des Verkehrswesens kam, wurde die „Theorie von den Grenzen“ offiziell als bürgerliches Vorurteil erklärt; schlimmer noch, als eine Erfindung der Saboteure. Hunderte Ingenieure und Techniker büßten, weil sie direkt oder indirekt Anhänger der „Theorie von den Grenzen“ waren. Zweifellos unterschätzten viele alte Spezialisten, die unter den Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft erzogen worden waren, offensichtlich die Möglichkeiten, die in den Planmethoden enthalten sind, und waren darum geneigt, zu niedrige Normen aufzustellen. Daraus jedoch folgt keinesfalls, dass das Tempo der Wirtschaft von der Inspiration und der Energie der Bürokratie abhängt. Die materielle Ausgestaltung des Landes, die gegenseitigen Angliederungen der verschiedenen Teile der Industrie, des Transports und der Landwirtschaft, der Grad der Qualifikation der Arbeiter, der Prozentsatz erfahrener Ingenieure und schließlich das materielle und kulturelle Niveau der Bevölkerung – das alles sind die grundlegenden Faktoren, denen das letzte Wort bei der Bestimmung der Grenzen gehört. Das Bestreben der Bürokratie, diese Faktoren mit Hilfe nackten Kommandos, Repressalien und Prämien (Stachanowiade) zu vergewaltigen, muss unabwendbar bezahlt werden mit Desorganisierung der Betriebe, Beschädigung der Maschinen, einem hohen Prozentsatz an Ausschuss, Havarien und Katastrophen. Zu der Sache eine Trotzkistische „Verschwörung“ heranzuziehen – dafür besteht gar kein Grund.
Die Aufgabe der Anklage wird auch dadurch außerordentlich kompliziert, dass ich seit Februar 1930 in der Presse systematisch, beharrlich, von Jahr zu Jahr und von Monat zu Monat jene Laster der bürokratisierten Wirtschaft geißelte, die heute der phantastischen Organisation der „Trotzkisten“ zugeschoben werden. Ich wies nach, dass die Sowjetindustrie nicht maximale, sondern optimale Tempi braucht, das heißt solche, die gestützt auf die Übereinstimmung verschiedener Teile eines Betriebes und verschiedener Betriebe untereinander das ständige Wachstum der Wirtschaft in der Zukunft sichern.
„Die Industrie jagt einer Krise entgegen,“ schrieb ich im Bulletin am 13. Februar 1930, „verursacht vor allem durch die ungeheuerlichen bürokratischen Methoden der Planaufstellung. Der Fünfjahresplan kann durchgeführt werden nur unter der Bedingung der Wahrung aller notwendigen Proportionen und Garantien; nur unter der Bedingung der freien Beratung der Tempi und Fristen, einer Beratung, an der alle interessierten Kräfte der Industrie und der Arbeiterklasse, deren Organisationen und vor allem die Partei selbst teilnehmen; unter der Bedingung der freien Nachprüfung der gesamten Erfahrung der Sowjetwirtschaft in der letzten Periode, darunter auch der ungeheuerlichen Fehler der Leitung ... Der Plan des sozialistischen Aufbaues kann nicht in Form einer a priori erteilten Kanzleidirektive aufgestellt werden.“
Die Trotzkisten bilden, wie wir bei jedem Schritt hören, ein verschwindendes Häuflein, von den Massen isoliert und gehasst. Darum gerade hätten sie angeblich zu den Methoden des individuellen Terrors gegriffen. Doch ändert sich das Bild völlig, sobald wir zur Sabotage übergehen. Gewiss, einen Stein in eine Maschine werfen oder eine Brücke in die Luft sprengen, kann auch ein einzelner Mensch. Doch vor Gericht hören wir von solchen Sabotagemethoden, die nur in dem Falle möglich sind, wenn der gesamte Verwaltungsapparat sich in Händen von Saboteuren befindet. So hat der Angeklagte Schestow, ein berüchtigter Agent provocateur, in der Verhandlung vom 25. Januar ausgesagt:
„In allen Bergwerken, in Prokopjewsk, Anjerka, Leninsk, war Sabotage der Stachanowbewegung organisiert. Es waren Instruktionen erteilt worden, die Arbeiter zu reizen. Bevor einer an seinen Arbeitsplatz gelangte, musste er zweihundert mal die Leitung beschimpfen. Es wurden unerträgliche Arbeitsbedingungen geschaffen. Es war unmöglich zu arbeiten, nicht nur mit Stachanowmethoden, sondern auch mit den gewöhnlichsten.“
Das alles haben die Trotzkisten gemacht! Offenbar bestand die gesamte Administration, von oben bis unten, aus Trotzkisten. Die Anklage gibt sich damit nicht zufrieden und führt Arten von Sabotage an, die ohne aktive oder zumindest passive Unterstützung der Arbeiter selbst undenkbar sind. So zitiert der Gerichtsvorsitzende eine Aussage des Angeklagten Muralow, der sich wiederum auf den Angeklagten Boguslawski beruft:
„Bei der Eisenbahn arbeitende Trotzkisten zogen vorzeitig Lokomotiven aus dem Verkehr heraus, sabotierten die Fahrpläne, provozierten Verstopfung der Stationen, wodurch sie Verzögerungen der Transportzüge verursachten.“
Die angeführten Verbrechen bedeuten einfach, die Eisenbahn sei in den Händen der Trotzkisten gewesen. Mit diesem Auszug aus der Aussage Muralows nicht befriedigt, fragt ihn der Vorsitzende:
„Hat Boguslawski in der letzten Zeit den Bau der Linie Eiche-Sokol sabotiert?“
Muralow: „Ja.“
Der Vorsitzende: „Und letzten Endes haben Sie den Misserfolg der Bauarbeiten erreicht?“
Muralow: „Ja.“
Und das ist alles. Auf welche Weise Boguslawski mit zwei, drei anderen „Trotzkisten“ ohne Hilfe der Angestellten und Arbeiter den Zusammenbruch der Bauarbeiten einer ganzen Eisenbahnlinie erreichen konnte, bleibt unbegreiflich. Die Datenangaben der Sabotage stehen im äußersten Widerspruch zueinander. Nach den wichtigsten Aussagen war Sabotage im Jahre 1934 das „neue Wort“. Jedoch verlegt der genannte Schestow den Beginn der Sabotage auf das Ende des Jahres 1931. Im Verlauf der Gerichtsverhandlung verschieben sich die Daten bald nach vorwärts, bald nach rückwärts. Die Mechanik dieser Verschiebungen ist völlig klar. Jede konkrete Anklage auf Sabotage oder „Diversion“ stützt sich meistens auf irgendeinen tatsächlichen Misserfolg, Fehler oder eine Katastrophe in der Industrie oder im Transport. Seit dem ersten Fünfjahresplan gab es Misserfolge und Havarien genug. Die Anklage sucht sich jene heraus, die man mit irgendeinem der Angeklagten in Verbindung bringen kann. Daher die ewigen Sprünge in der Chronologie der Sabotage. Jedenfalls wurde die General„direktive“, soweit man es verstehen kann, von mir erst im Jahre 1934 erteilt. Die bösartigsten Erscheinungen von „Sabotage“ sind jetzt in der chemischen Industrie aufgedeckt, wo die inneren Proportionen besonders schwer verletzt wurden. Indes habe ich vor sieben Jahren, als die Sowjetmacht erst an die Schaffung dieses Wirtschaftszweiges schritt, geschrieben:
„Die Lösung der Frage, welchen Platz beispielsweise die chemische Industrie im Plane der nächsten Jahre einnehmen soll, kann nur vorbereitet werden durch den offenen Kampf verschiedener Wirtschaftsgruppierungen und verschiedener Zweige der Industrie um den Anteil der Chemie in der Volkswirtschaft. Sowjetdemokratie ist nicht die Forderung einer abstrakten Politik und noch weniger einer Moral. Sie ist Sache der wirtschaftlichen Notwendigkeit geworden.“
Wie verhielt es sich in der Wirklichkeit?
„Die Industrialisierung“, schrieb ich im gleichen Artikel, „wird immer mehr an der administrativen Knute gehalten. Installierung und Arbeitskraft werden forciert. Die Missverhältnisse, zwischen den verschiedenen Industriezweigen häufen sich.“
Zu gut die Stalinschen Selbstverteidigungsmethoden kennend, fügte ich hinzu:
„Es ist nicht schwer, vorauszusehen, welchen Widerhall unsere Analyse bei den offiziellen Kreisen finden wird. Die Bürokraten werden sagen, wir spekulieren auf eine Krise. Die Lumpen werden hinzufügen, dass wir den Sturz der Sowjetmacht wollen ... Das kann uns nicht abhalten. Intrigen vergehen, Tatsachen bleiben.“
Ich will hier die Möglichkeit, Zitate anzuführen, nicht missbrauchen. Jedoch verpflichte ich mich, mit einer Sammlung meiner Artikel in der Hand zu beweisen, dass ich im Laufe von sieben Jahren auf Grund von Angaben der offiziellen Sowjetpresse unermüdlich gewarnt habe vor den katastrophalen Folgen des Überspringens von Perioden der laboratorischen Vorbereitung, der Inbetriebnahme unfertiger Fabriken, der Ersetzung technischer Ausbildung und einer richtigen Organisation durch irrsinnige Prämien. Alle jene ökonomischen „Verbrechen“, von denen im letzten Prozess die Rede war, habe ich wiederholt, beginnend mit dem Februar 1930 und abschließend mit meinem letzten Buche Verratene Revolution, als unausbleibliche Folgen des bürokratischen Systems analysiert. Ich habe dabei nicht den geringsten Grund, auf meinen besonderen Scharfsinn stolz zu sein. Ich habe nur aufmerksam die offiziellen Berichte verfolgt und die elementaren Schlussfolgerungen aus den unbestreitbaren Tatsachen gezogen.
Wenn die „Sabotage“ Pjatakows und der anderen praktisch, laut Anklageschrift, erst um das Jahr 1934 begann, wie ist dann die Tatsache zu erklären, dass ich während der vier vorangegangenen Jahre die radikale Heilung der gleichen Krankheiten der Sowjetindustrie gefordert habe, die heute als Resultat bösartiger Tätigkeit der Trotzkisten dargestellt werden? Vielleicht war meine kritische Arbeit einfach „Maskierung“? Aber nach dem Sinn dieses Begriffs muss doch die Maskierung Verbrechen verhüllen. Meine Kritik jedoch hatte sie, im Gegensatz dazu, enthüllt. Es entsteht folgendes Bild: insgeheim „Sabotage“ organisierend, habe ich mit allen Kräften versucht, die Aufmerksamkeit der Regierung auf diese Sabotageakte – und damit auf die Schuldigen zu lenken. Das alles wäre vielleicht sehr schlau gewesen, wenn es nicht völlig sinnlos gewesen wäre. Die Mechanik Stalins und seiner Polizei- und Justizagenten ist sehr einfach. Für große Unglücksfälle in den Betrieben, besonders für Zugkatastrophen, wurden in der Regel einige Angestellte erschossen, nicht selten jene, die man kurz vorher wegen der hohen Tempi mit Orden ausgezeichnet hatte. Die Folge war: allgemeine Unsicherheit und allgemeine Unzufriedenheit. Der letzte Prozess sollte die Ursachen der Unglücksfälle und Katastrophen in Trotzki personifizieren. Dem guten Geiste Ormuzd ist der böse Ariman gegenübergestellt. Nach dem heutigen ehernen Gesetz der Prozessordnung gestehen sämtliche Angeklagten selbstverständlich ihre Schuld. Soll man sich wundern? Der GPU bereitet es keine Mühe, einen Teil ihrer Opfer vor die Alternative zu stellen: entweder sofort erschossen zu werden oder den Schatten einer Hoffnung zu bewahren, unter der Bedingung des Zugeständnisses, vor Gericht als Trotzkist zu figurieren, der die Industrie und den Transport vorsätzlich sabotierte. Das Weitere erfordert keine Erklärungen.
Das Verhalten des Staatsanwalts im Prozess ist an sich ein tödliches Indiz gegen die wahren Verschwörer. Wyschinski begnügt sich mit nackten Fragen: Bekennen Sie sich der Sabotage schuldig? der Organisierung von Havarien und Katastrophen? Gestehen Sie, dass die Direktiven von Trotzki ausgegangen sind?
Aber er fragt niemals, wie haben die Angeklagten praktisch ihre Verbrechen verwirklicht; wie gelang es ihnen, für ihre Schädlingspläne von den höchsten Staatsämtern Bestätigung zu erhalten? die Sabotage eine Reihe von Jahren vor Vorgesetzten und Untergebenen geheim zuhalten? das Schweigen der Lokalbehörden, der Spezialisten, der Arbeiter usw. usw. zu erreichen? Wie stets ist Wyschinski der Hauptkomplize der GPU in Sachen der Fälschung und des Betruges der öffentlichen Meinung. Wie weit die Schamlosigkeit des Inquisitors dabei geht, ist daraus zu ersehen, dass die Angeklagten auf das dringliche Verlangen des Staatsanwalts aussagen – wenn auch nicht ohne Widerstand –, sie wären bewusst bestrebt gewesen, möglichst viel Menschenopfer zu verursachen, um dadurch die Unzufriedenheit der Arbeiter hervorzurufen. Doch bleibt es auch nicht dabei. Am 24. März, das heißt in den allerletzten Tagen, berichtete ein Telegramm aus Moskau, in Nowosibirsk seien drei „Trotzkisten“ erschossen worden, weil sie eine Schule böswillig angezündet hatten, wobei viele Kinder verbrannten. Ich erlaube mir, hier daran zu erinnern, dass mein jüngster Sohn, Sergej Sedow, wegen der Beschuldigung verhaftet ist, Massenvergiftungen von Arbeitern vorbereitet zu haben. Stellen wir uns einen Augenblick vor, die Regierung der Vereinigten Staaten eröffnet nach dem Schulunglück in Texas, das die Welt erschüttert hat, im Lande eine wütende Kampagne gegen die Komintern, indem sie sie der böswilligen Ausrottung von Kindern beschuldigt – und wir erhalten dann eine ungefähre Vorstellung von der heutigen Politik Stalins. Solche Verleumdungen, die nur in der vergifteten Atmosphäre einer totalitären Diktatur denkbar sind, enthalten ihre Widerlegung in sich selbst.
Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018