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Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Prozesse Sinowjew-Kamenew und Pjatakow-Radek in den proletarischen und den demokratischen Kreisen der ganzen Welt einen Ausbruch tiefsten Misstrauens gegen die Sowjetjustiz hervorgerufen haben. Indes musste man gerade in diesem Falle volle Klarheit und Überzeugungskraft vom Gerichtsverfahren erwarten. Ankläger und Angeklagte, mindestens die wichtigsten von ihnen, sind der ganzen Welt bekannt. Ziele und Motive der Beteiligten müssen sich unmittelbar aus der politischen Situation, aus dem Charakter der handelnden Personen und aus deren gesamten Vergangenheit ergeben. Die Mehrzahl der Angeklagten ist erschossen worden: folglich ist ihre Schuld absolut bewiesen! Und doch, lässt man beiseite jene, die man durch einen einfachen telegraphischen Befehl aus Moskau von allem überzeugen kann, dann weigerte sich die öffentliche Meinung des Westens, den Anklägern und Henkern Unterstützung zu leisten. Im Gegenteil, die Unruhe und das Misstrauen wachsen und gehen in Schrecken und Ekel über. Keiner denkt dabei an einen Justizirrtum. Die Moskauer Machthaber können nicht „aus Irrtum“ Sinowjew, Kamenew, Smirnow, Pjatakow, Serebrjakow und alle anderen erschossen haben. Das Misstrauen zu der Justiz Wyschinski bedeutet in diesem Falle, Stalin direkt einer Rechtsfälschung mit politischen Absichten zu verdächtigen. Für eine andere Deutung bleibt kein Raum. Vielleicht aber ist die sentimentale öffentliche Meinung voreingenommen durch Sympathien für die Angeklagten? Solche Argumente wurden wiederholt in den Fällen Francesco Ferrer in Spanien, Sacco-Vanzetti oder Mooney in den Vereinigten Staaten usw. angeführt. In Bezug auf die Moskauer Angeklagten kann jedoch von voreingenommenen Sympathien nicht die Rede sein. Der informierte Teil der öffentlichen Weltmeinung hegte keinerlei Sympathie, man muss offen sagen kein Vertrauen und keine Achtung für die Hauptangeklagten infolge ihrer vielfachen früheren Reuebekenntnisse und hauptsächlich infolge ihres Verhaltens vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft schilderte die Angeklagten, mit deren eigenen Hilfe, nicht als Kapitulanten, sondern als „Trotzkisten“, in der Larve von Kapitulanten. Diese Charakteristik, soweit ihr Glauben geschenkt wurde, konnte die Sympathien für die Angeklagten nicht steigern. Schließlich bildet der „Trotzkismus“ selbst in der Arbeiterbewegung jetzt eine kleine Minderheit, die sich im scharfen Kampfe gegen alle anderen Parteien und Fraktionen befindet.
Viel vorteilhafter ist die Lage der Ankläger. Hinter ihnen steht die Sowjetunion. Das Anwachsen der Weltreaktion, besonders in ihrer barbarischsten Form, dem Faschismus, hat der Sowjetunion die Sympathien und Hoffnungen sogar sehr gemäßigter demokratischer Kreise zugewandt. Diese Sympathien haben gewiss einen sehr summarischen Charakter. Aber gerade deshalb besitzen die offiziellen und nicht offiziellen Freunde der UdSSR in der Regel keine Neigung, die inneren Widersprüche des Sowjetregimes zu untersuchen; im Gegenteil, sie sind von vornherein geneigt, jede Opposition gegen die regierende Schicht als freiwillige oder unfreiwillige Unterstützung der Weltreaktion zu betrachten. Man muss dazu noch die diplomatischen und militärischen Verbindungen der UdSSR berücksichtigen, im Gesamtkomplex der heutigen internationalen Beziehungen: die rein nationalen und patriotischen Gefühle in einer Reihe von Ländern (Frankreich, Tschechoslowakei, zum Teil Großbritannien und die Vereinigten Staaten) prädisponieren die demokratischen Massen der Bevölkerung zugunsten der Sowjetregierung als den Widersacher Deutschlands und Japans. Es ist überflüssig, daran zu erinnern, dass darüber hinaus Moskau mächtige Hebel – wägbare und unwägbare – zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung der verschiedensten Gesellschaftsschichten besitzt ... Die Agitation um die neue Konstitution, die „demokratischste in der Welt“, die nicht zufällig gerade vor den Prozessen einsetzte, hat die Sympathien zu Moskau noch erhöht. Das gigantische Übergewicht des à-priori-Vertrauens war somit der Sowjetregierung von vornherein gesichert. Und dennoch haben die allmächtigen Ankläger die öffentliche Meinung weder überzeugt noch erobert, trotz dem Versuch der Überrumpelung. Im Gegenteil, die Autorität der Sowjetregierung ist infolge der Prozesse sehr gesunken. Unversöhnliche Gegner des Trotzkismus, Verbündete Moskaus und sogar viele traditionelle Freunde der Sowjetbürokratie traten mit der Forderung auf, die Moskauer Anklagen nachzuprüfen. Es genügt, an die Initiative der II. und der Gewerkschaftsinternationale vom August 1936 zu erinnern. In der unerhört groben Antwort enthüllte der Kreml, der mit einem völligen und unbedingten Sieg gerechnet hatte, die Größe seiner Enttäuschung. Friedrich Adler, der Sekretär der II. Internationale und folglich ein unversöhnlicher Gegner des Trotzkismus, verglich die Moskauer Prozesse mit den Hexenprozessen der Inquisition. Der bekannte reformistische Theoretiker Otto Bauer, der es für möglich erachtet, in der Presse zu erklären, Trotzki spekuliere auf den künftigen Krieg (eine nicht nur falsche, sondern sinnlose Behauptung!), ist trotz seiner politischen Sympathie für die Sowjetbürokratie, gezwungen, die Moskauer Prozesse als Fälschungen zu bezeichnen. Die sehr vorsichtige und von Sympathien für den Trotzkismus sehr ferne Zeitung New York Times resümierte die Folgerungen aus dem letzten Prozess mit den Worten: Stalin muss die Schuld Trotzkis beweisen, nicht Trotzki seine Unschuld. Schon dieser lapidare Satz führt die juristische Überzeugungskraft des Moskauer Gerichtsverfahrens auf Null zurück. Gäbe es keine patriotischen, diplomatischen und „antifaschistischen“ Erwägungen, das Misstrauen zu den Moskauer Anklägern würde unvergleichlich offenere und schärfere Formen angenommen haben. Das lässt sich an einem nebensächlichen, aber sehr lehrreichen Beispiel nachweisen. Im Oktober 1936 erschien in Frankreich mein Buch Die Verratene Revolution. Einige Wochen vorher war es in New York erschienen. Nicht einer meiner zahlreichen Kritiker, meistens meiner Gegner, beginnend mit dem früheren französischen Ministerpräsidenten Caillaux, erinnert auch nur daran, dass der Autor des Buches des Bündnisses mit dem Faschismus und dem japanischen Militarismus gegen Frankreich und die Vereinigten Staaten „überführt“ sei. Niemand, absolut niemand erachtet es als notwendig, meine politischen Schlussfolgerungen den Beschuldigungen des Kremls gegenüberzustellen. Es ist, als hätten in Moskau keine Prozesse und Erschließungen stattgefunden. Diese Tatsache allein, überlegt man es sich genau, beweist deutlich, dass die denkenden Gesellschaftskreise, beginnend mit dem interessiertesten und empfindsamsten Lande, Frankreich, die ungeheuerliche Beschuldigung nicht nur nicht assimiliert, sondern sie einfach mit kaum verhülltem Ekel von sich gespien haben.
Wir können unglücklicherweise nicht wissen, was die niedergehaltene Bevölkerung der Sowjetunion denkt und fühlt. In der ganzen übrigen „Welt aber sind die werktätigen Massen von einer tragischen Fassungslosigkeit ergriffen, die ihr Denken vergiftet und ihren Willen paralysiert. Entweder hat die ganze alte Führergeneration des Bolschewismus, mit Ausnahme einer einzelnen Person, den Sozialismus im Namen des Faschismus verraten, oder die heutige Leitung der UdSSR hat gegen alle, die die bolschewistische Partei und den Sowjetstaat aufgebaut haben, eine Rechtsfälschung organisiert. Ja, so eben steht die Frage: Entweder das Leninsche Politbüro bestand aus Verrätern, oder das Stalinsche Politbüro besteht aus Fälschern. Ein Drittes gibt es nicht! Aber gerade, weil es kein Drittes gibt, kann die fortschrittliche öffentliche Meinung, will sie nicht Selbstmord begehen, der Lösung der rätselhaften und tragischen Alternative und deren Aufklärung vor den Volksmassen nicht ausweichen.
Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018