Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Die politische Basis der Anklage: Bündnis mit Hitler und dem Mikado


Zur Bekräftigung der zu unwahrscheinlichen Beschuldigung: Bündnis der Trotzkisten mit Deutschland und Japan, verbreiten die ausländischen Advokaten der GPU solche Versionen:

  1. Lenin ist während des Krieges mit Ludendorffs Zustimmung durch Deutschland gereist, in der Absicht, seine revolutionären Aufgaben zu.verwirklichen.
     
  2. Die bolschewistische Regierung ist davor nicht zurückgeschreckt, Deutschland riesige Territorien abzutreten und Kontributionen zu zahlen zum Zwecke der Erhaltung des Sowjetregimes.

Schlussfolgerung: Warum ist es undenkbar, dass Trotzki mit dem selben deutschen Generalstab ein Abkommen getroffen hat, um durch territoriale Abtretungen usw. die Möglichkeit zu erhalten, seine Ziele auf dem übrigen Territorium zu verwirklichen? Diese Analogie ist in Wirklichkeit die ungeheuerlichste und infamste Verleumdung gegen Lenin und die bolschewistische Partei in ihrer Gesamtheit.

1. Lenin ist tatsächlich durch Deutschland gereist, ausnutzend die falschen Hoffnungen Ludendorffs auf einen Zerfall Russlands infolge des inneren Kampfes. Aber wie hat Lenin dabei gehandelt?

  1. Er hat keinen Augenblick weder sein Programm noch die Ziele seiner Reise verheimlicht;
     
  2. er hat in der Schweiz eine kleinere Beratung von Internationalisten verschiedener Länder einberufen, die Lenins Plan, durch Deutschland nach Russland zu reisen, vollständig billigten;
     
  3. Lenin hat keinerlei politische Abmachungen mit den deutschen Behörden getroffen und hat als Bedingung gestellt, dass während der Durchreise durch Deutschland niemand seinen Wagen betreten darf;
     
  4. sofort nach seiner Ankunft in Petersburg hat Lenin vor dem Sowjet und vor den Arbeitermassen Sinn und Charakter seiner Reise durch Deutschland dargelegt.

Kühnheit des Beschlusses und Vorsicht bei der Vorbereitung charakterisieren Lenin auch bei dieser Episode; aber nicht weniger charakterisiert ihn die absolute und unbedingte Ehrlichkeit in Bezug auf die Arbeiterklasse, der er jeden Moment bereit ist, für jeden seiner politischen Schritte Rechenschaft abzulegen.

2. Die bolschewistische Regierung hat tatsächlich an Deutschland nach dem Brester Frieden riesige Territorien abgetreten, um das Sowjetregime auf dem übrigen Teil des Territoriums zu erhalten. Aber:

  1. die Sowjetregierung hatte keine andere Wahl;
     
  2. der Beschluss wurde gefasst nicht hinter dem Rücken des Volkes, sondern als Resultat einer freien und öffentlichen Diskussion;
     
  3. die bolschewistische Regierung hat keinen Augenblick vor den Volksmassen verheimlicht, dass der Brest-Litowsker Frieden eine vorübergehende und partielle Kapitulation der proletarischen Revolution vor dem Kapitalismus ist.

Wir haben in diesem Falle die absolute Übereinstimmung zwischen dem Ziele und den Mitteln und die absolute Ehrlichkeit der Führung gegenüber der öffentlichen Meinung der werktätigen Massen.

Wir wollen jetzt den Sinn der gegen mich erhobenen Beschuldigung untersuchen.

Ich hätte angeblich mit Faschismus und Militarismus ein Abkommen auf folgenden Grundlagen getroffen:

  1. ich sei bereit, auf den Sozialismus zugunsten des Kapitalismus zu verzichten;
     
  2. ich gebe das Signal zur Demolierung der Sowjetwirtschaft und zur Ausrottung der Arbeiter und Soldaten;
     
  3. ich verberge vor der ganzen Welt sowohl meine wirklichen Ziele wie meine Methoden;
     
  4. meine gesamte öffentliche politische Tätigkeit diene nur dazu, die werktätigen Massen hinsichtlich meiner wirklichen Pläne zu täuschen, in die Hitler, der Mikado und deren Agenten eingeweiht sind.

Die mir zugeschriebenen Handlungen haben somit nicht nur nichts mit den oben angeführten Beispielen aus dem Handeln Lenins gemein, sondern stehen zu ihnen in direktem Gegensatz. Der Brest-Litowsker Frieden war ein vorübergehender Rückzug, ein erzwungener Kompromiss, um die Sowjetmacht und die Verwirklichung des revolutionären Programms zu retten. Das Geheimbündnis mit Hitler und dem Mikado bedeutet Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse im Namen der persönlichen Macht, richtiger des Phantoms der Macht, das heißt das niedrigste von allen denkbaren Verbrechen.

Manche von den Advokaten der GPU sind zwar geneigt, Stalins zu scharfen Wein durch Wasser zu verdünnen: Vielleicht, sagen sie, hat Trotzki nur so getan, als verpflichte er sich, den Kapitalismus wieder herzustellen, in Wirklichkeit hatte er beabsichtigt, auf dem übrigen Teil des Territoriums eine Politik im Geiste seines Programms zu verwirklichen. Vor allem widerspricht diese Variante den Angaben von Radek, Pjatakow und den anderen. Doch unabhängig davon ist sie ebenso sinnlos wie die offizielle Version der Anklage. Das Programm der Opposition ist das Programm des internationalen Sozialismus. Wieso konnte ein erwachsener und erfahrener Mensch sich einbilden, Hitler und der Mikado, die in ihren Händen die Liste all seiner Verrätereien und scheußlichen Verbrechen haben, würden ihm erlauben, ein revolutionäres Programm zu verwirklichen? Wie konnte man überhaupt hoffen, zur Macht zu kommen mit Hilfe krimineller Verbrechen im Dienste eines ausländischen Stabes? Wäre es nicht von vornherein klar gewesen, dass Hitler und der Mikado, nachdem sie einen solchen Agenten soweit wie möglich ausgenutzt, ihn wie eine ausgepresste Zitrone weggeworfen haben würden? Konnten diese Verschwörer, an deren Spitze sechs Mitglieder des Leninschen Politbüros standen, dies nicht begreifen? Die Beschuldigung erscheint somit innerlich sinnlos in ihren beiden Varianten: in der offiziellen, wo es um die Wiederherstellung des Kapitalismus geht, wie in der offiziösen, die den Verschwörern den Geheimgedanken übrig lässt, Hitler und den Mikado zu täuschen.

Man muss hinzufügen, dass es für die Verschwörer von vornherein klar gewesen sein musste, dass die Verschwörung in keinem Falle unentdeckt bleiben könnte. Im Prozess Sinowjew-Kamenew haben Olberg und andere ausgesagt, die „Zusammenarbeit“ der Trotzkisten mit der Gestapo sei keinesfalls eine Ausnahme, sondern „System“ gewesen. Folglich waren in dieses System Dutzende und Hunderte eingeweiht. Für terroristische Akte und besonders für Sabotage wären wiederum hunderte und tausende Agenten nötig. Reinfälle wären folglich absolut unvermeidlich gewesen und damit – die Enthüllung des Bündnisses der Trotzkisten mit dem Faschismus und den japanischen Spionen. Wer, außer einem Irrsinnigen, könnte hoffen, auf diesem Wege zur Macht zu kommen?

Aber das ist noch nicht alles. Sabotageakte wie terroristische Akte setzen bei den Ausführenden die Bereitschaft voraus, sich zu opfern. Wenn ein deutscher Faschist oder ein japanischer Agent in der UdSSR ihren Kopf riskieren, so bewegt sie ein so mächtiger Antrieb, wie Patriotismus, Nationalismus, Chauvinismus. Welches Stimulans konnte die „Trotzkisten“ anspornen? Nehmen wir an, dass die „Führer“ irrsinnig geworden waren und hofften, auf diese Weise zur Macht zu kommen. Aber welche bewegenden Motive konnten die Bermann, David, Olberg, Arnold und viele andere haben, die, praktisch den Weg des Terrors und der Sabotage betretend, sich zum sicheren Tode verurteilten? Sein Leben zu opfern, ist ein Mensch nur im Namen eines höheren Zieles, wenn auch eines falschen, bereit. Welches höhere Ziel hatten die Trotzkisten? Die Absicht, die UdSSR zu zerstückeln? Für Trotzki die Macht zu erobern im Namen der Wiederherstellung des Kapitalismus? Sympathie für den deutschen Faschismus? Der Wunsch, Japan für einen Krieg gegen die Vereinigten Staaten Petroleum zu verschaffen? Weder die offizielle noch die offiziöse Version geben eine Antwort auf die Frage, in wessen Namen hunderte „Vollstrecker“ sich bereit erklärten, ihre Köpfe hinzuhalten. Die gesamte Konstruktion der Anklage hat einen mechanischen Charakter ... Sie ignoriert die Psychologie lebender Menschen. In diesem Sinne ist die Anklage ein gesetzmäßiges Produkt des totalitären Regimes, mit seiner Missachtung und Verachtung der Menschen, wenn sie keine „Führer“ sind.

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Die zweite phantastische Theorie, die von den Freunden der GPU in Umlauf gesetzt wird, lautet, dass ich angesichts meiner Gesamtposition politisch an der Beschleunigung eines Krieges interessiert sei. Der Gedankengang ist so: Trotzki ist für die internationale Revolution. Bekanntlich führt ein Krieg nicht selten zu Revolutionen. Ergo: Trotzki muss an der Beschleunigung des Krieges interessiert sein.

Menschen, die so denken oder mir solche Gedankengänge zuschieben, haben von Revolution, Krieg und deren Wechselwirkung eine sehr schwache Vorstellung.

Der Krieg hat tatsächlich nicht selten die Revolution beschleunigt. Aber gerade deshalb hat er nicht selten zur Fehlgeburt geführt. Der Krieg verschärft die sozialen Gegensätze und die Unzufriedenheit der Massen. Aber das genügt für den Sieg der proletarischen Revolution nicht. Ohne revolutionäre Partei, die Stützpunkte in den Massen hat, führt eine revolutionäre Situation zu grausamen Niederlagen. Die Aufgabe besteht nicht darin, den Krieg zu „beschleunigen“ – daran arbeiten unglücklicherweise nicht ohne Erfolg die Imperialisten aller Länder. Die Aufgabe besteht darin, die Zeit, die die Imperialisten den Arbeitermassen noch lassen, auszunutzen zur Schaffung einer revolutionären Partei und revolutionärer Gewerkschaften.

Das Lebensinteresse der proletarischen Revolution ist: den Krieg soweit wie möglich hinauszuschieben und möglichst viel Zeit zur Vorbereitung zu gewinnen. Je fester, mutiger, revolutionärer das Verhalten der Werktätigen ist, um so mehr schwanken die Imperialisten, um so sicherer gelingt es, den Krieg hinauszuschieben, um so mehr Chancen bestehen, dass die Revolution vor dem Kriege geschehen und vielleicht den Krieg unmöglich machen wird.

Gerade weil die IV. Internationale für die Weltrevolution ist, bildet sie einen der Faktoren, die gegen den Krieg wirken, denn, ich wiederhole es, die einzige Bremse auf dem Wege zum neuen Krieg ist die Angst der besitzenden Klassen vor der Revolution.

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Der Krieg, sagt man uns, schafft eine revolutionäre Situation. Aber hat es in der Periode von 1917 bis heute Mangel an revolutionären Situationen gegeben? Werfen wir einen flüchtigen Blick auf die Nachkriegsperiode:

Trotz dem Reichtum an revolutionären Situationen haben die werktätigen Massen in keinem der angeführten Fälle einen revolutionären Sieg errungen. Was fehlt? Die Partei, die fähig ist, die revolutionäre Situation auszunutzen.

Die Sozialdemokratie hat in Deutschland zur Genüge gezeigt, dass sie der Revolution feindlich ist. Jetzt zeigt sie dasselbe in Frankreich (Léon Blum). Anderseits desorganisiert die Komintern, die Autorität der Oktoberrevolution usurpierend, die revolutionären Bewegungen in allen Ländern. Die Komintern ist in Wirklichkeit, unabhängig von ihren Absichten, die beste Helfershelferin des Faschismus und der Reaktion überhaupt geworden.

Gerade darum ist vor dem Proletariat die eiserne Notwendigkeit erwachsen, neue Parteien und eine neue Internationale aufzubauen, die dem Charakter unserer Epoche entsprechen – einer Epoche grandioser sozialer Erschütterungen und ständiger Kriegsgefahr.

Wenn im Kriegsfalle an der Spitze der Massen keine mutige, kühne, konsequente revolutionäre Partei existieren wird, die an der Erfahrung erprobt ist und vom Vertrauen der Massen getragen wird, dann wird die neue revolutionäre Situation die Gesellschaft zurückwerfen. Der Krieg kann unter solchen Umständen nicht mit dem Siege der Revolution enden, sondern mit dem Zusammenbruch unserer gesamten Zivilisation. Man muss ein jämmerlich Blinder sein, um diese Gefahr nicht zu sehen. Krieg und Revolution sind die ernstesten, tragischsten Erscheinungen in der menschlichen Geschichte. Mit ihnen ist nicht zu spaßen. Sie vertragen keine dilettantische Behandlung. Man muss die Wechselwirkung zwischen Krieg und Revolution klar begreifen. Ebenso klar muss man auch die Wechselwirkung zwischen objektiven revolutionären Faktoren, die nicht willkürlich zu schaffen sind, und dem subjektiven Faktor der Revolution – die zielbewusste Avantgarde des Proletariats, seine Partei – begreifen. Diese Partei muss man mit allen Kräften vorbereiten. Kann man auch nur für einen Augenblick annehmen, dass die sogenannten Trotzkisten, der linkste, von allen anderen Strömungen gejagte und verfolgte Flügel, seine Kräfte an verächtlichen Abenteuern, Sabotage und Kriegsprovozierung vergeuden wird – statt eine neue revolutionäre Partei aufzubauen, die fähig ist, einer revolutionären Situation gerüstet entgegenzusehen? Nur die zynische Verachtung Stalins und seiner Schule für die öffentliche Weltmeinung im Bunde mit seiner primitiven Polizeischlauheit waren imstande, eine so ungeheuerliche und unsinnige Beschuldigung aufzustellen!

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Ich habe in Hunderten von Artikeln und in Tausenden von Briefen auseinandergesetzt, dass eine militärische Niederlage der UdSSR die unvermeidliche Restaurierung des Kapitalismus bedeuten würde, und zwar in halb kolonialer Form unter einem politisch faschistischen Regime, die Zerstückelung des Landes und den Sturz der Oktoberrevolution. Viele meiner früheren politischen Freunde in verschiedenen Ländern, empört über die Politik der Stalinschen Bürokratie, kamen zu der Schlussfolgerung, dass wir die Pflicht der „unbedingten Verteidigung der UdSSR“ nicht auf uns nehmen könnten. Darauf antwortete ich, dass man die Bürokratie mit der UdSSR nicht identifizieren darf. Das neue soziale Fundament der UdSSR muss man gegen den Imperialismus bedingungslos verteidigen. Die bonapartistische Bürokratie wird von den werktätigen Massen nur dann gestürzt werden, wenn es gelingt, die Grundlagen des neuen ökonomischen Regimes der UdSSR zu schützen. Ich habe wegen dieser Frage öffentlich mit Dutzenden alter und Hunderten junger Freunde gebrochen. In meinem Archiv befindet sich eine riesige Korrespondenz, die der Verteidigung der UdSSR gewidmet ist. Schließlich bietet mein neues Buch Verratene Revolution eine ausführliche Analyse der militärischen und diplomatischen Politik der UdSSR, speziell unter dem Gesichtswinkel der Landesverteidigung. Jetzt stellt sich mit Hilfe der GPU folgendes heraus: während ich mit nahen Freunden brach, weil sie die Notwendigkeit der bedingungslosen Verteidigung der UdSSR gegen den Imperialismus nicht begriffen, ging ich gleichzeitig Bündnisse mit den Imperialisten ein und empfahl, die ökonomischen Fundamente der UdSSR zu zerstören ...

Es ist völlig unübersichtlich, was denn eigentlich praktisch Deutschland und Japan in den Bund hineingebracht haben? Die Trotzkisten haben dem Mikado und Hitler ihre Köpfe verkauft. Was haben sie in Austausch erhalten? Geld ist der Nerv des Krieges. Haben die Trotzkisten nun mindestens Geld von Japan und Deutschland erhalten? Davon im Prozess kein Wort. Den Staatsanwalt interessiert diese Frage nicht. Aus Hinweisen auf andere Finanzquellen geht wiederum hervor, dass weder Deutschland noch Japan Geld gezahlt haben. Was haben sie eigentlich den „Trotzkisten“ gegeben? Auf diese Frage gibt es im gesamten Prozess nicht den Schatten einer Antwort. Das Bündnis mit Deutschland und Japan bewahrt überhaupt rein metaphysischen Charakter. Es sei erlaubt, hinzuzufügen, dass sie überhaupt die niederträchtigste aller Polizeimetaphysiken der menschlichen Geschichte ist.

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018