Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Ist eine Untersuchung politisch zulässig?


Der hoch offiziöse Einwand, dem man häufig begegnet, die Arbeit der Kommission könne der UdSSR „politischen Schaden“ zufügen und für den Faschismus von Vorteil sein, ist – ich gebrauche einen am wenigsten energischen Ausdruck – ein Gemisch aus Stumpfsinn und Heuchelei. Nimmt man für einen Moment an, die vom Gericht gegen die Opposition erhobenen Anklagen seien begründet, das heißt Dutzende von Menschen seien nicht schuldlos erschossen, so kann es für eine mächtige Regierung keine besondere Mühe bedeuten, das Voruntersuchungsmaterial zu lüften, die Lücken des Verhandlungsberichtes zu ergänzen, die Widersprüche aufzuklären und die Zweifel zu zerstreuen. In diesem Falle könnte eine Nachprüfung die Autorität der Sowjetregierung nur steigern.

Was aber, wenn die Kommission die Moskauer Anklagen als eine bewusste Fälschung aufdeckt? Erfordert nicht in diesem Falle die politische Vorsicht, eine riskante Untersuchung zu vermeiden? Eine solche Erwägung, die selten laut und restlos ausgesprochen wird, gründet sich auf dem ängstlichen Gedanken, als könne man gegen die Macht der Reaktion mit Fiktionen, Phantomen und Betrug kämpfen, als sei das beste Mittel gegen eine Krankheit, sie nicht mit Namen zu nennen. Wenn die heutige Sowjetregierung fähig ist, zu blutigen Justizfälschungen zu greifen, um das eigene Volk zu betrügen, so kann sie nicht die Verbündete der internationalen Arbeiterklasse im Kampfe gegen die Reaktion sein. Ihre innere Unzulänglichkeit würde sich unvermeidlich beim ersten größeren historischen Stoß zeigen. Je schneller die innere Fäulnis aufgedeckt wird, um so eher wird die unvermeidliche Krise eintreten und um so mehr Hoffnungen bestehen, dass die lebendigen Kräfte des Organismus sie rechtzeitig überwinden werden. Die Augen vor der Krankheit zu schließen, bedeutet dagegen, sie ins Innere zu treiben und die schrecklichste historische Katastrophe vorzubereiten.

Stalin hat Hitler zuerst den größten Dienst mit seiner Theorie und Praxis des „Sozialfaschismus“ erwiesen. Den zweiten Dienst hat er ihm durch die Moskauer Prozesse geleistet. Diese Prozesse, in denen die höchsten moralischen Werte zertreten und beschmutzt wurden, kann man aus dem Bewusstsein der Menschheit nicht austilgen. Den Massen helfen, die ihnen zugefügte Wunde zu heilen, kann man nur durch volle Klarheit und volle Wahrheit.

Der Widerstand eines gewissen Typus von „Freunden“ gegen die Untersuchung, der an und für sich ein schreiender Skandal ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass selbst die eifrigsten Verteidiger der Moskauer Justiz keine innere Überzeugung von der Redlichkeit ihrer Sache besitzen. Ihre geheimen Befürchtungen verdecken sie mit völlig widersinnigen und unwürdigen Argumenten. Die Nachprüfung, sagen sie, sei eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der UdSSR“! Aber hat denn die internationale Arbeiterklasse kein Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der UdSSR zu mischen? In den Reihen der Komintern pflegt man doch noch bis auf den heutigen Tag zu sagen: „Die UdSSR ist das Vaterland aller Werktätigen.“ Ein seltsames Vaterland, in dessen Schicksale man sich nicht einmischen darf!

Wenn die Arbeitermassen den Handlungen ihrer Führer nicht vertrauen, dann sind diese verpflichtet, alle Erklärungen und alle Elemente für die Nachprüfung zu liefern. Weder der Staatsanwalt, noch die Richter, noch die Mitglieder des Politbüros der UdSSR können eine Ausnahme von dieser elementaren Regel bilden. Wer sich über die Arbeiterdemokratie stellen will, verrät sie schon damit allein.

Man muss noch hinzufügen, dass auch von rein formaler Seite die Frage keinesfalls eine „innere“ Angelegenheit der UdSSR ist. Es sind bereits fünf Jahre, dass die Moskauer Bürokratie mir, meiner Frau und meinem ältesten Sohn die Sowjet-Staatsbürgerschaft genommen hat. Damit hat sie sich selbst irgendwelcher besonderer Rechte in Bezug auf uns beraubt. Wir besitzen kein „Vaterland“, das uns Schutz erweisen könnte. Es ist darum natürlich, dass wir uns unter den Schutz der öffentlichen Meinung der Welt stellen.

 


Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018