Eduard Bernstein

Der Sozialismus einst und jetzt




Siebentes Kapitel
Der Sozialismus als Demokratie und der Parlamentarismus

Die sozialistische Bewegung mit Notwendigkeit demokratische Bewegung – Begriff des Parlamentarismus – Der Parlamentarismus in der Geschichte – Das Budgetrecht, das Fundamentalrecht der Parlamente – Die Krone und das Parlament – Die Auswüchse des Parlamentarismus – Wilhelm Liebknechts Gegnerschaft gegen die Teilnahme am Parlament – Friedrich Engels’ Würdigung der parlamentarischen Aktion. – Die qualitative Steigerung der parlamentarischen Arbeit – Der Streit um die Budgetbewilligungen – Der Streit um die Teilnahme an der Regierung: Jean Jaurès und August Bebel – Der Beschluß von Amsterdam – Der Streit um die Bewilligung der Kriegskredite – Die Selbstverwaltung als Korrektiv des Parlamentarismus

Halten wir daran fest, daß der Sozialismus unserer Zeit als Klassenbewegung Bewegung der Arbeiterklasse ist. Allerdings ist er nicht nur Klassenbewegung, sondern auch Bewegung sozialistischer Ideologie. Aber der Angehörige einer anderen Gesellschaftsklasse muß je nachdem sein Klasseninteresse vergessen, oder sich über es hinwegsetzen, um Sozialist zu werden. Der Arbeiter aber, das ist wenigstens die Auffassung der Sozialisten, braucht nur sein Klasseninteresse zu erkennen – nicht sein persönliches Interesse, das kann ein anderes sein –, um Sozialist zu werden. Da somit die sozialistische Bewegung die Bewegung der Arbeiterklasse ist, der breiten sozialen Unterschicht der Gesellschaft, ist sie darum schon notwendigerweise eine demokratische Bewegung. Darüber kann grundsätzlich gar keine Meinungsverschiedenheit bestehen, sondern nur darüber, wie diese Demokratie sich auswirkt, auf welchem Wege und zu welchem Ziele hin. Streit herrscht zunächst über ihre Form, und da berührt die Frage der Demokratie die Frage des Parlamentarismus. Wiederholt ist schon von Sozialisten wie auch von radikalen bürgerlichen Demokraten ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Demokratie und Parlamentarismus behauptet worden. Und heute kann man in Organen derjenigen sozialistischen Richtung, die sich kommunistisch nennt, den von der bolschewistischen Regierung Sowjetrußlands als Axiom aufgestellten Satz lesen: „Der Parlamentarismus ist die Regierungsform der Bourgeoisie.“ Dagegen wissen wir, daß sowohl Marx-Engels wie auch Lassalle für den Parlamentarismus eingetreten sind, wenn es sich um den Kampf für das Budgetrecht, das Geldbewilligungsrecht des Parlaments gegen halbabsolutistische monarchistische Regierungen gehandelt hat. Und heute tritt die große Mehrheit der Sozialisten, die nicht bolschewistische Kommunisten sind, für die parlamentarische Regierung ein. Es ist daher nötig, sich klar zu machen, was wir unter Parlamentarismus und parlamentarischer Regierung zu verstehen haben.

Beginnen wir mit der Begriffsbestimmung. Was ist überhaupt ein Parlament? Die Frage ist genau dahin zu beantworten: ein Parlament ist ein beratender und jeweilig auch beschließender Vertretungskörper, anders ausgedrückt, eine vertretende bzw. repräsentative Versammlung, die berät und je nachdem auch beschließt. Vertretung und Beratung sind vom Begriff des Parlamentarismus nicht zu trennen, das Beschließen eher. Es hat Parlamente gegeben, die das Recht der Beschlußfassung nicht hatten. In der Frühzeit der parlamentarischen Entwicklung Englands gab es dort solche parlamentarische Körper. Die Konsulatsverfassung Frankreichs, die von Sieyès ausgearbeitet war, und später die Verfassung des Kaiserreichs wurde, sah verschiedene parlamentarische Körper vor: Senat, Tribunal usw. Das Tribunal hatte dabei nur eine beratende Funktion, nicht die Beschlußfähigkeit. Es hatte Gesetze zu beraten und sie je nachdem dem gesetzgebenden Körper vorzulegen; aber beschließende Kraft hatte es nicht. Diesen Gedanken hatte Sieyès entnommen der oligarchischen venezianischen Republik, und ähnliches findet man in der bürgerlichen Utopie Oceana des James Harrington niedergelegt, die in mancher Hinsicht für die Ideengeschichte des Parlamentarismus interessant ist. Harrington schlug zwei Körper vor, einen beratenden und einen beschließenden. Da sollte aber der demokratisch gewählte Körper der beschließende sein, und der nach beschränktem Wahlrecht gebildete Körper nur beratende Funktion haben. Dieser wesentlich die besitzenden Klassen vertretende Beratungskörper sollte die Gesetze vorberaten, und dann sollte das Volk durch seine Vertreter über sie entscheiden. Man kann sagen, das sei ein verfälschter Parlamentarismus. Aber darauf kommt es hier nicht an. In der Geschichte des Parlamentarismus hat es viele Halbheiten und Mischformen gegeben. Auch der englische Parlamentarismus war zunächst eine Mischform, ist es in gewisser Hinsicht selbst heute noch. Erstens ist er nicht die unbeschränkte Herrschaft des Parlaments. Denn neben dem Parlament besteht in England noch die Krone, die nach dem Buchstaben des Gesetzes noch sehr viele Rechte hat, wenn sie auch in der Praxis von den meisten keinen Gebrauch macht. Immerhin hat sie mehr Rechte, als man gemeinhin annimmt. Dann besteht das Parlament in England noch immer aus zwei Häusern, dem überwiegend aus erblichen Mitgliedern zusammengesetzten Haus der Lords und dem Haus der Gemeinen, englisch: House of Commons, was man in Deutschland merkwürdigerweise noch immer mit „Unterhaus“ übersetzt, während in Wirklichkeit das „Haus der Gemeinen“ viel weitergehende Rechte hat als das Haus der Lords. Im englischen Volke wird denn auch allgemein nur die gewählte Vertretung als das Parlament betrachtet. Ebenso in Deutschland. Schon vor der Revolution betrachtete das preußische Volk das Abgeordnetenhaus als das eigentliche Parlament; das Herrenhaus galt ihm nur als eine Art Hemmschuh der parlamentarischen Arbeit, und viel mehr war es ja auch nicht. In England nennt man auch nicht das Haus der Lords die erste Kammer, sondern bezeichnet es ganz logisch als die zweite Kammer.

Diese zweiten Kammern beruhen auch anderwärts vielfach auf dem erblichen Recht oder sind zusammengesetzt aus ernannten Vertretern und ständischen Vertretern. So war das preußische Herrenhaus zusammengesetzt aus Vertretern des Adels, des Grundbesitzes, bestimmter erbberechtigter Familien, der hohen Geistlichkeit, der Universitäten, der Städte; es war also eine ständische Vertretung. In England sind, wie bemerkt, Mitglieder des Hauses der Lords auch heute noch größtenteils Personen aus ererbtem Recht, aber dieses erbliche Anrecht auf den Sitz im Hause der Lords hat eine unangenehme Nebenwirkung. Ein Mann, der erblicher Peer von England ist, darf nicht Abgeordneter im Haus der Gemeinen sein. Der bekannte liberale Politiker Lord Rosebery war Mitglied des Hauses der Gemeinen, solange sein Vater Mitglied des Hauses der Lords war. Aber dieser Vater starb sehr früh, und da mußte der Sohn ins Haus der Lords, ob er wollte oder nicht, so daß es mit seiner Abgeordnetenlaufbahn vorbei war. Er hat das sehr übel empfunden und das Haus der Lords für einen vergoldeten Käfig erklärt. Daß er nicht ins Haus der Gemeinen durfte, hatte ihn als Führer der liberalen Partei unmöglich gemacht, so sehr ist dieses im heutigen England die erste Kammer. [3]

Geschichtlich waren die erblichen oder ständischen Kammern allerdings zunächst die ersten. In England entsteht zunächst im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts das Haus der Lords. Aber sehr bald ziehen die Lords Vertreter der Grafschaften und Städte hinzu, weil sie sie brauchen, die dann aber als Haus der Gemeinen gesondert tagen, und allmählich gewinnt dieses Haus der Gemeinen immer mehr Bedeutung gegenüber dem Hause der Lords, bis das Schwergewicht völlig bei der breiten, direkt gewählten Volksvertretung liegt. Das ist heute auch dort der Fall, wo beide Kammern gewählt werden, wie jetzt in Frankreich. Dort werden der Senat und die Deputiertenkammer gewählt, aber die Deputiertenkammer wird gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts, der Senat aber indirekt von Vertretern der Gemeinden, der Generalräte und Arrondissementsräte. In der Schweiz wiederum hat man den Nationalrat und den Ständerat. Der Nationalrat wird in Wahlkreisen auf Grund des gleichen, direkten Wahlrechts gewählt; der Ständerat wird zwar auch direkt gewählt, aber von den ganzen Kantonen. Jeder Vollkanton entsendet zwei, jeder Halbkanton einen Vertreter, während die Nationalratswahlkreise nach der Bevölkerung eingeteilt sind. Infolgedessen ist der Nationalrat viel stärker an Mitgliedern als der Ständerat und übt auch weitreichendere Funktionen aus. Ähnlich ist es in den Vereinigten Staaten, wo Senat und Repräsentantenhaus die Volksvertretung, hier „Kongreß“ genannt, bilden. Der Senat wird direkt oder indirekt von den Staaten gewählt, das Repräsentantenhaus von den Wahlkreisen. Aber hier wie in allen übrigen modernen Ländern wird das allgemeine und mehr direkt gewählte Haus als das eigentliche Parlament betrachtet.

Was nun die Rechte und Aufgaben der Parlamente betrifft, so ist das Fundamentalrecht des Parlaments das Budgetrecht, das Recht der Annahme oder Verweigerung der Haushalte bzw. der Steuern. Ursprünglich wurde in England das Parlament überhaupt vom König nur einberufen, wenn dieser neue Steuern brauchte, und das Recht, diese Steuern zu verweigern, war das Mittel, mit dem es sich alle übrigen Rechte erwirkt hat. Schon unter Heinrich IV., 1407, erkämpft das Haus der Gemeinen das Recht, daß alle Geldbewilligungsgesetze ihm vorgelegt werden müssen, und dann erobert es sich das Recht der alleinigen Geldbewilligung. Bei wechselnden Machtverhältnissen im Staate, in immer wieder aufgenommenen Kämpfen gegen die Krone, macht es sich die Verlegenheiten dieser zunutze. Es weiß zu gut, daß ohne Geld das Regieren nicht möglich ist. Hängt die Geldbewilligung vom Parlament ab, so kann die Krone nichts ohne dieses machen; sie kann ohne Geld keine Soldaten beschaffen und daher auch ohne das Parlament keine Kriege führen. Darauf gestützt hat z. B., als 1628 ein Krieg zwischen Frankreich und England bevorstand, das Parlament sich die Rechte der sogenannten Petition of Right („Rechtsforderung“) ausbedungen. Zwölf Jahre später, im Jahre 1640, als Karl I., der gleichzeitig König von Schottland war, gegen seine aufständischen Schotten kämpfen wollte, sagte das englische Parlament wiederum: „Ehe wir Dir Geld dazu bewilligen, wollen wir erst einmal mit Dir abrechnen.“ Karl, der zehn Jahre lang ohne Zustimmung des Parlaments Steuern hatte eintreiben lassen, mußte die Gesetzwidrigkeit dieses Vorgehens anerkennen, eine ganze Reihe von Verfügungen zurücknehmen, neue Rechte bewilligen und das Todesurteil gegen seinen Kanzler Strafford unterschreiben, ehe er das Geld bewilligt erhielt. Dann kam die Revolution, die ihm selbst den Kopf kostete, aber mit Wiederherstellung des Königtums endete. Als aber 1688 die zweite Revolution ausbrach und Wilhelm von Oranien ins Land gerufen wurde, mußte auch dieser erst dem Parlament neue Rechte zuerkennen, bis er den Thron besteigen durfte. 1689 schuf das Parlament das Meutereigesetz, mit dem Vorbehalt, daß es immer nur für ein Jahr gilt, so daß, wenn es einmal nicht erneuert wird, in England die Soldaten beliebig meutern dürfen, ohne sich dadurch strafbar zu machen. Dadurch war der Krone das Ausspielen des Heeres gegen das Parlament unmöglich gemacht.

Man kann die Geschichte des englischen Parlaments, das ja das erste große Landesparlament gewesen ist, in zwei große Phasen einteilen; die eine Phase ist die Phase des Kampfes des Parlaments gegen das Königtum, d. h. der Kampf um immer größere Macht des Parlaments dem Königtum gegenüber. Die Thronfolge ist gebunden an eine protestantische Erbfolge. Bei alledem behielt die Krone doch immer noch die Möglichkeit eines großen Einflusses. 1714 kam das Welfenhaus auf den Thron. Der erste Vertreter der hannoverschen Dynastie, Georg I., konnte nicht einmal englisch und kümmerte sich wenig um die Regierung, sondern begnügte sich damit, von Zeit zu Zeit nach England zu kommen und seine Einkünfte einzustreichen. Georg II. bürgerte sich auch nur schwer in England ein. Anders der dritte Georg. Der wollte sein eigener Staatskanzler sein und hat es denn auch glücklich fertig gebracht, die Rebellion und den Abfall der Vereinigten Staaten von Amerika zu erleben. Seine Versuche, den Einfluß des Parlaments zurückzudrängen, haben aber nur kurze Zeit gedauert. 1780 nahm das Haus der Gemeinen einen Antrag an, daß die Macht der Krone im Wachsen sei und verkürzt werden müsse, und das ist auch durch eine ganze Reihe von Bestimmungen erzielt worden.

Im Laufe der Zeit war aber das Haus der Gemeinen ebenso eine Kammer von Privilegierten geworden, wie das Haus der Lords. Das Wahlrecht war außerordentlich beschränkt, die Stimmabgabe öffentlich, und wenn sie auch nicht durch ein Reaktionsgesetz eingeführt, sondern aus dem Mittelalter her überkommen war, wo kein Mensch an geheime Stimmabgabe dachte, so war sie doch das Mittel einer furchtbaren Wahlkorruption geworden, hatte sie dazu geführt, daß der Stimmenkauf und das Kommandieren von Wählern ganz ungescheut betrieben wurden. [4] Ebenso wuchs die Korruption im Parlament, das, je mehr England Kolonialreich wurde, immer mehr wohlbezahlte Posten zu vergeben hatte. Und nun beginnt die zweite Phase der Geschichte des englischen Parlamentarismus: der Kampf um die Demokratisierung der Volksvertretung und damit in Verbindung der Kampf des Hauses der Gemeinen gegen das Haus der Lords.

Bis weit ins neunzehnte und sogar noch ins zwanzigste Jahrhundert hinein ist das englische Wahlrecht im allgemeinen erst faktisch und dann formal ein Privilegienwahlrecht des Grundbesitzes in Land und Stadt gewesen. Abgesehen von den nach und nach sehr eingeschrumpften Wahlberechtigungen städtischer Korporationen usw. ist es immer an eine Verfügung über Grund und Boden gebunden gewesen, und alle Reformen an ihm sind in der Weise vollzogen worden, daß der Begriff des Grundbesitzers schrittweise erweitert wurde. Erst waren es nur die Freisassen gewesen, die das Wahlrecht hatten, dann kamen die in Erbpacht sitzenden Pächter hinzu, später die mittleren und kleinen Pächter im allgemeinen und die Mieter von Wohnhäusern – die Engländer haben ja vorwiegend das Einfamilienhaus –, und schließlich wurde es auch den Abmietern von Zimmern und von Teilen von solchen verliehen, so daß, wer 10 Mk. Miete wöchentlich zahlte, ein Wähler war, auch wenn er nur ein halbes Zimmer hatte. Ein staatsbürgerliches Recht schlechthin ist das englische Wahlrecht aber bis zum Weltkrieg nicht gewesen. Die Entwicklung ist formal da umgekehrt vor sich gegangen, als bei uns und anderwärts auf dem Festland. Hier wurde das Wahlrecht als ein staatsbürgerliches Recht eingeführt, aber vielfach gebunden an irgendwelche Steuerleistungen usw. In England dagegen war es ein Recht des Grundbesitzers oder irgendeines Korporationsvertreters und gebunden allerdings an die englische Staatsbürgerschaft. [5]

Auf die überaus charakteristischen Kämpfe um die Wahlreform in England kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Für den hier behandelten Gegenstand ist es bemerkenswert, daß mit der ersten großen Wahlreform im 19. Jahrhundert auch der Kampf gegen die parlamentarische Machtstellung des Hauses der Lords erneut auf die Tagesordnung gesetzt wird. Diese Wahlreform, die im Jahre 1832 dem lange Zeit sich ihr widersetzenden Haus der Lords abgerungen wurde, brachte eine erdrückende liberale Mehrheit (486 Liberale gegen 172 Konservative) in das Haus der Gemeinen und bewirkte damit eine starke Veränderung in den Beziehungen der beiden Häuser des Parlaments zu einander. Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ab war nach Festlegung der Parlamentsherrschaft die politische Beherrschung Englands abwechselnd der Partei der Whigs und der Partei der Torys zugefallen. Beides waren aristokratische Parteien, Parteien der Besitzenden, im Grunde nur zwei große Bünde oder Koterien von Adligen und Angehörigen der Großbourgeoisie. Der politische Unterschied zwischen ihnen war nicht groß. Die Whigs waren traditionell die Partei eines gewissen Fortschritts, sie wollten die Partei des lebensfähigen Neuen sein und waren die besonderen Sachwalter der neu emporkommenden Bourgeoisie. Die Torys, ursprünglich Anhänger der Dynastie der Stuarts, bildeten sich aus zur sogenannten Partei der Institutionen, des Königtums überhaupt, der erblichen Aristokratie, der Staatskirche, des befestigten Grundbesitzes und so weiter. Das waren die prinzipiellen Gegensätze. In der Praxis verwischten sie sich sehr, da eben in beiden Parteien Angehörige der Oberschicht der Besitzenden das entscheidende Wort sprachen, so daß eines Tages der Vers aufkam, der, glaube ich, den Dichter Byron zum Verfasser hat:

Strange that such difference should be
Twixt Tweedledum and Tweedledee.

Was man auf deutsch etwa so ausdrücken kann:

„Ein mächt’ger Unterschied, Potz Blitz!,
Von Prudelwitz und Strudelwitz.“

In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hatten sich die beiden Parteien sowohl im Haus der Lords wie im Haus der Gemeinen einigermaßen die Wage gehalten, und wenn im Haus der Gemeinen die Whigs die große Mehrheit hatten und im Hause der Lords die Torys nicht nachgeben wollten, so wurde das Mißverhältnis durch einen sogenannten Pairsschub geändert. Aber nach der großen Wahlreform hört das auf. Es findet im Haus der Lords eine so starke Abwanderung von Whigs ins Lager der Torys statt, daß diese schließlich dort eine Mehrheit erhalten, an der ein Pairsschub nichts Wesentliches mehr ändern konnte, er hätte denn mehrere hundert Personen umfassen müssen, was auf gesetzlichem Wege nicht durchzuführen war. Gegen Ende des Jahrhunderts war es schon dahin gekommen, daß die Torys – jetzt Konservative genannt – im Hause der Lords von 500 Mitgliedern ungefähr 400 zählten, die Liberalen nur gegen 100. Diese Entwicklung vollzog sich, nachdem 1866 die zweite Wahlreform großen Teilen der städtischen Arbeiter das Wahlrecht gebracht hatte und die liberale Partei sich allmählich durch Koalition mit der Arbeiterschaft radikalisiert hatte. Nun lag für die Liberalen und Radikalen noch viel stärker das Bedürfnis vor, das Schwergewicht und die politische Entscheidung in das Haus der Gemeinen zu konzentrieren. Ein großer Schritt dazu war schon im Jahre 1861 gemacht worden, wo Gladstone den Beschluß durchsetzte, daß das Haus der Lords nicht über Einzelheiten des Staatshaushalts, sondern über diesen im ganzen abzustimmen habe, womit praktisch jenem die Möglichkeit genommen war, überhaupt in das Budget hineinzureden, da für eine Partei der Staatserhaltung, als die sich die Konservativen betrachtet wissen wollen, das revolutionäre Mittel der Verwerfung des Staatshaushalts um Einzelheiten willen geradezu ausgeschlossen ist.

Nur einmal haben die Lords denn auch einen dahingehenden Versuch gemacht, und er ist ihnen schlecht genug bekommen. Im Jahre 1908 lehnten sie das Budget Lloyd George’s, der damals Schatzkanzler war, mit der Begründung ab, daß das in ihm eingeschlossene Steuergesetz keine einfache Steuermaßnahme sei, sondern eine soziale Umwälzung, was auch bis zu einem gewissen Grade zutraf. Das rief heftige politische Kämpfe hervor und machte mehrmalige Neuwahlen notwendig, die für die Liberalen infolge des gleichzeitig spielenden Kampfes um Home Rule für Irland unter erschwerenden Umständen stattfanden, aber ihnen schließlich doch eine, wenn auch nicht große, Mehrheit beließen. Im Jahre 1911 wurde ein Kompromiß dahin geschlossen, daß, wenn ein Parlament in derselben Gesetzgebungsperiode in Pausen von je einem Jahr dreimal dieselbe Vorlage beschließt, sie dann auch gegen das Haus der Lords Gesetz ist. Damit errang sich in England das Haus der Gemeinen endgültig die Oberhoheit. Das Haus der Lords hat heute nur eine sehr beschränkte Funktion als eine Art Revisionskammer und will auch kaum mehr sein. Es beansprucht nur die Möglichkeit, je nachdem eine direkte Volksabstimmung in der Form von Neuwahlen herbeiführen zu können, wenn es der Meinung ist, das Haus der Gemeinen sei weit über das Mandat hinausgegangen, das es bei den Wahlen bekommen habe. So ist das Haus der Gemeinen heute fast souverän. Der Einfluß der Krone ist nur noch der eines vermittelnden Ratgebers und kann selbst in der auswärtigen Politik nichts gegen einen ausgesprochenen Willen des Hauses der Gemeinen ausrichten.

Aus folgenden Gründen halten die Engländer noch an der Monarchie fest: Erstens hat seit Generationen kein Träger der Krone es auf einen Konflikt mit dem Parlament ankommen lassen. Sie entstammten ja fremden Fürstenhäusern und legten sich in diesem Bewußtsein um so größere Zurückhaltung auf. Es ist ausgerechnet worden, daß Eduard VII. nur etwa ein Siebentausendstel englischen Blutes in seinen Adern habe. Die Dynastie stammt aus Deutschland, und ihre Prinzen heirateten fast immer wieder Deutsche. Deutschland lieferte ja Prinzessinnen in beliebiger Auswahl. Man lese die Namen der englischen Prinzen und ihre Titel, und man wird finden, daß sie fast alle deutsch sind. Es sind Hannoveraner, Braunschweiger, Schleswiger, Koburger usw. Das macht sie in der inneren Politik ungefährlich. Dagegen bildet der Träger der Krone eine Gegenkraft gegen die Gefahren von Auswüchsen der Parteiherrschaft. Er vertritt ein Interesse, das über den Sonderinteressen der Parteien steht. Parteien sind stets der Gefahr ausgesetzt, über dem natürlichen Interesse der Selbsterhaltung Allgemeininteressen zu vergessen oder geradezu zu verletzen. Ihnen gegenüber ist der Träger der Krone durch die Kontinuität seines Amtes vor solchen Anwandlungen geschützt. Die Kontinuität gibt ihm, sofern er mit Takt auftritt, ein großes moralisches Übergewicht. Er steht im Mittelpunkt namentlich der auswärtigen Politik. An ihn kommen die Berichte der Gesandten, und er ist es, der die Gesandten ernennt. Allerdings auf den Vorschlag des zuständigen Ministers, und gegen das Ministerium kann er nichts; er kann die Minister nicht einmal sich auswählen. Als Gladstone im Jahre 1880 die konservative Partei besiegte und die Liberalen ans Ruder kamen, wollte die Königin Viktoria ihn von allen Führern der Liberalen am letzten zum Ministerpräsidenten, denn sie haßte in ihm den siegreichen Rivalen des von ihr hochgeschätzten Disraeli-Beaconsfield. Sie bot daher alles auf, einen anderen liberalen Ministerpräsidenten zu erhalten. Aber das erwies sich als unmöglich. Alle in Betracht kommenden Liberalen, an die sie sich wandte, erklärten ihr nach vorgenommener Umfrage, es sei ihnen unmöglich, ein Ministerium zu bilden, sie müsse Gladstone nehmen, denn ihn wolle die nunmehrige Mehrheit des Parlaments. Und Viktoria unterwarf sich.

Im allgemeinen aber laufen die Ernennungen durch die Hände des Monarchen, der dadurch eine außerordentliche Personenkenntnis erhält. Und noch eines kam ihm bisher zugute. Solange die meisten Regierungen auf dem Festlande noch Monarchien waren, hatte er die persönlichen Verbindungen mit den betreffenden Monarchen und deren Umgebung und dadurch besondere Möglichkeiten der Information. War er dann ein Mensch von Verstand und Klugheit, wie z. B. Eduard VII., den man vor seiner Thronbesteigung in Deutschland sehr unterschätzt hat, dann kann er seinem Lande große Dienste leisten und den Ministern in der Tat ein geschätzter Ratgeber sein. Ob Eduard VII. wirklich, wie man seinerzeit hier gemeint hat, der Treiber war bei der Einkreisung Deutschlands vor dem Kriege, will ich dahingestellt sein lassen, zumal ich der Ansicht bin, daß eine Einkreisung in dem Sinne, wie sie hier angenommen ward, überhaupt nicht stattgefunden hat. Es ist Deutschland in der Zeit dieser sogenannten Einkreisung ganz gut gegangen, und man könnte eher sagen, daß Deutschland, d. h. dessen damalige Regierung, eigentlich sich selbst eingekreist hatte; aber das ist eine Nebenfrage. Vom englischen Standpunkt aus gesehen war Eduard VII. ein sehr erfolgreicher Helfer in der friedfertigen Beilegung auswärtiger Verwicklungen seines Landes, und Verehrer haben ihm nach seinem Tode den Beinamen „der Friedensstifter“ zugesprochen.

Ein sicheres Gegenmittel gegen Auswüchse des Parlaments ist die Krone aber nicht. Die Engländer halten an ihr fest, weil sie sich in ihrer neueren Geschichte erprobt hat und die Kronenträger der letzten Generationen klug genug waren, sich nicht vorzudrängen und nur in solchen Fällen sich hören zu lassen, wo sie die Nation wirklich hinter sich wußten.

Mit der Parlamentsherrschaft sind unzweifelhaft eine Reihe Gefahren verbunden, wie sich das in England schon im achtzehnten Jahrhundert gezeigt hat. Die sprichwörtlich gewordene Korruption der damaligen Parlamente war eingeführt worden von dem Whig-Minister Robert Walpole (1676–1745), der persönlich vollständig rein war, aber das Kaufen und Bestechen aus politischen Gründen für notwendig hielt. Unter seinen Nachfolgern fraß das Übel immer weiter um sich. Je mehr Stellen die Regierung zu vergeben hatte – und im Kolonialland England wurden es deren immer mehr –, um so allgemeiner die Korruption. Eine einseitige Parteiherrschaft bestand lange Zeit, die das Gemeininteresse vernachlässigte; auch wurden viele schlecht beratene Gesetze gemacht. Dabei soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß das persönliche Regiment sich verschiedentlich um kein Haar besser bewährt hat. Auch bei ihm und der mit ihm verbundenen Beamtenwirtschaft ist man allerlei Zufällen ausgesetzt. Wie man auch grundsätzlich zum monarchistischen Regierungssystem stehen mag, so wird doch niemand bestreiten, daß in einem sehr wichtigen, für das deutsche Volk verhängnisvollen Augenblicke – aus welchen Beweggründen, darüber will ich hier nicht sprechen – in unserer Zeit der Kronenträger versagt hat. Und ebensowenig ist eine erbliche oder ständige Kammer ein Gegenmittel.

Es ist nun jedoch Tatsache, daß die schlimmsten Auswüchse der Parlamentsherrschaft einer Zeit angehören, wo das Parlament eine auf Grund beschränkten Wahlrechts gewählte Kammer von Privilegierten war. Das englische Parlament hat eigentlich erst im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts aufgehört, ein Privilegienparlament zu sein. Bis zum Jahre 1858 mußte noch der Abgeordnete in der Stadt oder auf dem Lande Grundbesitzer sein, und zwar mußte er ein ganz gehöriges Einkommen aus Grundbesitz haben. In Frankreich war es bis 1848 ähnlich. In der großen Revolution wird nach dem Sturz Robespierres das Wahlrecht Schritt für Schritt eingeengt, von Napoleon I. scheinbar wiederhergestellt, tatsächlich aber gröblich verfälscht und die Kammer zum Mameluckenparlament erniedrigt. Im restaurierten Frankreich der Bourbonen haben nur 120.000 Staatsbürger das Stimmrecht, und das 1830 durch die Julirevolution ans Ruder gelangte Bourgeoiskönigtum erhöht die Zahl auf ganze 200.000 bei einer Bevölkerung von über 30 Millionen. Es war also immer nur das Parlament der herrschenden Klassen. Damit soll nicht gesagt sein, daß in dem Augenblicke, wo das Parlament demokratisiert ward, alle diese Schäden sofort beseitigt wurden. Nein, auch das Parlament des allgemeinen Stimmrechts ist zunächst vielen Mängeln unterworfen. In der Monarchie stehen der Regierung allerhand Wege zur Verfügung, die Wahlen zu machen. Solange es in der Macht der Regierung liegt, das Parlament aufzulösen, wenn es ihr passend erscheint, also etwa an einem Zeitpunkt, wo die Volksstimmung über ein bestimmtes Ereignis besonders erregt ist, solange kann sie auch bis zu einem gewissen Grade künstliche Wahlergebnisse herbeiführen. In England löste Minister Chamberlain während des Burenkrieges im Jahre 1900 das Parlament auf und bekam eine glänzende Mehrheit. Es waren das die sogenannten Khaki-Wahlen – so genannt nach der Khakiuniform der englischen Soldaten. In Deutschland haben wir verschiedene Male solche Khaki-Wahlen gehabt. So die Wahlen von 1887, wo ein künstlich erzeugter Franzosenschreck eine große Rolle spielte, und so die Wahlen von 1907, bei denen der Herero-Aufstand ausgespielt wurde und die danach den Namen „Hottentottenwahlen“ erhielten. Auch die Wahlen von 1878, wo Bismarck nach dem Attentat des Karl Nobiling auf Wilhelm I. den Reichstag auflöste, um ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu erzielen, gehörten dazu. Da bildete der Sozialistenschreck das Mittel, das es der Regierung ermöglichte, eine Mehrheit zu bekommen, wie sie sie brauchte. Auch das allgemeine Wahlrecht ist also nicht schlechthin das Mittel, die Unabhängigkeit des Parlaments sicherzustellen. Nun trifft aber die Kritik, die man bisher am Parlamentarismus geübt hat, soweit Europa in Betracht kommt, immer nur erst einen Parlamentarismus, der noch nicht vollberechtigtes Organ eines zur demokratischen Selbstregierung gelangten Landes war, sondern entweder bloß Scheinparlamentarismus oder noch mit Resten eines solchen behaftet war. Den Scheinparlamentarismus schildert ausgezeichnet Ferdinand Lassalle im zweiten Teil seiner in einem früheren Kapitel von mir gewürdigten Abhandlung über Verfassungswesen. Lassalle war durchaus kein Gegner des echten Parlamentarismus. Er predigte im Gegenteil den Arbeitern die Notwendigkeit, behufs seiner Herstellung das allgemeine Stimmrecht zu erringen. In jener Abhandlung finden wir bei ihm u. a. den Satz: „Als ob nicht in der Tat im parlamentarischen Regime und nur in ihm das Wesen einer wahrhaft konstitutionellen Regierung bestände.“ Er erklärt den Kampf um das Parlament für außerordentlich wichtig und prägt den Arbeitern die Notwendigkeit ein, das allgemeine Wahlrecht zu erlangen, von dem er ihnen im Offenen Antwortschreiben zuruft, es sei nicht nur ihr politisches, sondern auch ihr „soziales Grundprinzip“, die „Grundbedingung aller sozialen Hilfe“. Und an einer anderen Stelle erklärt er ihnen hinsichtlich des Wahlrechts: „Es wird ein paarmal fehlschlagen – es ist keine Wünschelrute, aber es ist die Lanze, die die Wunde heilt, die sie geschlagen hat.“

Das war zur Zeit, als Lassalle auftrat, durchaus im Widerspruch mit der Anschauung vieler Sozialisten. In radikal-revolutionär gesinnten sozialistischen Kreisen war man Gegner des Parlamentarismus, weil das Wahlrecht – man führte das nicht schlüssige Beispiel Frankreichs an – konservativ gewirkt habe und man den Gedanken hegte, durch die Revolution auf der Straße die Macht zu erlangen, die man für nötig hielt, um die Politik und die soziale Verfassung des Landes mit diktatorischer Gewalt ändern zu können. Auffassungen dieser Art hegte unter anderen Wilhelm Liebknecht, dessen Andenken von der deutschen Sozialdemokratie nach meiner Ansicht mit Recht als das eines hochverdienten Vorkämpfers in Ehren gehalten wird. Liebknecht hat am 31. Mai 1869 in Berlin einen Vortrag gehalten über die politische Stellung der Sozialdemokratie, worin er nicht nur scharf gegen die von Lassalle den Arbeitern eingeprägte Wertung des allgemeinen Wahlrechts polemisierte, sondern auch die Teilnahme an den parlamentarischen Verhandlungen bekämpfte. Der Parlamentarismus sei Spiegelfechterei. Der Sozialismus, führte er aus, stehe in unversöhnlichem Gegensatz zum alten Staat. Der alte Staat müsse erst gestürzt werden, dann erst könne mit dem Bau der neuen sozialistischen Gesellschaft begonnen werden. Er wollte, man solle zwar, da das Wahlrecht nun einmal da sei, aus agitatorischen Gründen am Wahlkampf teilnehmen und ins Parlament eintreten, aber nur um Protestreden zu halten und sich sonst nicht weiter an den Debatten beteiligen. Für diese, einer Phase in der Entwicklung der sozialistischen Bewegung entsprechende Auffassung, die namentlich in Frankreich stark verbreitet war, ist folgende Stelle aus Liebknechts Schrift recht bezeichnend:

„Bei Beratung der Gewerbeordnung, welche den Hauptgegenstand der gegenwärtigen Session bildete, glaubten einige meiner Parteigenossen im Interesse der Arbeiter und zu propagandistischen Zwecken eine Ausnahme machen zu müssen. Ich war dagegen. Die Sozialdemokratie darf unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern verhandeln. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln heißt sein Prinzip opfern. Prinzipien sind unteilbar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgabe des Prinzips. Wer mit Feinden verhandelt, parlamentiert; wer parlamentiert, paktiert.“

Liebknecht, der, als er diesen Vortrag hielt, erst dreiundvierzig Jahre alt war, hat sich später eines anderen belehrt und ist auch damals mit dieser Argumentation, deren Trugschlüsse auf der Hand liegen, nicht durchgedrungen. Es siegte die Auffassung derjenigen seiner Parteigenossen, von denen er da spricht und deren bedeutendster August Bebel war. Nun galt er zu jener Zeit in Deutschland als der berufene Vertreter der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels, mit denen er bis dahin in England im Exil gelebt hatte. Aber weder Marx noch Engels waren mit dieser Behandlung der Frage einverstanden. Marx schrieb, nachdem er den Vortrag gelesen hatte, am 10. August 1869 an Engels:

„Wilhelms in der Beilage abgedruckter Redeteil (in Berlin gehalten) [Die politische Stellung der Sozialdemokratie] zeugt innerhalb des Falschen von nicht zu leugnender Schlauheit, sich die Sache zurechtzumachen. Übrigens ist das sehr schön! Weil man den Reichstag nur als Agitationsmittel benutzen darf, darf man niemals dort für etwas Vernünftiges und direkt die Arbeiterinteressen Betreffendes agitieren!“

Engels aber hatte schon am 9. Juli mit Bezug auf denselben Vortrag an Marx geschrieben:

„Auch ein Standpunkt von Wilhelm, daß man vom jetzigen Staat Konzessionen an die Arbeiter weder nehmen noch erzwingen darf. Damit wird er verdammt viel bei den Arbeitern ausrichten.“

Die beiden Väter des wissenschaftlichen Sozialismus teilten also den doktrinären Standpunkt Liebknechts nicht. Indes standen sie ihm doch in vielen Punkten immer noch nahe. Auch sie dachten noch nicht an eine wirkliche parlamentarische Betätigung der Sozialisten. Im Laufe der Entwicklung haben sie jedoch ein wachsendes Interesse auch an den parlamentarischen Kämpfen der deutschen Sozialdemokratie genommen. Es ist interessant, zu verfolgen, wie diese großen Denker und geistigen Führer sich schrittweise zu einer anderen Würdigung der Tätigkeit der Arbeiterklasse im Parlament bekehrten, was später dann zum Teil unter ihrem Einfluß auch im Lager der französischen Sozialisten geschehen ist, bei denen die alte revolutionaristische Tradition noch sehr viel stärker in den Köpfen sich erhalten hatte.

Wenn aber Friedrich Engels, der Karl Marx überlebte, im Jahre 1895, am Abschluß seines Lebens, in einem Vorwort zu der Schrift von Marx Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 mit größerer Bestimmtheit als zu irgendeiner früheren Zeit sich anerkennend darüber aussprach, daß die Sozialdemokratie in Deutschland das allgemeine Wahlrecht nicht nur für die Erwirkung sozialdemokratischer Wahlen, sondern auch zur Tätigkeit in den Parlamenten, sowohl im Reichsparlament wie in den Landtagen und Gemeindevertretungen ausnutzte, so muß doch dazu bemerkt werden, daß diese rückhaltlose Zustimmung immerhin noch – wenn ich mich so ausdrücken darf – beim Quantitativen stehen blieb. D. h. daß Engels dabei die äußeren agitatorischen Erfolge, die Tatsache, im Auge hatte, daß immer mehr Sozialdemokraten in jene Körper eindrangen und dort einen immer stärkeren Druck auf die Regierungen und die bürgerlichen Parteien ausüben konnten, daß er aber das Hegelsche Wort „Quantität wird Qualität“, das heißt die Rückwirkung der größeren Zahl der Vertreter auf das Wesen ihrer Betätigung unberücksichtigt läßt. Diese Seite zu würdigen, war ja auch schwer für ihn, weil er vom Ausland her unmöglich einen genauen Einblick in die Arbeit der sozialdemokratischen Vertretungen erlangen konnte, die sich obendrein in den verschiedenen Vertretungskörpern verschieden gestaltete. Allgemein aber lag die Tatsache vor, daß, wo die parlamentarische Tätigkeit von einer stark angewachsenen sozialistischen Fraktion ausgeübt wurde, sie damit auch qualitativ, der Beschaffenheit nach, sich änderte. Bei zehn oder ein paar mehr Abgeordneten legt man in einem Parlament wie der deutsche Reichstag mit seinen 397 Mitgliedern nicht allzu viel Wert darauf, was sie sagen. Man hört ihre Reden an, zollt ihnen je nachdem Achtung, aber es liegt kein Zwang vor, ihren Anforderungen Rechnung zu tragen. Wenn aber 100 Abgeordnete – die letzte Zahl, die Engels erlebt hatte, war noch nicht halb so groß – oder 112 (die letzte Zahl vor dem Kriege), wenn 112 Abgeordnete, also mehr als ein Viertel der Gesamtzahl, in einem solchen Parlament die gleiche Partei vertreten, kommt unter Umständen schon außerordentlich viel auf ihre Stimmen an; sie gewinnen einen größeren materiellen und auch moralischen Einfluß. Damit erwächst aber zugleich für sie durch das reine Gewichtsverhältnis der Machtausübung die Notwendigkeit einer viel intensiveren Tätigkeit, einer mehr und mehr positiven Mitarbeit an der Gesetzgebung, und in den Gemeinden und anderen Selbstverwaltungskörpern an der Verwaltung. Das war nicht nach dem Geschmack aller Mitglieder der Sozialdemokratie. Viele der älteren und nicht wenige gerade der jungen Generation glaubten an der alten Taktik festhalten zu müssen, und so wurde die parlamentarische Tätigkeit unter den Sozialdemokraten nun auch nach der qualitativen Seite hin Streitgegenstand.

In Deutschland kam es darüber bei verschiedenen Gelegenheiten zu heftigen Diskussionen in der Partei. Das erste Mal nach dem Fall des Sozialistengesetzes als im bayerischen Landtag die Sozialdemokraten – damals noch unter der Führung von Georg v. Vollmar – eine Art Zünglein an der Wage bildeten und, um ihre Macht zu vergrößern, bei den Wahlen und auch sonst dazu übergingen, bestimmten nichtproletarischen sozialen Gruppen größere Zugeständnisse zu machen, als es bisher nach der sozialistischen Theorie, wie man sie gelernt hatte, gerechtfertigt geschienen hatte. Dies namentlich den Bauern gegenüber, die in Bayern eine besonders große Rolle spielen. Das gab zu großen Streitigkeiten in der Sozialdemokratie Anlaß und wurde im Jahre 1894 auf dem Parteitag zu Frankfurt a.M. zum Gegenstand sehr lebhafter Debatten, die sich ein Jahr darauf, auf dem Parteitag zu Breslau, in gesteigerter Intensität fortsetzten, dort mehrere Tage in Anspruch nahmen. Es handelt sich nun um den ganzen Fragenkomplex der Agrarfrage, und in der praktischen Zuspitzung, wie man sich insbesondere zu den Bauern zu stellen, ob man ihnen überhaupt noch eine Zukunft in Aussicht zu stellen habe, und ob man für besitzende Kleinbauern eintreten könne, ohne dadurch unter Umständen die Landarbeiter zu benachteiligen. Es hatte sich gezeigt, daß die Sozialdemokratie mit mehr oder weniger allgemeinen, beziehungsweise ins allgemeine gehenden Schlagworten nicht mehr auskam, sondern gezwungen war, tiefer in die Natur und Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung einzudringen.

Dazu lag um so mehr Veranlassung vor, als nunmehr in einem Parlamentskörper nach dem anderen von ihren Stimmen soviel abhing, daß unter Umständen sie dafür verantwortlich wurden, wenn eine Gesetzesvorlage der Regierung, ein Entwurf oder Antrag irgendeiner Partei nicht angenommen wurde. Lange Zeit hatten die Vertreter der Sozialdemokratie, wenn ihnen irgend etwas in einer Vorlage oder einem Antrag nicht genehm war, ruhig sie ablehnen können. Es hing nicht von ihren Stimmen ab, ob die Vorlage oder der Antrag Gesetz wurden oder nicht. Aber mit ihrer wachsenden Stärke hörte diese angenehme Verantwortungslosigkeit auf. Jetzt hatte man sich zu überlegen, ob man für ein etwaiges Scheitern solcher Gesetzesarbeit die Verantwortung auf sich nehmen könne und dürfe.

Mehr noch: In einem Lande, das parlamentarische Republik war, geschah es, daß in einer großen politischen Krisis ein Sozialist, der bis dahin einer der Führer der sozialistischen Kammerfraktion war, eine Stelle als Regierungsmitglied annahm, d. h. Minister wurde. Das Land war Frankreich und die Persönlichkeit der Abgeordnete Alexandre Millerand; er ließ sich im Jahre 1900, als der Kampf zwischen der Republik und den antirepublikanischen Parteien zu einer starken Höhe gediehen war, dazu bewegen, eine Stellung in dem Ministerium Combes anzunehmen. Das gab zu einem außerordentlich heftigen Streit Anlaß, der in allen Ländern, wo es sozialistische Parteien gab, ein Echo fand, und in Frankreich selber zu einer Spaltung der Partei führte. Die Frage wurde dann auf dem Kongreß der wiederbelebten sozialistischen Internationale, der in Paris zur Zeit der Weltausstellung von 1900 stattfand, eingehend erörtert. Ein Flügel der französischen Sozialisten, dessen Führer der große Jean Jaurès war, war zwar mit der Art, wie der Eintritt Millerands ins Ministerium zustande gekommen war – er war nicht nach einem sorgfältig beratenen Beschluß der Partei erfolgt, sondern der Partei geradezu aufoktroyiert worden –, nicht einverstanden, hielt ihn aber unter den gegebenen Umständen sachlich für gerechtfertigt, während ein anderer, Marxisten oder, nach seinem Führer Jules Guesde, Guesdisten genannter Flügel, in ihm eine Verletzung der Grundsätze des proletarischen Klassenkampfes erblickte und bekämpfte. Eine leidenschaftliche, auch sehr interessante Debatte fand statt, am Schluß aber ward mit 29 gegen 9 Stimmen (unter letzteren die der Fraktion der Guesdisten) eine Kompromißresolution angenommen, an deren Ausarbeitung der hervorragende Theoretiker Karl Kautsky mitgewirkt hatte und der Berichterstatter der betreffenden Kommission wurde, weshalb die Resolution dann auch den Namen Resolution Kautsky erhielt. Sie ist bedeutungsvoll für die damalige Stellung der Sozialisten nicht nur zum parlamentarischen Kampf, sondern auch zur Regierungsbildung und hat daher auf wörtliche Wiedergabe Anspruch. Sie lautet:

„Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat kann in einem modernen demokratischen Staate nicht das Werk eines bloßen Handstreiches sein, sondern kann nur den Abschluß einer langen und mühevollen Arbeit der politischen und ökonomischen Organisation des Proletariats, seiner physischen und moralischen Regenerierung und der schrittweisen Eroberung von Wahlsitzen in Gemeindevertretungen und gesetzgebenden Körperschaften bilden.

Aber die Eroberung der Regierungsgewalt kann dort, wo diese zentralisiert ist, nicht stückweise erfolgen. Der Eintritt eines einzelnen Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium ist nicht als der normale Beginn der Eroberung der politischen Macht zu betrachten, sondern kann stets nur ein vorübergehender und ausnahmsweiser Notbehelf in einer Zwangslage sein.

Ob in einem gegebenen Falle eine solche Zwangslage vorhanden ist, das ist eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips. Darüber hat der Kongreß nicht zu entscheiden. Aber auf jeden Fall kann dieses gefährliche Experiment nur dann von Vorteil sein, wenn es von einer geschlossenen Parteiorganisation gebilligt wird und der sozialistische Minister der Mandatar seiner Partei ist und bleibt.

Wo der sozialistische Minister unabhängig von einer Partei wird, wo er aufhört, der Mandatar seiner Partei zu sein, da wird sein Eintritt in das Ministerium aus einem Mittel, das Proletariat zu stärken, ein Mittel, es zu schwächen, aus einem Mittel, die Eroberung der politischen Macht zu fördern, ein Mittel, sie zu verzögern.

Der Kongreß erklärt, daß ein Sozialist ein bürgerliches Ministerium verlassen muß, wenn die organisierte Partei erklärt, daß es Parteilichkeit im ökonomischen Kampf zwischen Kapital und Arbeit bewiesen hat.“

Das war im Jahre 1900. In den Jahren 1902 und 1903 spielten lebhafte Debatten über eine ähnliche Frage in Deutschland, von denen die des letzteren Jahres wieder eine internationale Rückwirkung hatte.

Nach dem großen Wahlerfolg der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 1903, der die Welt in Erstaunen setzte, weil die Stimmenzahl der Partei mit einem Ruck von nicht ganz zwei auf drei Millionen gewachsen war (bei einem damals noch etwas beschränkten Wahlrecht!) und 81 sozialdemokratische Abgeordnete in den Reichstag gekommen waren, war von einer Seite – ich kann es ruhig sagen: es war meine Persönlichkeit – der Gedanke ausgesprochen worden, die Sozialdemokratie solle, da sie nun das Recht habe, im Präsidium des Reichstags vertreten zu sein, die Stelle eines Vizepräsidenten annehmen, auch auf die Gefahr hin, daß der betreffende Vizepräsident gemäß dem damaligen Gebrauch des Reichstags verpflichtet werden würde, an dem formalen Besuch, den das Präsidium des Reichstags alle Jahre dem Monarchen machte, teilzunehmen. Das erregte einen wahren Sturm in der Partei und hatte im Verein mit anderen, mehr oder weniger verwandten Vorkommnissen zur Wirkung, daß im gleichen Jahre 1903 auf dem Parteitage der deutschen Sozialdemokratie in Dresden die ganzen Streitfragen der Bewegung zur Verhandlung kamen, die eine – ich kann nicht sagen „Wandlung“ in der Taktik der Partei anzeigten, denn die Partei war tatsächlich schon auf dem Wege, sich immer mehr parlamentarisch zu entwickeln –, deren Beantwortung im Sinne einer reformistischen Politik aber dieser Entwicklung vielleicht etwas zu vorzeitig den Stempel aufdrücken mußte. Die Auseinandersetzung mit Vertretern dieser Richtung, die man damals Revisionismus nannte, beschäftigte den Parteitag in mehrtägiger Debatte, in deren Mittelpunkt die Frage der parlamentarischen Politik stand. Am Schluß wurde eine Resolution, die den Revisionismus verwarf, mit großer Mehrheit angenommen – nur wenige Personen stimmten dagegen, während die Mehrheit der als Revisionisten geltenden Parteimitglieder es für gut fanden, selbst für sie zu stimmen und dadurch zu zeigen, daß sie sich durch sie nicht getroffen fühlten. Der Wortlaut der Resolution braucht an dieser Stelle nicht wiedergegeben zu werden, da sie schon ein Jahr später – im Jahre 1904 – auf dem Internationalen Sozialistenkongreß zur Sprache kam, der in Amsterdam stattfand.

Auf diesem Internationalen Sozialistenkongreß wollte der Flügel, der sich „Marxisten“ nannte, die Dresdener Resolution für die ganze Internationale verallgemeinern und stellte einen dementsprechenden Antrag. Seine Gegner waren die jaurèsistische Fraktion der französischen Sozialisten und verschiedene sozialistische Parteien und Parteiminderheiten anderer Länder. Es gab über sie einen außerordentlich intensiven und – ich darf sagen – fachlich bedeutsamen Streit, dessen Krönung ein Rededuell im Plenum des Kongresses zwischen Jean Jaurès und August Bebel über die Fragen der sozialistischen Politik war. Jaurès sträubte sich mit allen Kräften dagegen, daß man eine Taktik, die nach seiner Ansicht vielleicht für Deutschland paßte, nun internationalisieren wollte. Er hielt den Deutschen vor: Ihr habt große Erfolge erzielt durch eure Wahltätigkeit, habt einen gewaltigen Parteiorganismus aufgebaut, aber ihr habt doch keine wirkliche Macht in den großen Fragen eures Landes, weil ihr weder die eigentlich revolutionäre, noch die parlamentarische Politik habt. Er stellte dem entgegen, welchen bedeutsamen Einfluß in Frankreich die sozialistische Partei durch ihre parlamentarische Tätigkeit ausgeübt habe, wie sehr sie auf die Geschicke des Landes, auf die Regierungsbildung und auf die Regierungspolitik eingewirkt habe. Mit Leidenschaft rief er aus, was zwar nicht direkt zu der hier behandelten Frage gehört, aber seine damalige Beurteilung der großen europäischen Fragen erkennen läßt und daher in gedrängter Zusammenfassung hier wiedergegeben sei:

„Woran die Welt leidet, was alle Völker Europas mit Besorgnis erfüllt, das ist die politische Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie. Ihr seid eine große, bewunderungswürdige Partei, aber ihr habt auf die Politik eures Landes keinen direkten Einfluß.“

Die Politik des kaiserlichen Deutschland wurde danach schon damals als äußerst beunruhigend in Europa empfunden. In seiner rednerisch nicht minder wirksamen Antwort ging Bebel auf diese Frage nicht ein, sondern wies nur auf die Erfolge in der Reformgesetzgebung hin, welche die Sozialdemokratie in Deutschland indirekt durch den Druck von unten erzielt habe. Er trug den Sieg davon. Trotz Jaurès’ Widerspruch wurde mit 19 gegen 5 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen der Antrag angenommen, der die Dresdener Resolution internationalisierte. Ihre grundlegenden Sätze lauten:

„Der Kongreß verurteilt aufs entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, daß aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine Partei wird, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt. Daher ist der Kongreß im Gegensatz zu den vorhandenen revisionistischen Bestrebungen der Überzeugung, daß die Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen.“

Das „daher“ ist hier etwas seltsam, da eine Beweisführung für das Behauptete gar nicht vorausgeschickt ist. Die Resolution fährt fort und erklärt:

1. „daß die Partei die Verantwortlichkeit ablehnt für die auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden politischen und wirtschaftlichen Zustände, und daß sie deshalb jede Bewilligung von Mitteln verweigert, welche geeignet sind, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten;

2. daß die Sozialdemokratie gemäß der Resolution Kautsky des Internationalen Sozialistenkongresses zu Paris im Jahre 1900 einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann.“

Das wäre der Hauptteil dieser Resolution. Ich enthalte mich jeder weiteren Kritik – ein kritisches Wort habe ich bereits einflechtend angedeutet. Auch hier kann man sich, wie immer man zu den behaupteten Sätzen steht, der einen Bemerkung nicht verschließen: der logische Zusammenhang zwischen Behauptung und Folgerung ist schwer zu finden. Die Revisionisten, die für die Dresdener Resolution gestimmt hatten, erklärten: Ihr unterstellt der revisionistischen Bewegung etwas, was gar nicht in ihr liegt, ihr bekämpft etwas, was die Revisionisten gar nicht wollen! Das traf für die zwei ersten Sätze der Resolution zu. Aber auf der anderen Seite war doch behauptet worden, die Klassenkämpfe verschärften sich, die Partei könne keinen Anteil an der Regierung nehmen, ehe nicht die Sozialdemokratie die politische Macht erlangt habe. Die Sozialdemokratie müsse also überall festhalten an der intransigenten Haltung.

Jedoch die Geschichte ging weiter ihren Gang. Je mehr die Sozialdemokratie anwuchs und in den verschiedenen Ländern sich die politischen Einrichtungen demokratisierten, stellte sich die Folgewirkung heraus – sie war gar nicht zu umgehen –, daß die Teilnahme der Sozialisten an der Arbeit der Parlamente eine zunehmend positivere wurde. Ihr Einfluß wuchs, und es drängte sich die Frage, die schon früher einmal aufgetaucht war, mit neuer Intensität auf: wie soll sich die Sozialdemokratie in den Parlamenten verhalten, wenn die Landeshaushalte zur Abstimmung kommen? Wenn in der Tagung des Parlaments unter Mitwirkung der Sozialisten eine Reihe von Reformen und Verbesserungen durchgesetzt sind, soll dann die Sozialdemokratie den Landeshaushalt ablehnen und damit unter Umständen bekunden, daß ihre Stimmen im Grunde wertlos sind, daß sie nicht die Konsequenzen ihrer Haltung zieht, und damit etwa den Parteien, die jene Fortschritte bekämpft hatten, in die Hände spielen? So stellte sich verschiedentlich in Süddeutschland die Frage. In einigen süddeutschen Staaten waren die Sozialdemokraten zu ziemlichem Einfluß gelangt und beanspruchten nun für sich das Recht, den Landeshaushalt zu bewilligen. In einem Staat – Hessen – lagen obendrein die Dinge so, daß, wenn das neue Budget nicht bewilligt wurde, das alte Budget in Kraft blieb. In einem Jahr war mit Hilfe der sozialdemokratischen Abgeordneten eine Steuerreform beschlossen worden, und wenn nun die Sozialdemokraten das auf Grund ihrer Stellungnahme aufgestellte Budget ablehnten, wäre die Folge gewesen, daß mit ihren Stimmen und denen der Konservativen (die mit der Steuerreform nicht einverstanden waren), da sie zusammen die Mehrheit bildeten, das neue Budget verworfen wurde, die ganze Reformarbeit der Session umsonst gemacht war und die alten Steuern bestehen blieben. Unter diesen Umständen glaubte die sozialdemokratische Fraktion des Landtages das Budget bewilligen zu müssen. Aber nicht überall lag die Sache so klar, daß sich die Bewilligung jedem als eine von grundsätzlichen Fragen der Politik unabhängige Notwendigkeit darstellte, und so gab die Frage der Budgetbewilligungen zu lebhaften Kämpfen auf verschiedenen Kongressen der deutschen Sozialdemokratie Anlaß. Da nun in Deutschland Preußen allein über drei Fünftel der Bevölkerung umfaßt, in Preußen aber die Sozialdemokratie durch das dortige Klassenwahlrecht davon ausgeschlossen war, auf die Beschlüsse des Landtags einen unmittelbaren Einfluß auszuüben, erhielt die dadurch sich den Sozialdemokraten Preußens aufdrängende Stellung zur Budgetfrage auf den Parteitagen ein so starkes Übergewicht, daß schließlich im Jahre 1910 auf dem Parteitag in Magdeburg eine Resolution angenommen wurde, die es den Abgeordneten der Partei geradezu verbot, Budgets zu bewilligen, ein Beschluß, dem sich nun verschiedene einzelstaatliche Organisationen der Partei auch zu fügen versprachen.

Aber die Tätigkeit in den Parlamenten blieb, und es stellte sich doch wiederum in der Praxis durch die Natur der Dinge heraus, daß die Sozialdemokratie nicht bei ihm werde verharren können. Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1912 wuchs die Zahl ihrer Vertreter im Reichstag auf 112 und gestaltete sich die Gruppierung der Parteien so, daß bei Abstimmungen über wichtige Fragen es immer mehr auf die Stimmen der Sozialdemokraten ankam und dadurch deren Verantwortung wuchs. Es kam doch wiederholt vor, daß bei Abstimmungen über neue Gesetze oder Novellen zu bestehenden Gesetzen, auch wenn sie nicht alles brachten, was die Sozialdemokratie gefordert hatte, ja, wenn neben den Verbesserungen einige von der Sozialdemokratie bekämpfte Bestimmungen hineingebracht waren, die Verbesserungen aber wesentlich überwogen, die Fraktion sich veranlaßt sah, ihnen doch zuzustimmen. [6]

Dann brach Anfang August 1914 der Krieg aus, und die Entscheidung, welche die Mehrheit der Fraktion in der Frage der Bewilligung der Kriegskredite traf, trug einen neuen Streitfall in die Sozialdemokratie hinein, schlug aber zugleich auf ihre Stellung zum Parlament und zur Regierung zurück. Die bewilligende Mehrheit der Partei kam damit eine Zeitlang in eine Beziehung zur Regierung, die sich ganz wesentlich von dem Verhältnis unterschied, das bis dahin in Deutschland zwischen Regierung und Sozialdemokratie obwaltet hatte. Sie hielt indes nicht bis zum Schluß vor. Die Unfähigkeit der kaiserlichen Regierung, der erschöpften Nation den Frieden zu verschaffen, führte zur Revolution, und die Sozialdemokratie wurde nun selbst Regierung, beziehungsweise im eigentlichen Sinne des Wortes Regierungspartei. Dies führte eine neue Streitfrage herbei: die Frage der Regierungskoalition.

Auf sie wird in anderem Zusammenhange einzugehen sein. Das hier Vorgeführte, dem Gleichartiges aus anderen Ländern zur Seite gestellt werden kann, veranschaulicht auf das deutlichste den Satz, daß das stärkere Eindringen der Sozialdemokratie in die Parlamente unvermeidlich ihre parlamentarische Tätigkeit auch qualitativ ändert. Es vollzieht sich das nicht ohne innere Kämpfe, nicht ohne zeitweilige Rückschläge. Aber die Dynamik der Dinge, so möchte ich es ausdrücken, treibt doch immer wieder zu der notwendigen Konsequenz. Es geht hiermit, wie es ein von mir auch sonst zitierter Spruch des berühmten Kirchenhistorikers Karl Hase anzeigt: „Der Sieg einer Idee ist die Korruption der Idee“, d. h. wenn eine Idee siegt (das bezieht sich bei Hase auf das Christentum), dann paßt sie sich an die geschichtlich gegebenen Verhältnisse an, das heißt, macht sie diesen Verhältnissen Zugeständnisse – und das ist in wissenschaftlichem Sinne Korruption. So könnte man auch sagen, je nachdem man zu den Fragen Stellung nimmt, daß in der Tat die parlamentarische Tätigkeit der Sozialdemokratie, die ja eine auf Siegen gestützte Tätigkeit war, wenn sie ihr auch noch nicht den vollen Sieg brachte, daß diese parlamentarische Tätigkeit zu Anpassungen an die realen Verhältnisse führte, die eine sich der parlamentarischen Tätigkeit enthaltende Bewegung nicht zu machen braucht. Nur ist es mehr als fraglich, ob eine politische Bewegung, die dem Parlamente fernbleibt, in einem parlamentarisch regierten Lande jemals mehr als eine Sekte bilden wird, jemals die Bedeutung erlangen wird, zu der die Sozialdemokratie es gebracht hat.

Bei alledem soll indes durchaus nicht verschwiegen werden, daß der Parlamentarismus auch seine Kehrseiten hat! Mit der parlamentarischen Betätigung ist nicht nur eine Korruption der Idee im vorentwickelten Sinne verbunden – eine solche Korruption kann für die Bewegung einen Fortschritt gegenüber der abstrahierenden Theorie, einen Gewinn an realistischer Erkenntnis bedeuten –, unter Umständen ist mit ihr auch die Gefahr einer Korruption der politischen Moral verbunden. Je mehr Parteien Macht erlangen, namentlich in parlamentarisch regierten Ländern, desto mehr haben sie Einfluß auf die Vergebung von Stellungen. Man erinnere sich, was darüber Eingangs mit Bezug auf England im 18. Jahrhundert ausgeführt wurde, man halte sich vor Augen, was in bezug auf politische Korruption in den Vereinigten Staaten offenes Geheimnis ist, und es wäre Verblendung, wollte man sich verhehlen, daß auch bei uns mit dem parlamentarischen Regierungssystem Möglichkeiten der Korruption gegeben sind. Man muß schon deshalb sich dies vergegenwärtigen, um den Sinn für die Schaffung von Korrektiven gegen die Gefahr nicht erschlaffen zu lassen. Denn die Sozialdemokratie kann nicht um der mit ihr verbundenen Gefahr auf die Sache selbst verzichten. Ist doch das Leben überhaupt ein großer Korruptor.

Welches sind aber die Korrektive gegen die Kehrseiten des Parlamentarismus? Es gab eine Zeit, wo in der sozialistischen Internationale die Ansicht verbreitet war, die sogenannte reine Demokratie, wie sie in der Schweiz weite Verwirklichung gefunden hat, nämlich die direkte Gesetzgebung durch das Volk, sei dieses Gegenmittel! In Deutschland hatte schon früh der deutsche Sozialist Emil Rittinghausen, der zeitweilig dem Reichstag als Abgeordneter der Sozialdemokratie angehört hat, diese Idee in einer Reihe von Broschüren verfochten, die auch in andere Sprachen übersetzt worden sind, und in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat der französische Sozialist Jean Allemane den Gedanken agitatorisch aufgegriffen und es erzielt, daß sie dem Züricher Kongreß der sozialistischen Internationale von 1893 in Gestalt eines Vorschlags vorgelegt wurde, der darauf hinauslief, die Parlamente ganz abzuschaffen und durch die direkte Gesetzgebung zu ersetzen. Er fand wenig Gegenliebe, denn was er wollte, war eine einfache Unmöglichkeit! So etwas konnte in kleinen schweizerischen Kantonen mit noch nicht hunderttausend Einwohnern, die keine auswärtige Politik, keine großen Probleme zu lösen haben, durchführbar sein. Aber in einem großen Staatswesen mit Millionen von Einwohnern, mit einer Ausdehnung wie Frankreich oder Deutschland oder Preußen, alle Aufgaben der Gesetzgebung und Staatsleitung durch direkte Volksabstimmung regeln zu lassen, stößt sich schon an den Gesetzen – wie ich es vorher ausgeführt habe – von Raum und Zahl. Um die Menge der damit verbundenen Arbeit zu bewältigen, würden die Staatsbürger eines solchen Landes an jedem Abstimmungstag über ganze Bögen von Vorlagen abzustimmen haben, von denen sie die meisten gar nicht überdenken könnten, weil unmöglich jeder von ihnen das nötige Verständnis von der Tragweite jeder einzelnen haben kann. Hier liegt schon deshalb nicht der Ersatz für den Parlamentarismus, auch spricht gegen den direkten Volksentscheid in großen Staatswesen die Erwägung, daß, wo Millionen abstimmen, bei dem einzelnen der Abstimmenden das Gefühl für die Verantwortung, die in der Abgabe der Stimme liegt, naturgemäß nur gering sein kann. Über alle diese Fragen hat damals Karl Kautsky, ein nach meiner Ansicht sehr lesenswertes Buch geschrieben, das den Titel trägt: Parlamentarismus, direkte Gesetzgebung und Sozialdemokratie. Ferner hat meine Wenigkeit außer in dem Aufsatz Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl die Fragen in der Broschüre Parlamentarismus und Sozialdemokratie behandelt, wo ich ähnliche Gedanken entwickelt habe, wie sie hier dargestellt wurden und einige Folgerungen hinsichtlich der Zukunft des Parlamentarismus gezogen habe, der ja schwerlich das letzte Wort der Entwicklung sein wird.

Von den vielen gegen seine Auswüchse vorgeschlagenen Korrektiven kommt unzweifelhaft an hervorragender Stelle in Betracht das Mittel der Beschränkung der Übergriffsmöglichkeiten der Zentralgewalt durch Stärkung der örtlichen und bezirklichen Selbstverwaltung und Demokratisierung dieser Verwaltungskörper. Ein Gedanke, dem, wie früher bemerkt, mit starken Übertreibungen Proudhon in seiner Schrift über den „Föderalismus“ Form gegeben, aber auch Karl Marx in seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ weitgehend Rechnung getragen hat. Aus dieser letzteren Schrift sei hier ein Satz noch einmal zitiert:

„In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein und daß das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Abgeordneten dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation nach Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein.“

Und Marx selbst sagt dazu:

„Die Kommunalverwaltung würde dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs „Staat“ ... aufgezehrt hat.“

Also auch er will eine starke Entwicklung der örtlichen und der bezirklichen Selbstverwaltung, die leichter zu übersehen sind, und dann von unten auf einen föderativen Bau, dessen letzte Instanz – der aber dann die erstgenannten Instanzen die Aufgaben zuweisen und nicht etwa dieser jenen – die Zentralbehörde bilden sollte. Ob solcher nationale Aufbau auf der gegenwärtigen Stufe der sozialen Entwicklung sich als möglich erweisen und die erwarteten Ergebnisse haben würde, scheint mir zweifelhaft, aber der Hinweis auf die Notwendigkeit einer weitgehenden Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung ist sicher ein sehr beachtenswerter Gedanke, der ja auch bis zu einem gewissen Grade bereits Verwirklichung gefunden und manche guten Früchte gezeitigt hat. Diese örtlichen Selbstverwaltungskörper sind Zwangsgenossenschaften genannt worden, weil jeder Orts- bzw. Bezirksbewohner von Gesetzes wegen ihnen angehört, ob er will oder nicht. Zu ihnen treten als Verwaltungsorgane hinzu die freien Genossenschaften, die heute auf verschiedenen Gebieten bedeutsame Funktionen erfüllen und Teile der öffentlichen Verwaltung werden. Als solche haben sich Anerkennung erzwungen die Organisationen der Arbeiter, so sehr sie im Anfang verhaßt waren, an erster Stelle die Gewerkschaften der Arbeiter, dann aber auch die Konsumgenossenschaften der Arbeiter und die freien Verbindungen für Zwecke der körperlichen und kulturellen Entwicklung. Indes auch Genossenschaften anderer Klassen – man denke an die ländlichen Genossenschaften – erfüllen gesellschaftliche Funktionen und sind damit ein Stück der großen Selbstverwaltung der Gesellschaft. Das macht sich nicht nach einem einzigen Schema, das gestaltet sich auf verschiedenen Wegen, aber die administrative Selbständigkeit der Bevölkerung nimmt zu, die Regierung von oben nimmt an Bedeutung ab, wenngleich – das muß denen gesagt werden, die glaubten, den Staat abschaffen zu können – sie nicht verschwindet. Zentrale Gesetzgebungs- und Verwaltungsfunktionen werden noch auf ziemliche Zeit bestehen bleiben. Nur schrittweise übernimmt die Selbstverwaltung von ihr Funktionen auf Grund der gemeinsam geschaffenen Gesetze. Das Parlament wird nicht in Bausch und Bogen abgetan. Aber man kommt zu einer Entwicklung, von der man hoffen darf, daß sie zu einem großen Teil die Gefahren, die mit dem alten Parlamentarismus organisch verbunden scheinen, immer mehr einengen und schließlich überwinden wird. Man muß also verstehen, diese Fragen nicht dogmatisch, sondern als Fragen der Entwicklung zu begreifen.

Will man erkennen, wie sich die Verwaltung mit dem Wachsen des Organismus verändert, so kann man das beim Studium der Verfassungsgeschichte – einfacher ausgedrückt der Geschichte der Statuten – der Arbeiterorganisationen verfolgen. Die Arbeiterorganisationen fangen gewöhnlich an mit der extremsten Demokratie, meist mit der direkten Gesetzgebung und Auswahl der Beamten durch die Mitgliederversammlung. Je mehr sie aber wachsen, sind sie gezwungen, Vertretungskörper zu bilden und den Vertretungen bestimmte Macht- und Leitungsbefugnisse zu übertragen. Die Masse hat dann nur noch vermittelst ihrer Vertrauensmänner eine Art ständiger Kontrolle auszuüben. Die Organisation selbst aber gestaltet sich zu einem Organismus, der eine Art demokratischen Staat darstellt. An der freien Arbeiterbewegung zeigt sich, wie das ziffernmäßige Wachstum, die größere Quantität die gleichberechtigten Genossen selbst zur qualitativen Änderung der Verfassung ihrer Organisation zwingt. Wer das nicht begreift und nicht die sich daraus ergebenden Folgerungen anerkennt, der wird auch nie begreifen, was in dem Wort wissenschaftlicher Sozialismus liegt. Dieser ist, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, soziologische Entwicklungslehre, das heißt die Auffassung der sozialistischen Bewegung als eine Bewegung, die in ihrem Fortgang sich selbst gestaltet und dabei eng abhängt von den organischen Gesetzen sozialer Entwicklung. Eine Erkenntnis, die heute wiederum Streitgegenstand geworden ist im Sozialismus der Gegenwart, und zwar auf die Tagesordnung gesetzt durch das Erscheinen des sogenannten Bolschewismus; und mit dieser Frage wollen wir uns nunmehr befassen.

Fußnoten

3. Eine Reform des Hauses der Lords durch eine Verbreiterung seiner Basis erstreben in England die Konservativen. Dem setzen die Liberal-Radikalen hartnäckigen Widerstand entgegen, weil ein reformiertes Haus der Lords leichter ein der Demokratie gefährlicheres Haus werden könnte als das unveränderte, aus dem Adel zusammengesetzte Haus, das man durch immer neue Einschränkung seiner Rechte „reformiert“ hat.

4. Trotzdem haben die Engländer sich nur schwer von ihr getrennt. Als die geheime Stimmabgabe eingeführt werden sollte, haben nicht nur die Konservativen, sondern auch sehr liberale und sozialistisch gesinnte Männer sich entschieden dagegen erklärt, u. a. der ehrliche und bedeutende Reformsozialist John Stuart Mill. Er fand es eines freien Menschen unwürdig, seine Stimme nicht offen abzugeben. Erst im Jahre 1872 ist die geheime Stimmabgabe und auch nur versuchsweise eingeführt, aber nie wieder abgeschafft worden, weil man dahinter kam, welcher Vorzug ihr innewohnt.

5. Aber selbst das letztere nicht einmal unbedingt. Als ich in London lebte, kam eines Tages ein Agent der konservativen Partei zu mir und fragte, ob er mich auf seine Liste der konservativen Wähler setzen dürfe. Als ich ihm erklärte, ich sei Ausländer und daher nicht wahlberechtigt, erwiderte er, ich stehe aber in der Wählerliste, und da die Sache dadurch rechtlich erledigt sei, daß man meinen Namen nicht vor dem Wahlkommissar angefochten habe, sei ich nun von Rechts wegen Wähler und könne wählen, ich würde gar nichts dabei riskieren. Mein Einwand, daß ein Irrtum bei Feststellung der Liste mir kein Recht verleihen könne, das mir gesetzlich nicht zustehe, schien ihm nicht einzuleuchten, und erst, als ich ihm erklärte, daß ich ja auch nicht konservativ, sondern Sozialist sei, verabschiedete er sich.

6. Es sei mir gestattet, hier einer auf diese Veränderung bezüglichen Bemerkung zu gedenken, die August Bebel nur wenige Wochen vor seinem Tode mir gegenüber äußerte. Bei einem Krankenbesuch, den ich ihm machte, ehe er die ihm verhängnisvoll werden sollende Reise nach Passugg antrat, kamen wir in der Unterhaltung auf einen damals den Reichstag beschäftigenden Gesetzentwurf zu sprechen, der im ganzen eine Verbesserung der Arbeiterversicherung bedeutete, aber einige von der Partei bekämpfte Bestimmungen enthielt. Auf meine Frage, wie er sich unsere Schlußabstimmung denke, antwortete er sehr entschieden: „Annehmen! Die Zeiten sind vorbei, wo wir um solcher Mängel willen uns das Ablehnen gestatten durften“.


Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008