Eduard Bernstein

Der Sozialismus einst und jetzt




Sechstes Kapitel
Die Staatstheorie und der Sozialismus

Der Einfluß der Theorie auf die Praxis – Der Streit um den Begriff des Staates – Staatsfeindschaft und Staatskultus in der Geschichte – Der romantisch-reaktionäre und der demokratische Staatskultus – „Das Vestafeuer aller Zivilisation“ – Die kritische Staatsidee bei Marx und Engels – Die Lehre vom Absterben des Staates – Der Staat als Auswuchs oder Schmarotzer am Gesellschaftskörper – Marx und Proudhon über die staatsfreie Gesellschaft – James Ramsay Macdonald und die Erhaltung des Staates

Welches ist der Einfluß der Theorien auf das Handeln der Menschen?

Vielfach stößt man hinsichtlich der Frage der Beziehungen von Theorie und Praxis aufeinander auf überaus pessimistische Ansichten. Man hört oft, daß das praktische Verhalten bestimmt wird durch Interessen, Leidenschaften und Umstände, und daß der Einfluß der Theorie auf die Praxis in der Politik wie auch sonst im sozialen Leben verschwindend gering sei. Ich halte diese Auffassung für irrig. Gewiß gibt es viele Fälle, wo die Theorie das Handeln wenig oder gar nicht beeinflußt, wo in der Tat Interesse, Vorurteil, Leidenschaft usw. das entscheidende Wort sprechen, und sehr groß ist die Zahl der Menschen, die von Theorie überhaupt keine Ahnung haben. Aber vollständig verneinen kann man ihren Einfluß darum doch nicht. Er ist viel stärker, als die meisten annehmen, und namentlich stark gerade in den aufstrebenden Klassen der Gesellschaft. Welche theoretische Auffassung sie vor irgendeiner Frage haben, wenn sie ihnen auch nicht immer als Theorie, sondern nur als Doktrin, als Lehrsatz gepredigt worden ist, hat auf ihr Verhalten unter Umständen einen sehr großen Einfluß. Es sei nur an folgendes erinnert: Wenn ein Teil unserer Arbeiterjugend, wenn gerade jugendliche Arbeiter in einem Alter, wo der Idealismus beim Menschen eine große Rolle spielt, sich mit Leidenschaft zu Gewalttätigkeiten haben hinreißen lassen, von denen eigentlich die vernünftige Überlegung ihnen hätte sagen müssen, daß sie unmöglich zum Ziele führen können, und man anzunehmen berechtigt ist, daß die Mehrheit von ihnen nicht aus reiner, blinder Zerstörungswut oder Haß gehandelt haben, so wird nähere Prüfung zeigen, daß bis zum Vorurteil gewordene theoretische Anschauungen ihr Handeln maßgebend beeinflußt haben. Man denke nur an die Rückwirkungen des Begriffs der Ausbeutung des Arbeiters durch den Unternehmer, an die aus ihm gezogene weitere Ausdeutung, daß der Unternehmer nur ein Parasit, volkswirtschaftlich ganz überflüssig sei und faktisch nur quasi vom Diebstahl an den Arbeitern und ihrer Kraft lebe, auf das Verhalten vieler Arbeiter. Diejenigen, bei denen diese Auffassung mit dogmatischer Kraft verbreitet ist, die sie als Axiom in sich aufgenommen haben, werden für viele Handlungen zu haben sein, die ihnen andernfalls als unsinnig, wenn nicht unmoralisch erscheinen würden. Und ebenso hat die theoretische Auffassung von der Bedeutung des Staates und der Stellung der Arbeiterklasse im Staate auf das politische Verhalten großer Massen einen sehr wesentlichen Einfluß ausgeübt.

Die politische Bedeutung der Auffassung, was der Staat sei, welche Rolle er erfüllt, welche Bedeutung ihm innewohnt, die Bedeutung dieser zuletzt, wenn auch nicht allen bewußt, in Theorien wurzelnden Auffassung für das politische Leben ist durchaus nicht gering. Auf Grund einer bestimmten Auffassung vom Staat wird eine feindselige Haltung zu ihm eingenommen, die unter Umständen, da der Staat nicht so schnell abzuschaffen ist, zu sehr verfehlten Maßnahmen oder zum Versäumen von notwendigen Handlungen führt, wie andererseits eine gegenteilige Auffassung, ein übermäßiger Kultus des Staates, wieder Leute dazu verleiten kann, mit Parteien gemeinsame Sache zu machen, die tatsächlich nicht nur ihren Bestrebungen grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, sondern ihnen, zur Macht gelangt, größere Hindernisse in den Weg legen würden, als irgendwelche andere Partei. In der sozialistischen Bewegung nun stoßen wir auf einander geradezu diametral entgegengesetzt gegenüberstehende Auffassungen vom Staat: eine freundliche, die sich bis zum Kultus des Staats steigert, und eine gegnerische, kritische, die bis zur direkten Feindschaft zu ihm geht. In vielfachen Abtönungen sehen wir diese entgegengesetzten Auffassungen sich durch die Ideengeschichte des Sozialismus ziehen.

Was aber ist überhaupt der Staat? Soviel ist jedenfalls klar, wenn wir vom Staat sprechen, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was wir unter ihm verstehen. Das ist nun auch keine ganz einfache Sache. Die staatswissenschaftlichen Auffassungen vom Staat gehen, wie jeder finden wird, der sich in der einschlägigen Literatur umsieht, sehr weit auseinander. Ein mir befreundeter Staatswissenschafter sagte einmal: Ich habe 18 verschiedene Bücher über Staatstheorie gelesen und in allen verschiedene Definitionen vom Staate gefunden. Indes gibt es doch grundsätzliche Merkmale des Staates. Maßgebend für ihn ist zunächst einmal: er ist ein großes Gemeinwesen, das seine Herrschaft weit über einen einzelnen Ort hinaus erstreckt. Denn wenn wir die griechischen Stadtstaaten, wie schon dieser Name anzeigt, als Staaten gelten lassen, so wissen wir alle, daß z. B. Athen die Landschaft Attika, Sparta Lakedämon beherrschte. Der Staat ist ein Gemeinwesen auf einem bestimmten, mehr oder weniger ausgedehnten Gebiet. Das Moment des Gebietes ist für den Staat maßgebend. Wo kein Gebiet ist, da ist kein Staat. Das Wort vom Staat im Staate ist daher nur figürlich zu verstehen. Ein Gemeinwesen auf einem über einen Ort ausgedehnten Gebiete, das gemeinsame Gesetze hat und durch bestimmte Organe eine höchste Gewalt ausübt, das ist, darin stimmen alle Definitionen überein, der Sache nach der Staat. Für höchste Gewalt wird vielfach der Ausdruck „Souveränität“ gebraucht; aber Souveränität als absolute Rechtshoheit ist kein unbedingt notwendiges Attribut des Staates. Man erinnere sich: wir hatten im Deutschen Reich vor der Revolution Einzelstaaten, denen man die Eigenschaft von Staaten nicht streitig machte, und die doch nicht in allen Dingen souverän waren. Über ihnen stand das Reich, das in einer ganzen Reihe wichtiger Fragen die höchste Gewalt ausübte. Und das war nicht in Deutschland allein so, wir können auch andere Länder nennen, wo das gleiche Verhältnis bestand und noch besteht. Es ist das Bestreben vorhanden – und die ersten Schritte dazu sind schon da –, eine Macht zu schaffen, die über allen heutigen Staaten stehen und ihre Souveränität in bestimmten Punkten einschränken soll, die also einen überstaatlichen Staat bilden würde. Was sie soll, ist bis zu einem gewissen Grade in jenem internationalen Gesetz, das man in Deutschland mit ganz falscher Begriffsanwendung Völkerrecht nennt, schon vor dem Kriege vorhanden gewesen. Aber dieses internationale Gesetz war nicht das Gesetz eines Staates, es war zustande gekommen auf Grund von Vereinbarungen von Staaten, die sich in voller Freiheit auf seine Einhaltung verpflichteten. Bei der Abstimmung über neue Satzungen konnte ein einziger Staat durch sein Nein deren Erhebung zu internationalem Recht verhindern. So war die Verbindung zu lose, als daß man auf sie die Bezeichnung als Überstaat hätte anwenden können. Von Maßnahmen, zu einer Macht zu gelangen, die sie rechtfertigten würde, ist vor allem die Schaffung des Haager Schiedshofes zu nennen, und es war ja nahe daran, daß bei einer dritten Zusammenkunft im Haag dieser Schiedshof eine solche Natur erhielt, kraft deren er eine Macht über den Staaten gebildet hätte. Der Krieg hat das verhindert, aber was er gebracht hat, jene Verbindung von Nationen, die man in Deutschland merkwürdigerweise „Völkerbund“ nennt, während sie tatsächlich nur erst ein Bund von Nationen ist, ein Bund der Regierungen, nicht schon ein Bund der Völker selber – Société des Nations, sagen daher die Franzosen, Society of Nations, nennen es die Engländer, und in anderen Sprachen heißt es ähnlich – ist verschiedentlich geplant gewesen als ein Organismus, der über den Staaten stehen und in bestimmten Fragen einfach ihre Souveränität einschränken sollte, ohne daß sie darum aufgehört hätten, Staaten zu sein. Darum sage ich: die absolute Souveränität ist kein unbedingtes Merkmal des Staates; aber ein Merkmal des Staates ist es, daß er über das Gebiet, das er umfaßt, die höchste Gewalt ausübt.

Kommen wir nach diesen Bemerkungen zu den widerstreitenden Theorien oder Auffassungen bei den Sozialisten über ihre Stellung zum Staat. Um mit der Gegnerschaft, der bis zur Feindschaft gehenden Gegnerschaft gegen den Staat zu beginnen, so ist sie eine Folge, und zwar die extreme Schlußfolgerung des Kampfes gegen den bevormundenden Staat, wie er aus dem Mittelalter hervorgegangen war, den absoluten, fast überall monarchistisch-polizistischen Staat. Diese Gegnerschaft gegen den Staat, die im achtzehnten Jahrhundert – eigentlich sogar schon früher – stärkere Vertretung, stärkeren Anhang gewinnt, ist der theoretische Niederschlag der großen liberalen Bewegung, die sich in England ganz besonders stark auf wirtschaftlichem Gebiete, aber auch in der Politik geltend machte, und deren namhafter Wortführer dort der schottische Philosoph und Nationalökonom Adam Smith war. In Frankreich fand der Liberalismus, der die staatlichen Funktionen einschränken wollte, in dem Physiokraten Quesnay seinen Theoretiker und in dem Staatsmann R. J. Turgot seinen bedeutendsten politischen Verfechter, und in Deutschland wird er im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch Wilhelm v. Humboldt vertreten. Von Sozialisten, die den Staat abschaffen wollten, sind vor allem zu nennen die Franzosen Charles Fourier und seine Schule und Pierre Josephe Proudhon, von dem es fraglich ist, ob man ihn mit Recht Anarchist nennen kann, der aber jedenfalls theoretisch Gegner des Staates war. In Deutschland war Gegner des Staates der geistreiche Verfasser des Buches Der Einzige und sein Eigentum, Kaspar Schmidt, der unter dem Decknamen Max Stirner geschrieben hat, in Rußland waren es Michael Bakunin und später Peter Krapotkin. Von Engländern wäre William Godwin, der Verfasser des Buches über politische Gerechtigkeit, zu nennen. Das sind die bekanntesten sozialistischen Gegner des Staates.

Der Staatskultus seinerseits hat zwei Wurzeln; die erste ist die Auflehnung gegen die Geldherrschaft, die Gegnerschaft gegen die Herrschaft der Finanzbourgeoisie. Sie war stark namentlich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert und richtete sich tendenziös gegen die Gesellschaftsklasse, die man bei uns auch „Großbourgeoisie“ nennt. Politisch fand sie ihre stärkste Vertretung in der jakobinischen Bewegung der französischen Revolution. Die Jakobiner sind für die Staatsomnipotenz, für die größte Macht des Staates eingetreten, die man sich denken kann. Das Verlangen nach dem Schutz des Volkes durch einen starken Staat hatte übrigens seinen Vorläufer im ausgehenden Mittelalter beim Kampf des Bürgertums gegen die Feudalherren. Die damals aufkommende Klasse, eben das Bürgertum, rief die Zentralgewalt gegen den Feudaladel an, wie später das breite Bürgertum gegen den Finanzadel, die Finanzaristokratie den Staat anrief. Ein anderer Kultus des Staates entwickelt sich aus der Gegnerschaft gegen die Herrschaft der Masse. Ich brauche absichtlich das Wort „Masse“, andere sprechen von „Pöbelherrschaft“, Ochlokratie, wie der griechische Ausdruck lautet. Dieser Kultus stellt sich ein namentlich im Anschluß an Revolutionen, sobald die Masse zeitweilig tonangebend auf die Bühne tritt, eine Art Herrschaft ausübt und zerstörerisch wirkt. Er ist eine geistige Gegenbewegung gegen die Revolution, die den Staat gegen die Demokratie stärken will. Eine Gegenströmung, die in Frankreich zunächst zum Bonapartismus führte, der eine Mischung – man kann auch sagen: ein Bastard – war von jakobinischen und autokratischen Strebungen; weiterhin aber, da der Bonapartismus, um das Wort eines bekannten preußischen Monarchen zu gebrauchen, „mit dem Ludergeruch der Revolution behaftet war“, in die Wiederaufrichtung der Bourbonen-Monarchie ausmündete. Von dieser Seite her ist der Staatskultus – wie z. B. die erste romantische Literatur zeigt – ein Ausfluß reaktionären Geistes, der allerdings nicht immer gerade politisch reaktionär auftritt, aber den Schutz gegen anarchische Zustände nur in einem starken monarchistischen Staate sieht. Diese Erscheinung hat man in England in der Epoche der großen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts auch gehabt. Da war der große Philosoph Thomas Hobbes, der Verfasser des Leviathan, der Vertreter der Theorie von der absoluten Herrschaft des Staates, bei ihm allerdings nicht im notwendig monarchistischen Sinne. Er gab zu: die Souveränität des Staates kann auch ausgeübt werden von einem Parlament oder von einer ähnlichen Instanz; aber diese muß die absolute Macht haben, und am besten würde diese durch die Monarchie vertreten. Auch in Italien hatte diese Idee ihre Vertreter.

Nun gibt es – wenn wir von diesen konservativen, romantisch-rückläufig gerichteten Theorien absehen wollen – auch eine demokratische Theorie, die dem Staate politische Allmacht zuerkennen will. In Frankreich hatte sie ihren klassischen Philosophen in Jean Jacques Rousseau. Die Demokratie ist nicht immer identisch mit dem Liberalismus. Lange Zeit ist ihre dominierende Idee Unterdrückung, allerdings Unterdrückung der Oberschichten, während der Liberalismus nur befreiend wirken will. Die demokratische Staatstheorie, die in Rousseau ihren Theoretiker hatte, fand in Robespierre ihren Praktiker – Robespierre war ein großer Verehrer Rousseaus und die Schreckensherrschaft ist beherrscht von Gedankengängen aus den Schriften Rousseaus –, kommt zur Freiheit durch terroristische Maßnahmen. Daß die Jakobiner Anhänger der Staatsomnipotenz waren, ward schon oben gezeigt, und von den Jakobinern führt eine direkte Linie zu Gracchus Babeuf, dem geistigen Urheber und Leiter der Verschwörung der Gleichen, der ebenfalls Anhänger des demokratischen Staates in seiner extremsten Auslegung war. In Deutschland haben wir vor allen unseren großen Philosophen Fichte als Prediger des starken Staates zu nennen, der überhaupt meines Erachtens noch viel stärker von der französischen Revolution beeinflußt war, als man gemeinhin annimmt. Aus vielen seiner Schriften geht das hervor. In seiner 1800 erschienenen vielgenannten Schrift vom Geschlossenen Handelsstaat findet man viele Berührungspunkte mit Babeuf. Ich weiß nicht, ob Fichte näheres über diesen gelesen hatte oder sonst Sätze aus ihm kannte; aber er hat sich jedenfalls eingehend mit der Literatur der französischen Revolution beschäftigt. Dann haben wir die mehr metaphysischen Theorien der deutschen Philosophen Hegel und Schelling vom Staat, die ganz konservativ-romantischen Staatstheorien der Bonald, Gentz usw.

Kommen wir nun zu den sozialistischen Verehrern des Staates, so ist ihr klassischer Vertreter in Deutschland Ferdinand Lassalle. Er ist ein unbedingter Anhänger des Staates, und zwar ist er es als Schüler von Hegel und in diesem Punkte auch stark von Fichte beeinflußt, wie man ja manchmal im Zweifel darüber ist, ob es mehr Hegel oder Fichte ist, der aus Lassalle spricht. Man weiß ja, welche hohe Verehrung Lassalle für Fichte empfand, und in vielen seiner Schriften hat er dessen Staatsidee außerordentlich energisch verfochten. Sehr bedeutungsvoll schon im Arbeiterprogramm, jenem Vortrage, den er im Jahre 1862 im Norden von Berlin in einer Arbeiterversammlung gehalten hat über „den Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit unserer gegenwärtigen Zeitperiode“. In diesem, von mir schon zitierten Vortrag verherrlicht er in begeisterten Worten eine Staatsauffassung, die er die „Staatsidee des vierten Standes“ nennt, beiläufig eine falsche Ausdrucksweise, denn er meint tatsächlich die Staatsidee der modernen Arbeiterklasse. Trotz dieses und einiger ähnlicher, in Lassalles juristischer Denkweise wurzelnder Fehlgriffe ist die Schrift den klassischen Denkmälern der Literatur des Sozialismus einzureihen, und zwar ist sie klassisch einmal wegen ihres Gedankenreichtums und der außerordentlich klaren Durchführung dieser Gedanken, klassisch aber auch wegen des großen Einflusses, den sie in der Geschichte des Sozialismus gehabt hat. In dieser Schrift nun kommt Lassalle, wo er vom Staat handelt, zunächst auf die Idee des Staates der Bourgeoisie zu sprechen. Damals gab es in Deutschland einen sehr starken Liberalismus, der ja überhaupt in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine außerordentliche Neubelebung feierte, noch mit einer gewissen naiven Frische behaftet war und auch von seinen damaligen Wortführern ziemlich radikal geltend gemacht wurde. Ein Liberalismus, der noch mit Resten des alten absolutistischen Polizeistaates zu kämpfen hatte und – wie es immer bei solchen Kämpfen geht – dabei auch über die Schnur hieb. Literarische Vertreter der liberalen Bourgeoisie erklärten, daß der Staat wesentlich nur dazu da sei, Eigentum und Person zu schützen, alles andere aber dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zu überlassen habe, was bei den damaligen sozialen Machtverhältnissen und der Verteilung des Eigentums praktisch einfach die Sanktionierung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeutete. Diese Idee nun, daß der Staat nur da sei, das Eigentum und die Person zu schützen, wird von Lassalle als eine „Nachtwächteridee“ verspottet, weil sie den Staat auf die Funktion des Nachtwächters herabdrücke, statt ihm die Funktionen zuzuerkennen, die ihm nach seiner Rolle in der Geschichte zukommen. Ganz anders sei die Auffassung oder die Idee der Arbeiterklasse vom Staate, das heißt, die Staatsidee, die nach Lassalle die Arbeiterklasse infolge ihrer gesellschaftlichen Lage ausbilden werde. Hören wir seine bemerkenswertesten Sätze hierüber. Zuerst heißt es:

„Ganz anders, meine Herren, faßt der vierte Stand den Staatszweck auf, und zwar faßt er ihn so auf, wie er in Wahrheit beschaffen ist.“

Was Lassalle hier vom „vierten Stand“ sagt, werden wahrscheinlich nur wenige von seinen Hörern aus der Arbeiterklasse schon wirklich empfunden haben. Er unterstellt eben der Arbeiterklasse die Auffassung, die nach seiner Ansicht die Idee der Arbeiterklasse werden mußte und es im weiten Umfange auch wirklich geworden ist. Er fährt fort:

„Die Geschichte, meine Herren, ist ein Kampf mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht im Anfang der Geschichte auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit – das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt.

In diesem Kampfe würden wir niemals einen Schritt vorwärts gemacht haben, oder jemals weiter machen, wenn wir ihn als einzelne jeder für sich, jeder allein, geführt hätten oder führen wollten.

Der Staat ist es, welcher die Funktion hat, diese Entwicklung der Freiheit, diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen.

Der Staat ist diese Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, eine Einheit, welche die Kräfte aller einzelnen, welche in diese Vereinigung eingeschlossen sind, millionenfach vermehrt, die Kräfte, welche ihnen allen als einzelnen zu Gebote stehen würden, millionenfach vervielfältigt.

Der Zweck des Staates ist also nicht der, dem einzelnen nur die persönliche Freiheit und das Eigentum zu schützen, mit welchen er nach der Idee der Bourgeoisie angeblich schon in den Staat eintritt; der Zweck des Staates ist gerade der, durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie als einzelne nie erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich wäre.

Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung, d. h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit.“

Das ist ganz im Sinne Fichtes gedacht, und ist in dieser sich so flüssig lesenden Darstellung, dieser klassisch gedrungenen Anreihung der Gedanken fast in der sozialistischen Literatur einzigartig. Lassalle geht dann weiter und zeigt, was der Staat unter der Herrschaft, er sagt nicht: des Arbeiterstandes, er sagt: unter der Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes sein und tun würde:

„Dies,“ sagt er dann, „ist die eigentlich sittliche Natur des Staates, meine Herren, seine wahre und höhere Aufgabe. Sie ist es so sehr, daß sie deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staat, auch ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde.“

Und weiter heißt es:

„Ein Staat also, welcher unter die Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes gesetzt wird, würde nicht mehr, wie freilich auch alle Staaten bisher schon getan, durch die Natur der Dinge und den Zwang der Umstände unbewußt und oft sogar widerwillig getrieben, sondern er würde mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein diese sittliche Natur des Staates zu seiner Aufgabe machen. Er würde mit freier Lust und vollkommenster Konsequenz vollbringen, was bisher nur stückweise in den dürftigsten Umrissen dem widerstrebenden Willen abgerungen worden ist, und er würde somit eben hierdurch notwendig – wenn mir die Zeit auch nicht mehr erlaubt, Ihnen die detaillierte Natur dieses notwendigen Zusammenhanges auseinanderzusetzen – einen Aufschwung des Geistes, die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte und gegen welche selbst die gerühmtesten Zustände in früheren Zeiten in ein verblassendes Schattenbild zurücktreten.

Das ist es, meine Herren, was die Staatsidee des Arbeiterstandes genannt werden muß, seine Auffassung des Staatszweckes, die, wie Sie sehen, ebensosehr und genau entsprechend von der Auffassung des Staatszweckes bei der Bourgeoisie verschieden ist, wie das Prinzip des Arbeiterstandes von dem Anteil aller an der Bestimmung des Staatswillens oder das allgemeine Wahlrecht, von dem betreffenden Prinzip der Bourgeoisie, dem Zensus.“

Der Staat als die Kraft, die, ob sie will oder nicht, dem Fortschritt dient, das ist die sozialistische Staatstheorie Lassalles. Er trägt sie den Arbeitern als die ihre vor, um sie für sie zu gewinnen. Und im Angesicht der großen Klarheit seiner Sprache erübrigt es sich, den Gedankengang hier erst noch zu kommentieren. In späteren Reden kommt Lassalle wiederholt auf ihn zurück. So namentlich in den Prozessen, in die er im Anschluß an diesen Vortrag verwickelt wurde, der doch so außerordentlich gemäßigt gehalten war, in welchem er sich gehütet hatte, mit irgendeinem Wort zur Gewalt aufzufordern. Aber als er ihn als Schrift erscheinen ließ, ward diese auf Veranlassung des Staatsanwalts Schelling, einem Sohne des Philosophen Schelling, konfisziert und Lassalle vor Gericht gestellt, und zwar unter der Anklage, sich gegen den § 100 des alten Preußischen Strafgesetzbuches, den sogenannten Haß- und Verachtungsparagraphen, vergangen zu haben. Das war ein richtiger Kautschukparagraph, unter den sich alles mögliche bringen ließ. Er lautete:

„Wer Bevölkerungsklassen durch irgendwelche Schriften oder Reden zum Haß und zur Verachtung gegeneinander aufreizt, wird bestraft.“

Die Verfolgung führte zu zwei sehr bedeutungsvollen Prozessen, in denen Lassalle die berühmten Reden hielt: Die Wissenschaft und die Arbeiter und Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen. In der letztgenannten dieser Verteidigungsreden, die im Sommer 1862 gehalten wurde, entwickelt Lassalle noch einmal seine Unterscheidung der Staatsidee der Arbeiterklasse von der Staatsidee der Bourgeoisie. Er nennt unter Hinweis auf einen Ausspruch des hochangesehenen Philosophen und Philologen August Boeckh die letztere Staatsidee eine „moderne Barbarei“, und sagt dann:

Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen (nämlich den Richtern) zusammen gegen jene (die liberalen) Barbaren.

Das ist der Staat nach der Lehre Ferdinand Lassalles. Ganz anders nach der sozialistischen Theorie, die begründet worden ist von Karl Marx und Friedrich Engels. Dort spielt der Staat eine wesentlich verschiedene Rolle. In den älteren Schriften und Aufsätzen von Marx, die zu Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben wurden, zeigt er sich meist noch als Anhänger des Staates, beeinflußt durch die Lehre Hegels, wenn er auch schon sehr über Hegel hinausgeht. Aber nachdem er sich der kommunistischen Bewegung zugewandt, sie in Frankreich studiert und ebenso über die englischen Verhältnisse sich orientiert hatte, kommt bei ihm und Engels, die wir immer zusammen nennen müssen, da sie von da ab gemeinsam gearbeitet, gegenseitig sich ihre Arbeiten gezeigt haben, so daß man bei vielen ihrer nun verfaßten Arbeiten nicht sagen kann, daß der eine oder der andere von ihnen der Verfasser sei, kommt in der von ihnen ausgearbeiteten sozialistischen Theorie eine durchaus andere Auffassung vom Staate zum Ausdruck. Man kann sie eine kritische Staatsidee nennen, die nichts mit der Verehrung Lassalles für den Staat gemein hat. Schon in der Schrift, die Marx und Engels Manifest der kommunistischen Partei nannten und die im Winter 1847 geschrieben wurde, spielt der Staat eine Rolle. Am Schlusse heißt es dort:

„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“

Im Anschluß daran werden die verschiedenen Maßnahmen kurz aufgeführt, die zu diesem Zweck getroffen werden würden, und dann heißt es abschließend:

„Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.

An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“

Hier wird das Wort „Staat“ vollständig, und man darf annehmen absichtlich vermieden. Das Proletariat übernimmt die Staatsgewalt, entreißt der Bourgeoisie alle wirtschaftlichen und politischen Machtmittel, verwendet sie in seinem Sinne, und nachdem dies geschehen, entsteht eine große allgemeine Assoziation. Vom Staat ist keine Rede mehr.

In späteren Schriften von Marx und Engels kommt diese Haltung zum Staat noch schärfer zum Ausdruck. Nach der Niederwerfung der achtundvierziger Revolution lebten sie verbannt im Exil in London. Als in den sechziger Jahren die Arbeiterbewegung sich von neuem bildete, nahmen sie direkten Anteil an der deutschen Bewegung nicht. Sie hatten aber in dieser politische Freunde, mit denen sie brieflichen Verkehr unterhielten, auch suchten sie durch Aufsätze und Schriften erzieherisch auf die Bewegung einzuwirken. Einer dieser Freunde war Wilhelm Liebknecht, und die Fraktion, an deren Spitze er und August Bebel standen, galt lange Zeit in Deutschland als die eigentliche Partei von Marx. In den Organen, die Wilhelm Liebknecht damals redigierte, kamen aber naturgemäß vorwiegend Ideen von Liebknecht zum Ausdruck, von denen schon erwähnt wurde, daß sie stark vom französischen Sozialismus beeinflußt waren, daß Liebknecht ganz irrigerweise für das theoretische Mundstück von Marx genommen ward. Liebknecht gab dem 1869 von der damals unter seiner geistigen Führung geschaffenen sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegründeten und von ihm redigierten Blatt den Titel Der Volksstaat, und er wie andere sprachen darin auch immer wieder von einem solchen Staat. Das war aber ganz und gar nicht nach dem Geschmack von Marx und Engels, und in der 1876/77 von ihm unter teilweiser Mitwirkung von Marx verfaßten Schrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft nahm Engels Gelegenheit, gegen diese Idee vom Volksstaat, wie Liebknecht sie vertrat, zu polemisieren, ohne letzteren zu nennen. Er legt dar, daß nach der Revolution des Proletariats die Entwicklung nicht zum Volksstaat, sondern zur Auflösung, zum Absterben des Staates führe. Die Kapitel der Schrift, die speziell den Sozialismus behandeln, sind von Engels später als Broschüre unter dem Titel: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft herausgegeben worden, und wer es nicht vorzieht, das ganze Buch zu lesen, das überaus wertvolle Darlegungen über grundlegende Fragen der Philosophie, Ethik, Geschichtswissenschaft, Nationalökonomie und Sozialwissenschaft enthält, der sollte sich zum mindesten diese Broschüre anschaffen. Man kann sich keine bessere Vorführung der Grundgedanken der Marx-Engelsschen Soziallehre wünschen. In dieser Schrift nun gibt Engels gegen den Schluß eine zusammengefaßte Darlegung darüber, was nach der von Marx und ihm vertretenen Anschauung aus dem Staat wird, nachdem die Arbeiterklasse auf der zu ihrem Höhepunkt gelangten Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft die politische Gewalt erlangt hat. Er schreibt dort:

„Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, d. h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebenen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft; aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudalismus, in unserer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft“, er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom „freien Volksstaat“ zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung, wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden.“

Man sieht, es wird dem Staat im Grunde eine nur transitorische, zeitweilige Rolle zuerkannt, die wesentlich die einer unterdrückenden oder niederhaltenden Gewalt ist – also das, was Lassalle gerade die Rolle eines Nachtwächters der jeweilig herrschenden Klasse nennt, und wenn mit dem Bestehen verschiedener Gesellschaftsklassen die Klassengegensätze und der Anlaß zur Niederhaltung von Klassen aufhören, hört nach dieser Theorie auch der Staat auf. Sie zieht sich durch alle Schriften von Marx und Engels und ist von letzterem später in der Schrift: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates näher begründet worden. Gelegentlich spricht Engels wohl auch vom Staat als Produkt der Arbeitsteilung in der Gesellschaft und leitendem Organ der durch jene notwendig gewordenen Verwaltungsaufgaben, aber er geht auf diese Funktionen und ihre Zukunft nicht näher ein, sondern läßt hinterher immer nur den Staat als Organ der Niederhaltung aufmarschieren. Inwieweit diese Auffassung aufrechterhalten werden kann, oder welche von beiden Auffassungen die Marx-Engelssche und die Lassallesche, die zeitweilig in den Diskussionen der Sozialisten eine große Rolle gespielt haben, den Anspruch auf größere Richtigkeit hat, wird sich vielleicht zeigen, wenn wir nun auch Marx selbst über den Staat gehört haben.

Vierzehn Jahre bevor die Schrift von Engels über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates erschien, im Jahre 1871, hat Karl Marx sich genauer über den Staat geäußert in jener für den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation verfaßten Denkschrift oder Ansprache über die Pariser Kommune von 1871. Im dritten Abschnitt dieser Schrift legt er dar, was eigentlich die Kommune von Paris bedeutet habe, was ihr tieferer Sinn und ihre tieferen Absichten gewesen seien. Er hat dabei, was ich nicht verheimlichen will, etwas sehr frei gearbeitet. Er hat das, was den Leuten der Kommune unbestimmt vorschwebte, in eine sehr klare und bestimmte Sprache, in die logische Entwicklung eines leitenden Gedankens gekleidet. Nachdem er dargelegt hat, daß die Pariser Kommune eine Regierung der Arbeiterklasse war und mit den Einrichtungen der alten Klassenherrschaft, mit Militär, Polizei usw. gebrochen hatte, fährt er fort:

„Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein, und daß das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrig blieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehen beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden. Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen. Und es ist bekannt genug, daß Gesellschaften ebenso gut wie einzelne in wirklichen Geschäftssachen gewöhnlich den rechten Mann zu finden und, falls sie sich einmal täuschen, dies bald wieder gut zu machen wissen. Andererseits aber konnte nichts dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische Investitur zu ersetzen.“

Diese Ausführungen stehen gedanklich in merkwürdiger Übereinstimmung mit dem Plane, den der von Marx so scharf kritisierte Proudhon in seiner Abhandlung über den Föderalismus und seiner Schrift über die politische Befähigung der arbeitenden Klassen entwickelt hat. Die letztgenannte Schrift, die man Proudhons politisches Testament nennen kann, ist nie ins Deutsche übersetzt worden. Sie ist gegen Ende 1864 geschrieben, als die Internationale Arbeiterassoziation im Entstehen begriffen war und in der Arbeiterschaft von Paris neues politisches Leben sich regte. Mit ihr wollte Proudhon, an dem der Tod schon nagte, der Bewegung eine Art politisches Geleitbuch geben. Er war, wie man weiß, Gegner des Staates, wenn er auch nicht Anarchist in dem Sinne war, wie man das Wort heute versteht, sondern dem Föderalismus und Kommunalismus huldigte. Der Staat sollte dadurch abgeschafft werden, daß die Nation sich in freien Kommunen und Verbänden von solchen von unten auf föderalistisch organisierte. Der Staat wird da – was unter dem kaiserlichen Regime Frankreichs verständlich genug war – nur als unterdrückende Macht aufgefaßt. Ganz wie sieben Jahre später bei Marx, der ihn Schmarotzergewächs, Auswuchs der Gesellschaft und unterdrückende Gewalt nennt. Von einer höheren Aufgabe oder Funktion des Staates ist bei Marx so wenig wie bei Proudhon die Rede, während nach Lassalle der Staat sogar eine hohe kulturelle Aufgabe selbst dann noch erfüllte, wenn er es gar nicht einmal wollte. Wo ist da die Wahrheit? Nach meiner Ansicht verkennt der von Marx entwickelte Plan vollständig die Rückwirkung der großen ökonomischen Zusammenhänge, was bei einem Manne wie Marx, der so großen Sinn für das Wesen und die Bedeutung der großen Produktion hatte, ganz besonders verwundern muß. Die hier entwickelte Auffassung ist vollständig kleinbürgerlich. Ein Gemeinwesen mit kleinbürgerlicher Wirtschaft und kleinbürgerlichem Verkehr läßt sich allenfalls nach Art des Kommunalismus auffassen. Ein Land aber mit modernen Industrieunternehmungen und den durch sie geschaffenen wirtschaftlich sozialen Zusammenhängen, die weit über die Gemeinde hinausgreifen, ist als bloßer Bund unabhängiger Kommunen undenkbar.

Man vergegenwärtige sich zum Beispiel nur das moderne vielverzweigte Verkehrswesen und die vielen anderen Wirtschaftsorganismen, deren Wirkungssphäre und Bedürfnisse eine Zwangsgesetzgebung notwendig machen, die an der Selbstbestimmung der Gemeinden keinen Hemmschuh finden darf. Der durch die große Industrie erzeugte Wirtschaftsverkehr stellt die Gesetzgebung der Nation vor ganz andere Aufgaben, als sie in einer kommunistischen Organisation ausreichend erfüllt werden könnten. Die letztere würde schon einfach an den Erfordernissen rationeller Flußwirtschaft versagen, bei der die örtlichen Interessen so verschieden liegen. Die Bewohner im Tale und an der Mündung haben ganz andere Interessen als die Bewohner der Berggegenden, von denen der Fluß herkommt. Vielfach sind Flüsse versandet, weil die Bevölkerung in den betreffenden Bergdistrikten die Wälder abgeholzt hatte. Die von den Quellen an in ihrem Lauf ungehemmten Flüsse nahmen so viel Erdreich mit, daß weiter unten Bett und Mündungen versandeten. Eine Flußwirtschaft, die den Fluß schiffbar erhält, braucht Gesetze und eine Überwachung, die vor keinen Sonderinteressen oder gar Launen der Gemeinden Halt machen. Haben wir doch selbst internationale Überwachungskommissionen für die Flußläufe von Donau, Rhein usw. Man verweist nun gern auf diese letzteren als Beweise dafür, daß sich solche Dinge auch auf dem Wege der freien Vereinbarung regeln lassen. Aber man vergißt dabei, daß diesen Kommissionen Verträge von Staaten zugrunde liegen, bei denen schon die Sonderinteressen von Gemeinden und Bezirken einem großen Allgemeininteresse weichen mußten. Wären nicht schon Staaten gewesen, so wären jene Vereinbarungen nie zustande gekommen.

Der Plan des Kommunalismus ignoriert viele der bedeutenden Gesetzgebungs- und Verwaltungsaufgaben des modernen Staates, übrigens können auch die Gemeinden heute sich nicht mehr auf die kleinbürgerlichen Aufgaben beschränken, die Proudhon im Auge hatte. Die Bodenpolitik, Verkehrspolitik und Sozialpolitik sind bei vielen schon über diesen Rahmen hinausgewachsen. Ich darf daran erinnern, was meine Wenigkeit vor jetzt beinahe 25 Jahren geschrieben hatte in einem Artikel, der betitelt ist: Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl. [1] Es wird dort aufgezeigt, wie sehr die räumliche Ausdehnung des Gebiets und die Vermehrung der Bevölkerung allein schon ganz neue Bedürfnisse schaffen und das Zustandekommen der Gesetzgebung wie ihre Aufgaben komplizieren.

Man wird das in Deutschland praktisch erfahren, wenn hier Versuche gemacht werden, die in die Reichsverfassung der Republik grundsätzlich übernommene direkte Gesetzgebung in die Wirklichkeit umzusetzen. Das in der Schweiz heimische Referendum hat auch dort seine Nücken. Aber es ist ganz etwas anderes, wenn die Bürger der kleinen, von jeher republikanischen Eidgenossenschaft über eine Frage ihres weltpolitisch gesicherten Landes abstimmen, als wenn eine solche Volksabstimmung in einem Lande mit über 60 Millionen Einwohnern und in so schwieriger Lage wie Deutschland vorgenommen wird. Man kann mit der direkten Abstimmung wohl ganz einfache Fragen regeln, aber unmöglich kann man alle Angelegenheiten eines großen Landes durch solche Abstimmungen zur Entscheidung bringen, es müßte sonst jeder Bürger ein Ausbund enzyklopädischen Wissens sein.

Der Staat ist nicht nur Organ der Unterdrückung und Besorger der Geschäfte der Besitzenden. Ihn nur als solches erscheinen zu lassen, ist die Zuflucht aller anarchistischen Systemmacher. Proudhon, Bakunin, Stirner, Krapotkin, sie alle haben den Staat immer nur als Organ der Unterdrückung und Aussaugung hingestellt, das er freilich lange genug gewesen ist, aber durchaus nicht notwendig sein muß. Er ist eine Form des Zusammenlebens und ein Organ der Regierung, das seinen sozialpolitischen Charakter mit seinem sozialen Inhalt ändert. Wer nach der Art eines abstrahierenden Nominalismus seinen Begriff mit dem Begriff der Herrschaftszustände, unter denen er einst entstanden ist, unabänderlich verknüpft, ignoriert die Entwicklungsmöglichkeiten und tatsächlichen Metamorphosen, wie sie sich in der Geschichte mit ihm vollzogen haben.

In der Praxis hat sich unter dem Einfluß der Kämpfe der Arbeiterbewegung in den sozialdemokratischen Parteien eine andere Wertung des Staates eingestellt. Da hat in der Tat die Idee eines Volksstaates Boden gewonnen, der nicht das Werkzeug der oberen Klassen und Schichten ist, sondern seinen Charakter kraft des allgemeinen und gleichen Wahlrechts von der großen Volksmehrheit erhält. Insofern hat Lassalle trotz mancher Übertreibungen in seinen oben wiedergegebenen Sätzen vor der Geschichte, soweit wir sie übersehen können, recht behalten. Allerdings muß man auch ihn cum grano salis verstehen. In seinem Offenen Antwortschreiben ruft er den Arbeitern zu: „Aber was ist denn der Staat?“ Und nach Vorführung von statistischen Zahlen über die damalige Einkommensverteilung fährt er fort: „Ihnen also, den notleidenden Klassen, nicht uns, den höheren Ständen, gehört der Staat, denn aus Ihnen besteht er, Ihre, der ärmeren Klassen große Assoziation, das ist der Staat!“ Ein Ausspruch, der viel Ähnlichkeit hat mit dem Satz eines französischen Sozialisten, von dem seinerzeit geschrieben wurde, daß Lassalle ihn kopiert habe, was aber nicht richtig ist. Es ist dies Louis Blanc, der Verfasser der Schrift über die Organisation der Arbeit. In einer Abhandlung, die polemisch gegen Proudhon gerichtet war, schrieb dieser:

„In einem demokratischen Regierungssystem ist der Staat die Macht des ganzen, durch seine Abgeordneten vertretenen Volkes, er ist die Herrschaft der Freiheit. Der Staat ist nichts anderes als die Gesellschaft selbst, die als Gesellschaft handelt, um die Unterdrückung zu verhindern und die Freiheit aufrechtzuerhalten. ‚Mann aus dem Volke, der Staat bist du!‘ – ‚Homme du peuple, l’état c’est vous!‘“

Der Aufruf am Schluß ist in der Tat beinahe derselbe, den Lassalle ausstößt. Und ähnlich wird argumentiert: der Staat ist aus dem Volk zusammengesetzt, folglich ist das Volk der Staat. In dieser Hinsicht kann man freilich etwas weniger simplizistisch argumentieren. Mit der Feststellung, aus welchen Menschen die Bevölkerung des Staates besteht, ist der Staat noch nicht erklärt. Nur unter bestimmten Umständen hat das Wort einen wahren Inhalt. Hören wir darüber einen anderen Sozialisten. Der englische Sozialist James Ramsey Macdonald hat im Jahre 1909 eine sehr interessante Abhandlung veröffentlicht über Sozialismus und Regierung. Darin führt er gegen Engels aus:

„Der Staat ist nicht die Regierung und nicht die Gesellschaft, er ist die organisierte politische Persönlichkeit eines unabhängigen Volkes, die Organisation einer Gemeinschaft, um ihren gemeinsamen Willen geltend zu machen durch politische Mittel. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß der Staat nur das ist, was die Individuen aus ihm gemacht haben. Auch die Vergangenheit hat ihn gemacht. ... Daher muß der Staat als ein Organisches betrachtet werden.“ [2]

Das ist, glaube ich, die vor der unbefangenen geschichtlichen Prüfung auch wohl dauernden Bestand behaltende Definition des Begriffes „Staat“. Man kann Macdonald nicht vorwerfen, daß er irgendein wesentliches Moment ausläßt, das beim Staat in Betracht kommt. Es hat nun eine ganze Literatur über den Staat gegeben, ob der Staat auf einem Vertrag beruht, sei es auf einem bewußten oder einem stillschweigenden Vertrag, den ein Teil der Bevölkerung einfach durch Duldung eingeht, oder ob der Staat nur von der Gewalt herkam. Und, hat man weiter gefragt, was ist der Gemeinschaftswille? Ist es der Wille aller, die eine Gemeinschaft bilden, addiert, oder ist eine stärkere Potenz bei seiner Bildung tätig? Letzteres ist, soweit man überhaupt berechtigt ist, von einem Gemeinschaftswillen zu sprechen, in der Tat der Fall. Und zwar ist es keine mystische, übersinnliche Macht, sondern ganz einfach die Geschichte, die Vergangenheit, die bei seiner Bildung mitwirkt, und nicht bloß die jeweilige Abstimmung einer Anzahl Menschen. Der Staat ist ein Produkt der Entwicklung, in dessen jeweilige Gestaltung die Vergangenheit mit hineinspielt. Aus dem Staat herausspringen ist Unmöglichkeit. Man kann ihn nur ändern. Und so führt die Frage nach dem Staat den Sozialisten hinüber zur Frage der Demokratie und der Regierung überhaupt.

Fußnoten

1. Wieder abgedruckt in Band II des Sammelwerks Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus, Berlin 1904, 4. Auflage.

2. Im gleichen Sinne heißt es in dem obenerwähnten Aufsatz des Verfassers dieser Schrift:

„Wie in der Tierwelt mit der Differenzierung der Funktionen die Ausbildung eines Knochengerüsts unvermeidlich wird, so im gesellschaftlichen Leben mit der Differenzierung der Wirtschaften die Heranbildung eines das Gesellschaftsinteresse als solches vertretenden Verwaltungskörpers. Ein solcher Körper war bisher und ist heute der Staat. Da nun die Weiterentwicklung der Produktion ganz ersichtlich nicht in Aufhebung der differenzierten Produktion bestehen kann, sondern nur in neuer Zusammenfassung auf Grundlage der ausgebildeten Differenzierung – auf die Personen übertragen, nicht in Aufhebung, sondern in Ergänzung der beruflichen Arbeitsteilung (bzw. der Arbeitsteilung im Beruf. Ed. B.), so kann der Verwaltungskörper der Gesellschaft der absehbaren Zukunft sich vom gegenwärtigen Staat nur dem Grade nach unterscheiden.“ (Ed. Bernstein, Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus, Berlin 1904, Bd. II, S. 73.)


Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008