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Das Kommunistische Manifest als Kundgebung des Klassenkampfes – Adolphe Blanqui und Karl Marx – Der Begriff der Klasse: Stand und Klasse – Marx über die Zersplitterung der Klassen – Der Klassenkampf der Nichtproletarier – Der Klassenkampf der Arbeiter und seine Formen – Der Klassenkampf und die materielle und geistige Hebung der Arbeiterklasse – Die Entwicklung der Gewerkschaften und die Ausbildung der Tarifverträge – Der Klassenkampf und die rechtliche Hebung der Arbeiter
Die Frage des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft hat in der Literatur des Sozialismus als Streitgegenstand Boden gefaßt auf Grund der von Karl Marx und Friedrich Engels in dem Manifest der Kommunistischen Partei niedergelegten Lehre. Dieses Schriftwerk, das Marx und Engels Ende 1847 ausgearbeitet haben und das Anfang 1848 erschienen ist, hat in der Sozialdemokratie aller Länder eine große Bedeutung erlangt. Es ist in unzählige Sprachen übersetzt worden und hat das Ansehen einer Art von Katechismus für die sozialistische Bewegung, ist auch jedenfalls außerordentlich lesenswert –, schon wegen seiner wunderbar lapidaren Sprache, zugleich aber auch wegen des großen Einflusses, den es auf das sozialistische Denken ausgeübt hat und noch ausübt. Es sei nur daran erinnert, daß die Bolschewisten, die sich überall Kommunisten nennen, vornehmlich auf diese Schrift sich berufen.
Im Kommunistischen Manifest nun liest man im ersten Absatz gleich nach der Einleitung:
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“
Dieser Satz ist sehr stark angegriffen worden, was großenteils der ziemlich roh simplizistischen Auslegung geschuldet ist, die er in sozialistischen Reihen gefunden hatte. Viele faßten ihn so auf, daß die ganze Geschichte aus einer Kette von erbitterten Klassenkämpfen bestehe. Solches sagt der Satz aber nicht. Es ist Marx und Engels, diesen guten Kennern der Geschichte, niemals eingefallen, eine so platte Behauptung aufzustellen. Was sie tatsächlich wollten, war, die Tatsache zur Anschauung zu bringen, daß durch die ganze Geschichte der Menschheit – Engels hat das später eingeschränkt: mit Ausnahme der Urgeschichte – sich Klassengegensätze ziehen, die sich stets früher oder später zu heftigen Klassenkämpfen zuspitzen. Marx hat denn auch 1859 im Vorwort zu seiner Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie dem Gedanken eine mehr wissenschaftliche Form gegeben. Er knüpft da an die Theorie Saint-Simons an, daß die Geschichte der Menschheit sich vollzieht in abwechselnden Perioden, eine sogenannte organische Periode, wo sich die Gegensätze einrenken und die Entwicklung sich verhältnismäßig regelrecht vollzieht ohne große Kämpfe, und dann eine eigentliche kritische Periode, wo es zu Revolutionen kommt, und legt in knappen Sätzen das Wesen dieser Periodizität dar. Solange Klassen in der Gesellschaft bestehen, bestehen auch Klassengegensätze, die wirtschaftliche Entwicklung erzeugt sie in immer neuen Formen und treibt sie auf die Spitze. Eine jeweilige Unterschicht drängt nach oben, und ist sie stark genug, um herrschende Klasse werden zu wollen und zu können, dann tritt die Periode sozialer Revolution ein, die auch wiederum nicht plump genommen werden darf als bloßer Straßenkampf. Der ganze Gesellschaftszustand ist vielmehr erschüttert, die sozialen Kämpfe der Klassen nehmen größere Intensität an, die herrschenden Schichten fühlen sich nicht mehr sicher, und schließlich findet so oder so eine soziale und politische Umwälzung statt. Die Tatsache läßt sich auch gar nicht bestreiten, dagegen ist gegen den obigen Satz des Kommunistischen Manifests der Vorwurf des Plagiats erhoben worden. Ein grusinischer Sozialist W. Tscherkesow zitiert dafür einen Spruch des Ökonomen Adolphe Blanqui, Bruder des Kommunisten und Revolutionärs Auguste Blanqui. Dieser Adolphe Blanqui hatte nämlich im Jahre 1825 geschrieben:
„Es hat immer nur zwei sich gegenüberstehende Parteien gegeben, die der Leute, die von ihrer Arbeit leben wollen und die der Leute, die von der Arbeit anderer leben wollen. Patrizier und Plebejer. Freie und Hörige, Sklaven und Freigelassene. Welf und Waibling, Rote und Weiße Rose. Kavaliere und Rundköpfe, alles sind nur veränderte Formen derselben Gattung.“
Dieser Satz sieht allerdings dem im Kommunistischen Manifest niedergelegten ungemein ähnlich, und die Behauptung, daß Marx ein Plagiat ausgeübt habe, konnte einen Schein von Berechtigung haben. Wenn man aber die zwei Aussprüche näher betrachtet, wird man doch auf einen gewaltigen Unterschied stoßen. Bei Blanqui werden ganz verschiedenartige Gegensätze durcheinander geworfen. Welfen und Waiblinge stehen sich ganz anders gegenüber als Proletarier und kapitalistische Unternehmer. Es sind zwei gleichgeartete Parteien, die gegeneinander kämpfen, weil jede Herrscherin sein will, die aber keinen sozialen Gegensatz vertreten. Dann Freie und Hörige. Das ist ein Unterschied, aber kein Klassengegensatz. Bei Marx heißt es: „Freie und Sklaven“. Die Hörigen sind schon nicht mehr Sklaven. Marx schreibt denn auch: „Baron und Leibeigener“, worin sich das feudale Verhältnis scharf ausprägt. Er und Engels beschränken sich auf Anreihung wirklich wesensgleicher Unterschiede. Im übrigen lagen solche Gegenüberstellungen so sehr im Geist der damaligen Epoche, daß es nicht schwer halten würde, Vorgänger auch von Blanqui zu finden. Marx hat niemals behauptet, seine Gedanken seien nie vorher von anderen ausgesprochen worden. Aber jedenfalls offenbart sich in der marxistischen Zusammenfassung gegenüber der Blanquischen ein bedeutender Fortschritt: eine viel stärkere Präzisierung des Wesens der wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze.
Dennoch ist auch bei Marx-Engels an manchem Kritik zu üben, auch ihre Systematik ist nicht ganz fehlerfrei. Sie stellen schlechthin Zunftbürger und Gesellen gegenüber. Aber zwischen Zunftbürger und Gesellen findet tatsächlich jahrhundertelang kein Klassengegensatz statt. Nichts von dem, was man über angebliche Klassenkämpfe zwischen Zunftbürger und Gesellen im Mittelalter liest, hält näherer Prüfung stand. Über die Gesellenbewegungen des Mittelalters hat ein sehr wertvolles Buch Georg Schanz geschrieben: Die Geschichte der deutschen Gesellenverbände. Er teilt da 53 Urkunden mit, aber wenn man sie genau ansieht, so zeigt sich, daß nicht eine davon einen wirklichen Klassenkampf zwischen Gesellen und Zunftmeistern behandelt. Bruno Schönlank spricht in seinem Buche Soziale Kämpfe vor drei Jahrhunderten beständig von Klassenkämpfen, aber er führt nicht einen einzigen wirklichen Klassenkampf zwischen Gesellen und Zunftbürgern vor. Einer der berühmteren Zunftkämpfe der Gesellen des Mittelalters war der Kampf der Kolmarer Bäckergesellen, der zehn Jahre dauerte, von 1495 bis 1505. Worum drehte sich aber dieser Kampf? Um die Stellung der Bäcker in der Kirchenprozession. Nun ist das damals keine so leicht zu nehmende Sache gewesen wie es heute erscheint. Vor der Reformation, in einer Zeit, wo die Kirche noch das ganze bürgerlich-soziale Leben erfüllte, wo die Prozessionen eine gesellschaftliche Bedeutung hatten und die soziale Rangstellung der einzelnen und Gruppen sich darin ausprägte, welche Stelle sie in der Prozession einnahmen, in dieser Zeit hatte ein solcher Streit eine ganz andere Bedeutung als heute. Aber ein Klassenkampf war er nicht, er war mehr ein Kampf von Gewerbe gegen andere Gewerbe. Ich habe ziemlich genau verfolgt, worum die Gesellen damals kämpften. Als ich mich mit der Geschichte eines bestimmten Gewerbes beschäftigte, habe ich eine ganze Reihe von Urkunden dieses und anderer Gewerbe durchstudiert, und niemals bin ich einem Kampf begegnet, der ein eigentlicher Klassenkampf war. Es hat sich oft um Streitigkeiten zwischen Meistern und Gesellen gehandelt. Streitigkeiten sind aber noch kein Klassenkampf. Oft waren die Streitigkeiten zwischen Gesellen und Meistern ähnlich den Streitigkeiten, wie wir sie heute etwa zwischen Studenten und Professoren haben. Die Studenten haben gegen die Senate manchmal Beschwerden und bringen sie in den Ausschüssen zur Geltung; aber man wird nicht behaupten wollen, daß solche Konflikte Klassenkämpfe seien.
Das führt uns zu der Frage: Was bedeutet überhaupt eine Klasse? Eine Klasse ist nicht zu verwechseln mit einem Stand. Lange hat solche Verwechslung stattgefunden, hat man das eine Wort für das andere gebraucht. Selbst ein so klarer Denker und in der Wahl seiner Ausdrücke gewöhnlich außerordentlich sorgfältiger Schriftsteller wie Ferdinand Lassalle gab seiner berühmten Schrift, die später den Namen Das Arbeiterprogramm erhielt, den Titel: Über den Zusammenhang der Idee der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Bedeutung des Arbeiterstandes. Es ist eine wahrhaft klassische Schrift, die ich jedem zu lesen empfehle, der sich mit der Gedankenwelt des Sozialismus vertraut machen will, zumal Lassalle ein Meister des Stils war. Einige seiner populären Schriften sind so vorzüglich geschrieben, daß meiner Ansicht nach es ratsam sein würde, Stücke aus ihnen in die Schulbücher als Lehrgegenstand einzuführen, als Muster guter, klarer Darstellung, sowie auch als Gegenstücke gegen die schändliche Mißhandlung, die die deutsche Sprache heute in der Tagesjournalistik erfährt. Lassalle braucht also mit Bezug auf die Lohnarbeiter den Ausdruck Arbeiterstand. Aber schon damals konnte man nicht mehr von einem solchen Stande sprechen. Nach Ständen gruppiert war die Gesellschaft im Mittelalter und Spätmittelalter. Der Stand ist eine abgegrenzte Schicht mit besonderen Rechten, die gesetzlich geregelt sind. Die Aufnahme in den Stand ist begrenzt, er hat seine eigenen Rechte und Gesetze. Im allgemeinen herrscht im Stande lange eine starke Gleichheit der Lebenslage, erst nach und nach bilden sich in einzelnen von ihnen größere ökonomische Unterschiede, wie wir sie auch bei den Kasten in Indien finden, die ja nur eine Verschärfung der Standeseinteilung sind, oder vielmehr eine schärfere Vorstufe. In Indien kommt es vor, daß eine tieferstehende Kaste oft sehr reiche Mitglieder hat und höherstehende Kasten ärmere Mitglieder. Aber selbst die ärmsten Mitglieder der höheren Kaste fühlen sich entehrt, wenn sie mit einem noch so reichen Mitgliede einer unter ihnen stehenden Kaste an einem Tische speisen sollen. Das war natürlich bei uns im Mittelalter nicht im gleichen Maße der Fall, aber die Stände haben sich doch viel schärfer abgegrenzt als heute die Klassen, und jeder einzelne Beruf, jede Zunft bildete einen Stand. Er grenzte sich gegen andere ab und empfand keinerlei Solidarität mit anderen Ständen. Dieser Zunftgeist hat sich bis in den Anfang des vorigen Jahrhunderts fortgepflanzt. Selbst in meiner Jugendzeit noch war allgemein zwischen Schuhmacher- und Schlossergeselle etwa oder Tischlergesellen wenig Solidaritätsgefühl vorhanden. In der Hasenheide zu Berlin haben sie auf den Tanzböden Kämpfe miteinander geführt, die Tatsache, daß sie gemeinsam einer proletarischen Klasse angehörten, haben sie wenig beachtet. Sie kannten wohl den Unterschied von arm und reich, von Meister und Geselle, aber sie wären erstaunt gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, daß der Schuhmachergeselle das gleiche sei wie ein Schlossergeselle; sie empfanden oft eine stärkere Solidarität mit ihren Meistern als mit den Gesellen eines anderen Gewerbes. Ja, als die kapitalistische Produktion anfing sich durchsetzen, sind die Gesellen oft ihr gegenüber viel konservativer als die Meister. Die Verfolgung der nicht zünftigen Handwerker – im Schneiderberufe nannte man sie Bönhasen – und die Kämpfe gegen die eindringende Maschine sind von seiten der Gesellen zum großen Teile viel heftiger geführt worden als von den Meistern. Die Klasse ist etwas ganz anderes als der Stand. Die Klasse ist eine soziale Schicht, die allerdings auch gebildet wird durch Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse, aber sie ist keine durch Gesetz oder Satzung und Berufszugehörigkeit abgegrenzte Schicht, sondern sie ist der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen. Die Klassenbildung geht neben der Standesentwicklung und später auch innerhalb des Standes selber vor sich. Die Klasse sprengt je nachdem den Stand. Die Linien der Abgrenzung der Stände gehen vertikal, die der Unterscheidung der Klassen horizontal, d. h. nach der Höhe von Besitz und Einkommen. Es sei hierfür auf ein anderes Stück des Kommunistischen Manifestes verwiesen. Auf Seite 24 der neuesten deutschen Ausgabe heißt es dort:
„Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“
Das ist natürlich richtig, das ist eingetreten. Die feudale Gesellschaft ging an einer ganzen Reihe von Umständen zugrunde, die teils auf die Entwicklung des Weltverkehrs, teils der inneren Wirtschaftsverhältnisse zurückzuführen sind und die zur Folge hatten ein starkes Anwachsen der Städte, deren größere Bedeutung und Macht und zugleich eine Steigerung des zunächst gegen die Feudalherren gerichteten fürstlichen Absolutismus. Es entsteht der absolute Staat, und die feudale Gesellschaft wird gesprengt, zum Teil unter Mitwirkung der staatlichen Gesetzgebung.
Das Kommunistische Manifest sagt in dem Absatz Bourgeoisie und Proletarier weiterhin:
„Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“
Das nahmen die Verfasser des Manifestes, das nahmen auch alle Sozialisten, die Schüler von Marx und Engels waren, das nahm gleichfalls Ferdinand Lassalle an. Sie alle folgerten, daß die Gesellschaft sich vereinfache zu dem großen Gegensatz: Bourgeoisie und Proletariat, während die in der Mitte stehenden sozialen Zwischenschichten verschwinden. In dieser Annahme steckt auch etwas Richtiges, aber sie erschöpft die Sache nicht. Es ist eben der große Fehler, den auch die modernen Kommunisten begehen, daß sie das Kommunistische Manifest als das höchste Produkt des Marxschen Geistes maßgebend sein lassen wollen. Aber das Kommunistische Manifest ist ein Produkt der Frühentwicklung von Marx und Engels, und so bedeutende Geister die beiden auch schon damals waren, so muß man ihnen doch das Recht der Jugend zuerkennen, die einer vorschnellen Verallgemeinerung zuneigt. Was sie in England vor sich gesehen hatten, dem Musterland der kapitalistischen Wirtschaft, dem sprachen sie eine Entwicklung in gerader Linie zu, verallgemeinerten und bezogen es auf die ganze moderne Gesellschaft. Zum großen Teile ist ihre damals gefolgerte Vorhersage aber nicht eingetroffen. Liest man die Schriften, die Marx auf der Höhe seiner Entwicklung geschrieben hat, so findet man eine ganz andere Sprache. Im dritten Bande seines Werkes Das Kapital, das freilich die wenigsten gelesen haben – von den Schülern Marx’ abgesehen werden es kaum etliche Hundert gelesen haben –, unterscheidet Marx erstens noch einen anderen Faktor sehr streng, auf den er in dem Kommunistischen Manifest noch gar keinen Bezug nimmt, er unterscheidet nämlich Grundbesitz von Kapitalbesitz. Demgemäß teilt er nun die Klassen anders ein. Er spricht von den drei großen Klassen der modernen Gesellschaft, die sich durch die Natur der Quelle ihres Einkommens, nämlich Arbeitslohn, Profit und Grundrente, unterscheiden, und dann von einer Vielheit der Schichten innerhalb dieser großen Klassen. Er schreibt im letzten Die Klassen überschriebenen Kapitel:
„Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen in der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft.
In England ist unstreitig die moderne Gesellschaft in ihrer ökonomischen Gliederung am weitesten, klassischsten entwickelt. Dennoch tritt diese Klassengliederung selbst hier nicht rein hervor. Mittel- und Übergangsstufen vertuschen auch hier (obgleich auf dem Lande unvergleichlich weniger als in den Städten) überall die Grenzbestimmungen.“
Man sieht schon hier, daß man nicht damit fertig wird, einfach zu sprechen von den beiden großen Klassen „Bourgeoisie und Proletariat“. Marx wirft alsdann die Frage auf: „Was bildet die Klassen?“ und schreibt, daß hiernach auf den ersten Blick die „Dieselbigkeit der Revenuen und Revenuenquellen“ sich als maßgebend zeige. Indes würden, fährt er fort, „von diesem Standpunkte aus z. B. Ärzte und Beamte auch zwei Klassen bilden“, und „dasselbe gälte für die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die Teilung der gesellschaftlichen Arbeit die Arbeiter wie die Kapitalisten und Grundeigentümer – letztere z. B. in Weinbergbesitzer, Äckerbesitzer, Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet!“
Hier bricht das Manuskript zum dritten Bande ab. Marx ist leider nicht über die ersten Sätze des für seine Theorie so wichtigen Kapitels hinausgekommen. Es mag dahingestellt bleiben, warum er gerade an ihm so wenig gearbeitet hat. Wir können nur so viel sagen, daß selbst wenn er dazu gekommen wäre, es zu vollenden, es für heute doch unzureichend sein würde. Denn seit der Zeit, wo Marx das Zitierte geschrieben hat – seine letzten Arbeiten am dritten Bande datieren vom Anfang der siebziger Jahre –, hat die Entwicklung so vieles an der sozialen Schichtung geändert, so viele neue Erscheinungen gezeitigt, daß das Bild, das er zu jener Zeit geben konnte, doch heute unvollständig und vielfach sogar unrichtig sein würde. Was z. B. bei ihm in der Wertung noch vollständig vernachlässigt wird, ist die Frage des technischen und kaufmännischen Personals in der Volkswirtschaft. Wir wissen, welche bedeutende Zunahme diese Klasse seit dem Tode von Marx erfahren hat.
Wenn heute ein großer Teil der Angestellten, und zwar nicht nur der technischen Angestellten, eine starke Gemeinsamkeit der Interessen mit den Arbeitern empfinden, sich ähnlich wie die Arbeiter organisieren und viele sich ihnen ganz zurechnen, so hat man lange Zeit ganz anderes beobachtet, und es bleibt auch heute noch ein ziemlich starker Prozentsatz übrig von kaufmännischen und technischen Angestellten, die auf Grund ihrer Klassenherkunft und Erziehung sich mehr den Unternehmern nahefühlen, Elemente, die eine Zwischenstellung einnehmen und die die bürgerlichen Volkswirtschaftler seinerzeit als den „neuen Mittelstand“ begrüßt haben, der an Stelle der teilweise verschwundenen Mittelstandsunternehmer getreten sei. Jedenfalls bot die kapitalistische Gesellschaft in der Tat am Vorabend des Weltkrieges ein anderes Bild dar, als Marx es zu seiner Zeit vorzeichnen konnte.
Marx leitet die Klassenzugehörigkeit, wie wir gesehen haben, von der Natur der Einkommensquellen ab und gruppiert diese in Grundrente, Profit, Lohn. Er schweigt vom Gehalt und rechnet das Gehalt offenbar dem Lohn zu. Aber das läßt die gewaltigen Unterschiede aus, die z. B. bei den Beamten bestehen, die doch gleichfalls Gehalt beziehen. Auch die Schicht der Beamten hat in der Neuzeit sehr zugenommen, sie ist durch die ungeheure Ausdehnung der Verwaltung bedeutend vermehrt worden, und wenn die Angestellten und Beamten zeitweise eine Gemeinsamkeit der Interessen mit den Arbeitern empfinden, so kommt es doch auch zwischen ihnen und jenen zu Gegensätzlichkeiten der Interessen. Welche bedeutsamen Unterschiede zwischen den Grundbesitzern bestehen, je nachdem es sich um rein landwirtschaftlichen Grundbesitz, um Waldbesitz, Weinbergbesitz oder um Grundbesitz in Bergbau und Fischerei handelt, läßt Marx selbst durchblicken, und so sehen wir schon, daß die moderne Gesellschaft keineswegs das ganz einfache Bild darstellt, wie es sich dem oberflächlichen Leser des Kommunistischen Manifestes zeigt: hier Bourgeoisie, hier Proletariat, und die Mittelschichten verschwinden.
Nein, die Mittelschichten verschwinden nicht, aber sie ändern ihren Charakter. Früher fühlte sich vielfach der Handwerksmeister den Arbeitern viel näher als den Großunternehmern, in denen er geradezu seine Feinde erblickte, die ihn durch kapitalistische Konkurrenz unterdrückten. Wir haben dann noch, was Marx nicht erwähnt, die Lebensfähigkeit des bäuerlichen Betriebes erkennen gelernt. Auf die Gründe dieser Lebensfähigkeit kann hier nicht eingegangen werden, ihre Tatsache wird überall durch die Statistik erwiesen. Im allgemeinen kann man sagen, daß der kleinbäuerliche Betrieb beim Getreidebau dem Großbesitz gegenüber nicht konkurrenzfähig ist, wo es sich um ebenen Boden handelt, der leicht mit der Maschine bearbeitet werden kann; daß dagegen das Verhältnis sich ändert bei hügeligem Boden, und ebenso ist das Verhältnis ein anderes bei der Viehzucht. Entscheidend ist hierbei, daß die Arbeit nicht ein rein physischer Prozeß ist, sondern daß sie auch seelische Momente umschließt, so daß die Arbeit des Kleinbauern, der sein eigenes Gut bewirtet, sein eigenes Vieh züchtet, einen anderen Charakter hat als die des Knechtes auf dem Gute des Großbauern und Großgrundbesitzers. Selbst in Industrie und Handel haben sich die kleinen und Mittelbetriebe nicht nur gehalten, sondern ihre Zahl noch vermehrt.
Zwischen allen diesen sozialen Schichten nun findet in der Tat ein mehr oder minder intensiver Klassengegensatz, ein Gegensatz der Interessen statt, und wo Gegensätze der Interessen sind, da gibt es auch jeweils mehr oder weniger heftige Kämpfe. Wo der Großgrundbesitz, namentlich der Latifundienbesitz, vorherrscht, gibt es Kämpfe der Bauern mit diesen Großgrundbesitzern. Es bilden sich demokratische Bauernparteien, die sich dadurch verkürzt fühlen, daß große Teile des Bodens in den Händen der Großgrundbesitzer sind. In fast allen Ländern haben da zeitweilig wirkliche Klassenkämpfe stattgefunden. In Deutschland liegen diese Kämpfe längere Zeit zurück, nachdem sich durch die Bewegung für Agrarzölle eine Interessensolidarität zwischen einem großen Teile der Bauern und den Großgrundbesitzern eingestellt hatte. Große und kleine Landwirte haben sich zusammen organisiert zum Kampf gegen die Händler und darüber hinaus eigentlich auch gegen die Verbraucher. Sie forderten hohe Zölle, um ihre Produkte nach ihrer Ansicht preiswert verkaufen zu können, und standen damit im Gegensatz zu der großen Masse der Verbraucher, die nicht selbst Produzenten sind. In Deutschland haben wir ferner eine Verbindung gehabt zwischen Industriellen und Landwirten, die große Koalition für einen beiden zugute kommenden Zolltarif.
Aber die Bevölkerung besteht in ihrer Mehrheit aus Verbrauchern, die nicht Unternehmer in der Produktion sind – Produzenten sind die Arbeiter ja auch, aber nicht Unternehmer –, sondern Verbraucher, ebenso sind Verbraucher die Lehrer, Beamten usw. Hier stellt sich ein Klassenkampf ein, der sich zwar nicht auf der Straße abspielt, sondern in den Parlamenten und in der Presse. Aber Kampf bleibt Kampf. Der Kampf der Landwirte gegen die Verbraucher, der Verbraucher gegen die Produzenten, der Handwerker gegen Handel und Großindustrie, alles das sind Klassenkämpfe. Diejenigen Handwerksmeister, die ihre Meisterherrlichkeit bewahren wollen durch das Mittel von Zwangsgesetzen, Zünften, Zwangsinnungen usw., kämpfen je nachdem einerseits gegen die Arbeiter, andererseits gegen den Handel. Sie suchen sich gegen diesen zu schützen, weil er sie nach ihrer Ansicht dadurch bedrückt, daß er ihre Produkte vermeintlich billiger auf den Markt bringt, als sie sie produzieren können. Ein latenter, d. h. sich nicht in der üblichen Form äußernder Klassenkampf liegt vor, wo die Großkapitalisten in der Industrie sich verbunden haben in Kartellen, er richtet sich gegen die Verbraucher, denn die Kartelle sind immer mit dem Zwecke verbunden, die Preise hochzuhalten. Daneben gibt es den Kampf der Kartelle gegen diejenigen Unternehmer ihres Industriezweiges, die ihnen nicht angeschlossen sind, gegen die sogenannten Außenseiter. Man weiß, zu welch scharfen Mitteln die Kartelle vielfach greifen, um die Außenseiter entweder zum Eintritt zu zwingen oder ganz lahmzulegen. Man kennt die Fälle, wo die Kartelle über die Außenseiter eine Art Boykott verhängt, wo sie ihnen den Bezug von Rohstoffen und Hilfsmitteln völlig verlegt haben, Mittel des Kampfes, die mindestens so scharf sind, wie sie die Arbeiter ihrerseits im Gewerkschaftskampf anwenden. Das sind Klassenkämpfe oder Teile von solchen in der modernen Gesellschaft, in den Schichten der Unternehmer und relativ selbständiger Bevölkerungsklassen selber. Es gibt dann noch Pseudoklassenkämpfe. Als Beispiel könnte ich erwähnen, daß im Weltkrieg verschiedene Leute bei uns, darunter ein bekannter – ich möchte ihn nicht nennen – Schriftsteller den Kampf Deutschlands gegen England als einen Klassenkampf hinstellten, wobei Deutschland der arme Proletarier und England der kapitalistische Ausbeuter sein sollte. Das war für die Kriegsstimmung ein sehr bestechendes Bild, aber es traf nicht zu. Denn soweit der Kampf Wirtschaftskampf war, war es nur ein Interessenkampf, nicht aber ein Klassenkampf. Wenn andererseits heute der Führer der polnischen Partei in Oberschlesien, Korfanty, in seiner Presse schreiben läßt, was in vielen Ländern auch Eindruck macht, sein Kampf sei der Kampf des polnischen Proletariats gegen das deutsche Kapital, so ist das ebenfalls nicht richtig. Wenn z. B. die große Mehrheit der Bergarbeiter in Oberschlesien Polen sind, so sind doch die meisten Metallarbeiter Oberschlesiens Deutsche. Auch sind viel polnisch sprechende Arbeiter Oberschlesiens für dessen Verbleiben bei Deutschland. Der dortige Kampf ist, auch wenn er hier und dort Arbeitern als Klassenkampf erscheint, im Wesen ein nationaler Kampf und nichts anderes.
Aber von allen diesen Klassenkämpfen, die sich heute in der Gesellschaft unter den verschiedensten Formen abspielen, zeitweise sehr heftige Gestalt annehmen und dann abflauen und zurückgedrängt werden von anderen Kämpfen, bleibt doch der größte Klassenkampf immerhin der Kampf zwischen der Klasse der Arbeiter, den Lohnempfängern, und der Klasse der Unternehmer. Die große Ausdehnung dieses Kampfes ist die natürliche Folge der großen Ausdehnung der modernen Industrie. Die Arbeiterklasse nimmt in der heutigen Gesellschaft einen immer größeren Raum ein, einen unendlich viel größeren als zu der Zeit, wo Lassalle schrieb. Im Jahre 1907 hatten wir in Industrie, Handel und Verkehr 17 Millionen Lohnarbeiter. Wo lebten diese Arbeiter? In überwiegender Zahl in den großen Städten und Industriezentren, dort gerade, wo das geistige und politische Leben der Nation am intensivsten pulsiert, während die Landwirtschaft meist von diesem Leben abgetrennt ist. In den Großstädten und Industriezentren nun spielen die Arbeiter eine wachsend einflußreiche Rolle; sie nehmen in der Bevölkerung einen immer größeren Raum ein und wirken dadurch allein schon sehr stark zurück auf das allgemeine Urteil und, je nachdem sie sich Rechte erkämpfen, später auch auf die Politik. Der Kampf der Arbeiterklasse vollzieht sich in verschiedenen Formen als Kampf um Einfluß und Macht in Staat und Gemeinden, um Einfluß auf Gesetzgebung und Verwaltung. Solange die Arbeiter eine kleine Schicht und noch nicht zu einem Klassenbewußtsein gelangt sind, ist davon wenig zu merken. Auch heute noch sind an kleinen Orten, wo die Zahl der Lohnarbeiter gering ist, oft die meisten davon politisch indifferent. Aber je mehr die Zahl der Arbeiter in den Zentren anwächst, um so mehr Anteil nehmen sie am öffentlichen Leben und fühlen das Bedürfnis, in Staat und Gemeinden vertreten zu sein und Einfluß und Macht zu gewinnen. Dieser Einfluß steigert sich mit der Zunahme demokratischer Einrichtungen, mit der Erweiterung des Wahlrechtes, das auf die Dauer den Arbeitern auch gar nicht vorenthalten werden kann. Selbst vor der Revolution schon haben bei uns in Deutschland die Arbeiter einen erheblichen politischen Einfluß ausgeübt. Abgesehen davon, daß man ihnen 1866 bei Gründung des Norddeutschen Bundes das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht gab, mußte man ihnen auch den Eintritt in die Gemeinden erleichtern. Schließlich ist auch die einst so feste Mauer des preußischen Dreiklassenwahlrechts vor ihrem Ansturm durchbrochen worden. Unter dem erweiterten Wahlrecht drangen sie in wachsender Zahl in die öffentlichen Körperschaften ein und, was fast noch wichtiger ist, durch ihre Stärke und Zahl und die Intensität ihres Kampfes erlangten sie auch einen bedeutenden Einfluß auf die große öffentliche Meinung. Man sprach in den Hörsälen, in den Parlamenten und in der Regierung ganz anders von den Bedürfnissen und Forderungen der Arbeiterklasse als vorher. Die Arbeiter setzten eine ganze Reihe wenn auch nicht revolutionärer aber doch in bezug auf ihre soziale Tragweite sehr bedeutungsvoller Reformen durch. Das ist die eine, die politische Form des Arbeiterkampfes. Wie er seinerzeit Marx erschien, war er wesentlich auf die Revolution gerichtet, worunter hier nicht eine soziale Änderung zu verstehen ist, die sich in den Dingen vollzieht, sondern daß eine Klasse durch Aufstand usw. sich an die Herrschaft setzt und die an ihr befindlichen Klassen verdrängt. Darauf zielte noch die Marxsche Bewegung ab, darauf mußte sie abzielen, denn als Marx schrieb, hatten die Arbeiter noch in keinem Lande das Wahlrecht. Sie mußten es erst erkämpfen, und nach Lage der Dinge schien es, als ob sie dieses Recht nur auf dem Wege gewaltsamer Revolution erkämpfen könnten. Nachdem es aber erkämpft war, was in den meisten Ländern auf andere Weise geschah, mußte sich ein ganz anderer politischer Kampf der Arbeiterklasse entwickeln. Zum Teil haben das Marx und Engels noch erlebt und dafür auch wachsendes Verständnis und Interesse gezeigt. Sie haben an den Wahlkämpfen der Arbeiterparteien geistig lebhaften Anteil genommen. Nicht erlebt haben sie aber die unsere Epoche auszeichnende stärkere Tätigkeit der Arbeiter in den öffentlichen Verwaltungskörpern, den Zwangsgenossenschaften, Gemeinden, Land, Reich, und in ihren eigenen freien Verwaltungskörpern. Es ist indes zweifellos, daß ohne die Erziehung zur Verwaltung der Einfluß des Proletariats in der Gesellschaft auf die Dauer nur begrenzt sein kann. Sie selbst aber konnte erst verwirklicht werden und ein Resultat sein einer mehr oder weniger demokratischen Entwicklung.
Die andere Form des Klassenkampfes der Arbeiter ist die des direkten Kampfes auf wirtschaftlichem Gebiet, der im wesentlichen geführt wird durch die Koalitionen der Arbeiter, die wir heute Gewerkschaften nennen, sowie auch Arbeitergenossenschaften, aber solche anderer Art, als sie in der Zeit bestanden, wo Marx schrieb. Der Koalitionskampf der Arbeiter gegen die Unternehmer ist in der Mehrheit der Fälle ein Kampf um Lohnhöhe und Lohnformen, er wird aber auch geführt um Länge und Anordnung der Arbeitszeit sowie um ein Arbeiterrecht, nämlich das Arbeiterrecht in den Betrieben usw. Diese Kämpfe spielen sich in der Frühzeit des Kapitalismus als rebellische Kämpfe ab. So schildert sie Marx noch in seiner Schrift Das Elend der Philosophie. Es tragen die Gewerkschaften da einen fast unmittelbar revolutionären Charakter. Das war in den vierziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts. Schon anders urteilt Marx über die Gewerkschaften zwanzig Jahre später in einem Briefe von 1868 an J. B. von Schweitzer, den damaligen Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, als dieser versuchte, in Deutschland Gewerkschaften zu organisieren. Marx kritisierte in dem Brief den Schweitzerschen Plan, der darauf hinauslief, die ganze Bewegung nach einem bestimmten fertigen Schema in einen großen Einheitskörper zusammenzufassen, und legt dar, das würde nicht angehen, der Plan würde auf viele Widerstände stoßen. Er sieht eben schon eine andere Gewerkschaftsbewegung mit regelrechten festen Berufsverbänden vor sich, drückt sich aber über ihren Wert nicht näher aus. Den Ansatz zu einer Theorie des Gewerkschaftskampfes finden wir überhaupt bei ihm noch nicht, sondern nur erst eine Würdigung der Tatsache dieses Kampfes als einer Regung des Proletariats für bestimmte Zwecke. In das eigentliche Wesen und die innere Natur des Gewerkschaftskampfes tiefer einzudringen war ihm versagt, weil zu seiner Zeit noch alles auf diesen Bezügliche im Werden und unentwickelt war.
Um die Frage, ob Gewerkschaften zweckmäßig seien oder nicht, haben damals und noch später große Kämpfe im sozialistischen Lager sich abgespielt. Es gab unter den Sozialisten sehr ernsthafte Gegner der Gewerkschaften überhaupt. In erster Reihe waren es die Utopisten, Leute, die in der Phantasie oder Spekulation ganze Pläne einer neuen Gesellschaft ausgearbeitet hatten und nur an deren Verwirklichung dachten. Für sie war der Klassenkampf der Gewerkschaften ein störendes Moment, außerdem waren die Objekte der Gewerkschaftskämpfe in ihren Augen Kleinigkeiten, die gegenüber dem Streben für die Idealgesellschaft nicht in Betracht kamen. So stellten sie sich den Gewerkschaften ablehnend gegenüber. Gewerkschaftsgegner waren auch die radikalen Sozialrevolutionäre, die man am besten als Blanquisten bezeichnet, und deren Bewegung in Frankreich zu Hause war. Es gab ebenso in England bei den Chartisten eine Richtung, welche auf den Umsturz durch die Revolution abzielte und der daher die Bewegung der Gewerkschaften gleichfalls störend war. Das heißt, Kämpfe der Arbeiter um Lohnerhöhungen waren ihnen nicht unangenehm, die haben sie gelegentlich selbst provoziert, um dadurch revolutionäre Erhebungen zu erzielen; um so weniger wollten sie dagegen von der langsamen systematischen Gewerkschaftsarbeit wissen und standen mit den fest konsolidierten Gewerkschaften meist in heftiger Fehde. Noch manche andere Sozialisten standen den Gewerkschaften fremd oder ablehnend gegenüber. So in Frankreich P. J. Proudhon, der geistreiche Verfasser der Schrift: Was ist das Eigentum? Er bekämpfte sie, weil er ein besseres Mittel zu haben glaubte. Er wollte die Wirtschaft auf dem Wege der demokratischen Organisation des Kredits und der Mutualität im Sinne des Sozialismus umwandeln. In Deutschland war von Sozialisten ein Gegner der Gewerkschaften Ferdinand Lassalle. Sein Vorschlag war, durch staatlich finanzierte Produktivgenossenschaften die Arbeiter vom Druck des Kapitals zu befreien. Er wollte, wie er sich ausdrückte, die deutschen Arbeiter bewahren vor dem Elend der englischen Gewerkschaftsbewegung. Ein anderes Wort von ihm lautet: „Der Gewerkschaftskampf der Arbeiter ist der vergebliche Kampf der Ware Arbeit sich als Mensch zu gebärden.“ Daß Lassalle zu dieser Ansicht kam, erklärt sich daraus, daß die englische Gewerkschaftsbewegung zu seiner Zeit – in Deutschland gab es bloß unbedeutende örtliche Versuche – anscheinend fast nur Verluste zu verzeichnen hatte. Im Jahre 1852 hatte sich in England ein großer Kampf der Maschinenbauer abgespielt, der damals stärksten Gewerkschaft, und viele Arbeiterfreunde hatten sich für ihn erwärmt, die christlichen Sozialisten von der Richtung Maurice und Kingsley hatten ihm reiche Geldmittel zugewandt. Trotzdem ging er nach mehrwöchentlicher Dauer verloren. Lassalle hatte ihn, wie wir aus einem Brief von ihm an Marx wissen, mit großem Interesse verfolgt, und sein Fehlschlag scheint großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Er befestigte ihn in der Auffassung vom wirtschaftlichen Naturgesetz des Arbeitslohnes, wonach dieser auf die Dauer bestimmt wird durch die unbedingt notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeiters, daß er nie lange über dieses notwendige Maß sich erhebt, weil dann die Vermehrung der Arbeiter durch verstärkte Zunahme der Geburten usw. ihn zurückwerfen würde, und andererseits auf die Dauer nicht tief unter ihm bleiben kann, weil dann die Arbeiter auswandern, aussterben usw. würden. So mußte ihm denn natürlich der Gewerkschaftskampf als vergebliches Bemühen erscheinen, wenn er auch im letzten Jahre seines Lebens sich noch sehr begeisterte für einen Kampf von Arbeitern einer Hamburger Wagenbaufabrik. Er spricht davon in seiner letzten, der sogenannten Ronsdorfer Rede und rühmt es als einen Beweis für die Rührigkeit seiner Anhänger, daß es solche waren, die bei diesem Kampf sich hervorragend betätigt hatten. Indes war das doch noch keine Anerkennung der Gewerkschaften selbst, und wie die Schüler stets orthodoxer sind als die Meister, so gab es bei den Lassalleanern lange Zeit erregte Diskussionen darüber, ob Gewerkschaften überhaupt sein sollen oder nicht. Im Jahre 1868 nahm Lassalles begabtester Nachfolger, J. B. von Schweitzer, die Frage auf, nachdem vorher schon die bürgerlich-demokratische Fortschrittspartei durch ihr Mitglied Dr. Max Hirsch und ebenso die mit der Internationale in Verbindung stehenden Sozialisten von der Richtung August Bebel und Wilhelm Liebknecht den Gedanken propagiert hatten. Es ging damals durch Deutschland eine starke Bewegung zur Gründung von Gewerkvereinen, doch gab es in den Reihen ihrer Anwälte große Unterschiede hinsichtlich der Zwecke und der Formen. Dr. Max Hirsch wollte die Gewerkvereine als Mittel zur Herstellung dieser wahren Harmonie von Kapital und Arbeit, das heißt Milderung des Klassenkampfes, Schweitzer und ebenso Bebel und Genossen wollten sie im Gegenteil als Hilfstruppen zur Führung und womöglich Verschärfung des Klassenkampfes, nur die orthodoxen Anhänger der Lehren Lassalles stemmten sich gegen ihre Einführung. Die mit den Fortschritten der industriellen Entwicklung Deutschlands verbundene Vermehrung und Vergrößerung der Industriezentren sprachen das entscheidende Wort. Die noch bestehenden Verbote der Koalitionen der Arbeiter mußten fallen, und Gewerkvereine der verschiedenen Richtungen traten ins Leben.
Allerdings blieben sie längere Zeit auf mäßige Mitgliederzahlen beschränkt und blieben daher in bezug auf die Erfolge ihrer Kämpfe noch völlig abhängig von den Konjunkturen des Marktes. Bei steigender Konjunktur erzielten sie Verbesserungen für die Arbeiter, die aber sofort wieder verloren gingen, wenn eine Geschäftsstockung eintrat. Die Lohnkurve bewegt sich einfach im Zickzack, ein Zustand, bei dem die Arbeiterklasse sich weder materiell verbessert, noch ihren Anteil an der Kultur hebt. Aber die Bewegung bleibt und sucht nun nach möglichst zweckmäßigen Formen, wie das seinerzeit auch in England geschah. Es spielen sich innere Kämpfe darüber ab, wie die Organisationen aufgebaut werden sollen, ob mehr zentralisiert oder mehr föderalistisch, beziehungsweise lokalistisch, ob die Gewerkschaft verknüpft werden soll mit Unterstützungseinrichtungen, oder ob sie eine reine Klassenkampforganisation sein soll. Der Streit darüber spielt lange Zeit in der Arbeiterbewegung und löst zeitweilig starke Leidenschaften aus. Es geht bei ihm manchmal nicht minder heftig zu als heute, und mitunter fehlt auch nicht Gewalttätigkeit.
Nachdem die Kriegsära und die Jahre des Ausnahmegesetzes vorüber waren, wurde in Deutschland der Streit, ob lokalisierte oder zentralisierte Gewerkschaften, zum Austrag gebracht. Die lokalistischen Gewerkschaften unterlagen. An einzelnen Orten behielten sie einen gewissen Anhang bei den Arbeitern des Baugewerbes, im übrigen aber siegte bei den auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden Gewerkschaften das zentralistische Prinzip. Die zentralistischen Gewerkschaften nun sind zumeist verbunden mit Unterstützungseinrichtungen, die ihnen die organisatorische Festigkeit geben. Wo sie diese Einrichtungen nicht haben, gewinnen Gewerkschaften fast nur in Zeiten guten Geschäftsganges und erfolgreicher Lohnkämpfe Anhänger, und strömt, nachdem diese vorüber, ein großer Teil der gewonnenen Mitglieder wieder ab und verliert das Interesse an ihnen. Je mehr Unterstützungseinrichtungen die Gewerkschaft hat, um so fester ist der Zusammenhalt. Allerdings nimmt sie dadurch einen etwas konservativen Charakter an, aber sie erzielt dafür größere Wirkungen und kann durch ihre Festigkeit den Unternehmern Arbeitstarife abnötigen, die eine mehr oder weniger lange Dauer haben. Die Tarifbewegung hat denn auch in Deutschland einen sehr großen Aufschwung genommen. In England längst bekannt, ist sie hier längere Zeit wenig beachtet worden. Als aber bei uns im Jahre 1903 zum ersten Male eine Erhebung der in Kraft befindlichen Tarife veranstaltet wurde, die von 1903 bis 1905 sich ausdehnte, stellte sich heraus, daß Deutschland schon 1.577 solche Tarife hatte, auf Grund deren 477.000 Arbeiter beschäftigt wurden. Die Lohnkämpfe hatten also schon in weitem Umfange jene Gestalt angenommen – den Kampf um den Tarif –, die ihnen statt des mehr anarchischen einen konsolidierten Charakter verlieh und allmählich auch den Unternehmern zusagte. Hatten diese einmal einen Tarifvertrag abgeschlossen, so konnten sie darauf rechnen, für die Zeit seiner Dauer von jedem ernsteren Lohnkampf verschont zu bleiben und daher mit größerer Sicherheit ihre geschäftlichen Kalkulationen machen.
Schrittweise haben sich dann die Tarife nicht nur der Zahl der von ihnen betroffenen Unternehmen und Arbeiter, sondern ihrer ganzen Form nach vervollkommnet. Sie erstreckten sich auf viel weitere Fragen als nur auf die Lohnhöhe. Mindestens ebenso wichtig wie der Lohn ist für den Arbeiter die Arbeitszeit, dann aber auch seine Rechtsstellung im Unternehmen, die durch den Tarif verschiedentlich gleichfalls geregelt ward. Der Arbeiter ist nicht nur abhängig vom Unternehmer, sondern auch von dessen Beamten wie Werkführer, Aufseher usw. Vor Anfang der kapitalistischen Produktion trat der Arbeiter bei der Arbeitssuche schlechthin in die Werkstatt ein und fand einen Meister, der kaum einer anderen Gesellschaftsklasse angehörte als er selbst. Er wurde begrüßt, bekam sein sogenanntes Geschenk und ward nicht selten aufgefordert, an der gerade bevorstehenden Mahlzeit teilzunehmen. Ohne sich irgendwie zu degradieren, konnte er von Werkstatt zu Werkstatt nach Arbeit suchen. Aber je größer die Produktionsstätten der Industrie wurden, um so veränderter nahm sich die Arbeitssuche aus. Mit der Mütze in der Hand stand der Arbeiter vor der Fabrik und wurde schon vom Türhüter schief angesehen. Die Form der Arbeitssuche und Arbeitsvermittlung erhält durch die moderne Industrie also eine große Bedeutung nicht nur unter wirtschaftlichem, sondern auch unter dem sozialen Gesichtspunkt. Auch Bestimmungen hierüber kamen allmählich in die Tarife hinein. Wenn man heute sich einen Tarif zwischen Arbeitern und Unternehmern eines bestimmten Gewerbes geben läßt, so wird man oft über seinen Umfang erstaunt sein. Der erste größere deutsche Tarif, der Tarif der Buchdrucker, war bald ein ganzes Gesetzbuch und ein ziemlich dickes Gesetzbuch obendrein. Es werden darin alle Einzelheiten über Lohnhöhe, Arbeitszeit, Kündigung, Schlichtung von Streitigkeiten usw. geregelt. Die Zahl der Tarife der Gewerkschaften stieg bis 1913 auf 10.885 für zusammen über 143.000 Betriebe mit rund 1.400.000 Arbeitern. Während des Krieges nimmt sie etwas ab. Aber kaum ist dieser vorüber und die Revolution da, so steigt sie nicht nur sofort wieder, es nimmt auch unter dem Einfluß der Revolution ihr Geltungsgebiet bedeutend zu. Schon im Jahre 1919 waren es 11.000 Tarife für 272.000 Betriebe mit rund 6 Millionen Arbeitern. Heute ist die Zahl noch größer, und größer auch ihre Wirkungskraft. Zugleich erhoben sich freilich neue Probleme.
Im letzten Jahre des Krieges hatte man unter dem Einfluß der Regierung Arbeitsgemeinschaften zwischen den Organisationen der Arbeitgeber und der Arbeiter gebildet, die eine stärkere Form des Tarifvertrags waren und eine Art Interessengemeinschaft zwischen den Organisationen der Unternehmer und denen der Arbeiter schufen. Dadurch erhielten die organisierten Arbeiter ein Interesse am Steigen der Preise, das nicht ohne seine volkswirtschaftlichen Bedenken war. Zugleich schienen sie eine Abschwächung des Klassenkampfes der Arbeiter anzuzeigen und wurden deshalb von extrem gerichteten Sozialisten heftig bekämpft. Handelte es sich um vereinzelte Organisationen besonders günstig gestellter Arbeiter, so wäre die Gegnerschaft nicht unbegründet. Bei dem umfassenden Charakter, den die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland trägt und ihrer einheitlichen Zusammenfassung im Allgemeinen Gewerkschaftsbund ist die ihr zugrunde liegende Furcht sehr übertrieben. Die Abschwächung bezieht sich da nur auf die äußere Form des Kampfes. Im Wesen der Sache bedeutet es einen nicht geringen Aufstieg der Arbeiter in ihrem sozialen Recht, als organisierte Klasse von den Unternehmern anerkannt zu werden, was selbst in den machtvollen Zweigen der großen Industrien der Fall ist, in die die Gewerkschaft vor dem Kriege nicht einzudringen vermochte.
Viel Streit ist auch darüber geführt worden, ob die Tarife kurz oder langfristig sein sollen. Den radikalen Sozialisten waren die langfristigen, über mehrere Jahre sich erstreckenden Tarife ein Greuel. Der kurzfristige Tarif bot ja den Vorteil, daß der Arbeiter durch ihn nicht gebunden ist, wenn eine gute Konjunktur eintritt, sondern daß er dann höheren Lohn erkämpfen kann. Das ist soweit richtig, vergessen wird nur, daß der Arbeiter dabei doch wiederum abhängig bleibt von der Konjunktur. Denn läßt die Konjunktur nach, so verliert er eben das Erlangte wieder. Er kann den höheren Lohn nur während der guten Konjunktur aufrechterhalten, während mittels langfristiger Tarife die Arbeiter sich über die schlechte Konjunktur hinweghelfen können. Das aber muß gerade ihr Bestreben sein, sich freizumachen vom Druck der Konjunktur und eine Stetigkeit der Lohnentwicklung zu erlangen, die einen Aufstieg ihres ganzen kulturellen Daseins verbürgt. Zum Teil ist das auch durch die Gewerkschaften schon erzielt worden. Sie umfassen in Deutschland heute rund 9 Millionen Arbeiter, und durch ihre feste Organisation bilden sie eine Mauer gegenüber der Rückwirkung der Konjunkturschwankungen auf die Lohnhöhe. Sogar schon vor dem Krieg ist es dem deutschen Bauarbeiterverband gelungen, mitten in einer Krisis einen Vertrag mit den Unternehmern abzuschließen, worin festgelegt wurde, daß in keinem Betriebe eine Herabsetzung der Löhne eintreten soll. Das ist kaum in England jemals passiert und war ein ganz bedeutendes Ereignis innerhalb der Arbeiterbewegung. Man kann einen echten Tarif einer starken Gewerkschaft schon bezeichnen als ein wirkliches Stück Teilhaberschaft an der Industrie, das viel bedeutungsvoller ist als die sogenannte Gewinnbeteiligung am Privatunternehmen, zumal wenn ihm zur Seite geht die Erkämpfung der politischen Demokratie.
In Betracht kommen für den Klassenkampf auch die Konsumgenossenschaften der Arbeiter, die als solche in Deutschland verhältnismäßig jungen Datums sind, sich aber schnell zu großer Bedeutung entwickelt haben. Schon vor dem Kriege haben sie hier angefangen, das zu werden, was sie in England schon längere Zeit waren, ein Hilfsmittel der Arbeiter im Gewerkschaftskampf gegen die Unternehmer. Wo die Arbeiterkonsumgenossenschaften stark ausgebildet sind, was allerdings nur dort geschehen kann, wo die Arbeiterklasse zu einer gewissen zahlenmäßigen Stärke gediehen ist, sind sie der Arbeiterschaft eine Stütze in ihren wirtschaftlichen Kämpfen und haben die Tendenz, zur Eigenproduktion überzugehen. Es ersteht eine genossenschaftliche Produktion, die nicht die Produktivgenossenschaft ist, wie Lassalle sie geistig vor sich sah und die auf Profit abzielte, sondern von Konsumgenossenschaften eingerichtete Betriebe, die von diesen als Vertretern einer Gesamtheit im Interesse der Gesamtheit geleitet werden.
Alle diese Bewegungen sind Formen des Klassenkampfes der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft. Zusammen bilden sie einen organisierten Kampf, der jeweilig wenig revolutionär erscheint und in seinen Äußerungen durchaus nicht immer die traditionellen Formen von wirtschaftlichen oder politischen Kämpfen annimmt, der aber in sich die Möglichkeit trägt einer wahrhaft sozialen Befreiung der Arbeiterklasse.
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Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008