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Das Kommunistische Manifest und die Formel von der Diktatur des Proletariats – Das Aufkommen des Bolschewismus – Seine Vorgänger, die Utopisten der sozialistischen Revolution – Das reformistische Element im Marxismus – Marx bindet den Sieg des Sozialismus an eine ökonomische Reife – Der Bolschewismus will die Reife mit der Gewalt erzwingen – Sein Aberglauben an die Schöpferkraft der Gewalt – Trotzkis Reitenlernen auf dem Rücken der Nation – Der Marxismus zeigt die Grenzen des Willens auf, der Bolschewismus ignoriert sie – Stümpernde Experimentiererei – Die Nachahmung des zarischen Despotismus – Die Blutschuld des Bolschewismus
Was sind die Grundgedanken der Doktrin, die wir als Bolschewismus kennen gelernt haben? Worauf fußt sie?
Im ersten Band seines großen Werkes Das Kapital schildert Karl Marx im 25. Kapitel, sechster Abschnitt, der sich mit der Genesis der industriellen Kapitalisten befaßt, die verschiedenen Methoden der sogenannten „ursprünglichen Akkumulation“ des Kapitals, d. h. der ursprünglichen Bildung von Kapital. Gegenüber den Darstellungen der bürgerlichen Ökonomen, welche die Bildung von Kapital auf „Ersparnis“, beziehungsweise Sparen zurückführen, weist Marx nach, daß das Kapital auf ganz andere Weise entstanden ist, und schreibt hinsichtlich der Methoden dieser wirklichen ursprünglichen Akkumulation des Kapitals:
„In England werden sie am Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt in Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernem Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhen zum Teil auf brutalster Gewalt, wie das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie ist selbst eine ökonomische Potenz.“
Der hier gesperrte Schluß dieses Satzstücks hat in der sozialistischen Bewegung unserer Zeit bei Parteien, die ihre theoretische Erkenntnis direkt von Marx ableiteten, eine eigenartige Rolle gespielt. Von französischen Sozialisten, die sich Marxisten nannten, und deren einer Führer Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, der andere, Jules Guesde, mit Marx befreundet war, ward er in dogmatischer Auslegung als Beweis dafür propagiert, daß alle sozialistische Tätigkeit auf die Eroberung der politischen Macht durch Revolutionsgewalt abzielen müsse. Es ist aber zu bemerken, daß Marx in dem Satz einfach eine geschichtliche Tatsache konstatiert, aber keine Formel für die unmittelbare Anwendung aufstellt. [7]
Aus dieser Feststellung einer geschichtlichen Tatsache macht indes die Fraktion der russischen Sozialisten, die sich Bolschewiki nennen, einen Imperativ der ganzen sozialistischen Politik: Wir müssen die Gewalt haben, um die neue Gesellschaft zu errichten, anders geht es nicht, unser ganzes Sinnen und Trachten muß auf die Eroberung der politischen Macht gerichtet sein. Eine Auffassung, die sich freilich auf bestimmte Stellen im Kommunistischen Manifest stützen konnte. Dort heißt es z. B. am Schluß, wo von der Erringung der politischen Macht durch das Proletariat die Rede ist:
„Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.
Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.
Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittels despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Laufe der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind.“
Dann werden eine Reihe von Maßnahmen aufgezählt, die gewissen Maßnahmen des Bürgertums in früheren Revolutionen entsprechen. Im weiteren berufen die Verfechter der geschilderten Denkweise sich auf eine Stelle in dem Brief von Karl Marx über den Entwurf zum Einigungsprogramm der deutschen Sozialdemokratie von 1875, dem Entwurf des Gothaer Programms. Dort sagt nämlich Marx:
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Ihr entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“
Auch dieser Satz wird von den Bolschewisten, wie man das Wort Bolschewiki ins Deutsche übernommen hat, dogmatisch ausgelegt. Diese Partei, die heute als Partei der russischen Kommunisten an der Spitze der dritten oder kommunistischen Internationale steht, hat sich früher auch Partei der Maximalisten genannt. Im Streit der russischen Marxisten untereinander hatten sich zwei Richtungen ausgebildet: die eine wollte den Kampf der Sozialdemokratie Rußlands mit einem Programm sozialistischer Mindestforderungen („Minimumprogramm“) führen, ähnlich wie es seinerzeit die französischen Marxisten mit einer für sie von Marx verfaßten Einleitung ausgearbeitet hatten, die anderen vertraten den Standpunkt, man müsse ein Maximum von Forderungen aufstellen und es der Bewegung als eine Art Fanal ständig vorhalten. Von diesen zwei Richtungen ist die letztere eben die der Bolschewisten, während die erstere Fraktion oder Partei der Menschewisten genannt wird – Benennungen, die den Begriffen mehr und minder entsprechen, die man teils auf die Höhe der Forderungen, teils auf das Zahlenverhältnis der Anhänger bezieht. Der Streit lief zum großen Teil in ein scholastisches Ausspielen von Aussprüchen von Marx aus, wobei die eine Seite die Tatsache ignorierte, daß die ganze Marxsche Lehre vornehmlich Entwicklungslehre ist und Marx selbst im Laufe der Jahre eine Entwicklung durchgemacht hat. Engels hat wiederholt anerkannt, daß ihm und Marx in der ersten Epoche ihres Schaffens bedeutungsvolle Irrtümer über Schnelligkeit und den Gang der Entwicklung unterlaufen sind. Ist dadurch aber die Marxsche Lehre selbst abgetan? Sicherlich nicht. Das Große, Bleibende am Marxismus, was über allen Einzelanwendungen steht, ist eben die Tatsache, daß der Marxismus der sozialen Entwicklungslehre eine neue, in ihrem Hauptgedanken, der Theorie vom bestimmenden Einfluß der Produktionsweise, unerschütterte Grundlage gegeben hat. Marx hat den organischen Entwicklungsgedanken seiner Lehre wiederholt sehr bestimmt zum Ausdruck gebracht. So im Vorwort zu seiner 1859 erschienenen Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie, so aber auch 1866 im Vorwort zum Das Kapital. Im letzteren sagt Marx, was sehr bemerkenswert für seine Anschauungsweise ist, selbst den herrschenden Klassen der Gegenwart dämmere die Erkenntnis auf, daß die jetzige Gesellschaft „kein fester Kristall“, sondern „ein umwandlungsfähiger und ständig in der Umwandlung begriffener Organismus“ sei.
Hier ist der Gegensatz der Grundanschauungen angezeigt, der die große Mehrzahl der sozialdemokratischen Parteien unserer Tage von der Partei der Bolschewisten und ihren westeuropäischen Nacheiferern unterscheidet.
Die bolschewistische Partei ist hervorgegangen aus der marxistischen Schule des russischen Sozialismus, wobei es bemerkenswert ist, daß gerade die drei Persönlichkeiten, die man als die eigentlichen Stifter dieser Schule bezeichnen kann, der verstorbene Georg Plechanow, die soeben verstorbene Vera Sassulitsch und der noch lebende Paul Axelrod, Gegner der Bolschewisten waren beziehungsweise Axelrod ein solcher ist. Wenn ich oben bemerkte, daß die Bolschewisten bei ihrer Berufung auf Marx vielfach scholastisch vorgehen, so will ich hinzufügen, daß ich als Scholastik diejenige Geistesrichtung oder Geistestätigkeit betrachte, die darauf gerichtet ist, für schon feststehende Lehrsätze oder Gedanken die Beweise oft mit erzwungenen Deutungskünsten deduktiv zu erbringen, wobei das induktive Moment, die Prüfung an den Tatsachen, außerordentlich zu kurz kommt, wenn es nicht ganz unerörtert bleibt. Nun ist gerade die wesentliche Eigenschaft der sozialen Entwicklungslehre von Marx und Engels, daß sie den Ton legt auf den engen, man kann hier mit größtem Recht sagen, auf den organischen Zusammenhang des Politisch-Sozialen mit den Tatsachen der ökonomischen Entwicklung, das heißt, der Produktionsverhältnisse. Von diesem Standpunkt aus haben die Verfasser des Kommunistischen Manifests, so revolutionär sie für ihre Zeit dachten und wie rückhaltlos sie für die kommunistischen Ideen des vorgeschrittenen Flügels der Arbeiterbewegung ihrer Tage Partei ergriffen hatten, doch schon, als sie ihre Theorie ausarbeiteten, Stellung genommen gegen radikale Sozialisten ihrer Tage, die für revolutionäre Kommunisten galten, tatsächlich aber nur Anspruch hatten auf die Bezeichnung als Utopisten der sozialistischen Revolution. Zu ihnen gehörte der unzweifelhaft begabte, aber wissenschaftlich ungeschulte deutsche Kommunist Wilhelm Weitling, der Verfasser der Schrift Garantien der Harmonie und Freiheit, die 1842 erschien und von Marx als sehr beachtenswert begrüßt wurde, was aber nicht hinderte, daß Marx später sich scharf gegen Weitling wandte, als dieser in seiner Agitation den Arbeitern mit übertriebenem Radikalismus den Kopf verdrehte. Es ist das deshalb von Interesse, weil Weitlings Ideen mit vielen Schlagworten Ähnlichkeit haben, die heute von Anhängern des Bolschewismus den Arbeitern gepredigt werden.
Im Winter 1846/47 kam Weitling nach Brüssel, wo Marx und Engels damals lebten und ihre große Theorie ausarbeiteten und polemisch verfochten. Bei einem Besuch, den Weitling Marx machte, war der russische Schriftsteller Annienkoff zugegen, und er schildert in seinen Erinnerungen einen heftigen Zusammenstoß zwischen Marx und Weitling. Weitling, der aus der Arbeiterklasse hervorgegangen war, berief sich Marx gegenüber wesentlich darauf, wie überhaupt auf die Gefühlsseite seiner Theorie, und es ist bemerkenswert, wie energisch Marx nach Annienkoff Weitling gegenüber die Unerläßlichkeit konkreten wissenschaftlichen Denkens betonte und einmal mit der Faust auf den Tisch schlagend wütend ausrief: „Noch niemals hat Unwissenheit jemandem genützt!“
Vier Jahre darauf, nach der Revolution, kam Marx in Konflikt mit seinen früheren Kampfgenossen, die in ähnlicher Weise wie Weitling sich auf das Gefühl und den Willen beriefen. Es war das die von Karl Schapper und A. Willich geführte Fraktion des Kommunistenbundes. Der Gegensatz wiederholte sich in den Jahren 1870 bis 1872 in der Internationalen Arbeiterassoziation in dem Kampf von Marx gegen den russischen sozialistischen Revolutionär Michael Bakunin, den, und noch mehr dessen – ich kann nicht sagen „Schüler“ und nicht einmal „Genossen“, obwohl er auf Bakunin großen Einfluß ausübte, aber – zeitweiligen Mitkämpfer Bakunins, den Studenten Netschajeff, der als ein Vorläufer des Bolschewismus bezeichnet werden muß. Seine Ideen sind dargelegt und kritisiert in der wesentlich von Friedrich Engels in Übereinstimmung mit Marx verfaßten Schrift: Ein Komplott gegen die Internationale. Mit äußerster Schärfe wendet diese sich namentlich gegen den Revolutionsromantismus von Bakunin, den Netschajeff noch ins Extrem übertrieben hatte, so daß eine Art Sozialismus im Sinne von Rinaldo Rinaldini herauskam. Bakunin hatte speziell die russischen Räuber verherrlicht und war soweit gegangen, zu erklären, man müsse die Zuchthäuser öffnen, wenn man Revolution mache. Eine Spekulation auf Elemente, die ohne Rücksicht auf Theorie und Moral usw. schlechthin sich in Gegensatz zur geordneten Gesellschaft stellten. Die Abweisung solcher Phantasien und die Betonung des Zusammenhanges der Entwicklung zum Sozialismus mit der Entwicklung der Wirtschaft im allgemeinen, das heißt zuletzt der Produktionsweise, ist der maßgebende Gedanke der Marxschen Lehre. Hierfür ist der schon zitierte Satz aus dem Vorwort zu Das Kapital, daß die jetzige Gesellschaft – die Gesellschaft der liberalen Ökonomie, „kein festes Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und einem ständigen Prozeß der Umwandlung unterworfener Organismus“ ist, viel wichtiger als mancher andere Satz, der oft zitiert wird. In Das Kapital sagt Marx an einer anderen Stelle, wo er von der Fabrikgesetzgebung spricht und die Wirkung des Zehnstundentages auf die Baumwollarbeiter von Lancashire schildert:
„Dennoch hatte das Prinzip [8] gesiegt mit seinem Sieg in den großen Industriezweigen, welche das eigenste Geschöpf der modernen Produktionsweise. Ihre wundervolle Entwicklung von 1853 bis 1860, Hand in Hand mit der physischen und moralischen Wiedergeburt der Fabrikarbeiter schlug das blödeste Auge.“
Und im Zusammenhang mit dem vorher zitierten Satz im Vorwort sagt Marx:
„In England ist der Umwandlungsprozeß (der soziale Umwandlungsprozeß) mit Händen zu greifen. Auf einem gewissen Höhepunkt muß er auf den Kontinent rückschlagen. Dort wird er sich in brutaleren oder humaneren Formen bewegen, je nach dem Entwicklungsgrad der Arbeiterklasse selbst. Von höheren Motiven abgesehen, gebietet also den jetzt herrschenden Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller gesetzlich kontrollierbaren Hindernisse, welche die Entwicklung der Arbeiterklasse hemmen. Ich habe deswegen u. a. der Geschichte, dem Inhalt und den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so ausführlichen Platz in diesem Bande eingeräumt. Eine Nation soll und kann von der anderen lernen.“
Auch das zeigt, darf ich sagen, einen stark reformistischen Einschlag in der dem Gedankengang nach revolutionären Lehre von Marx. Je weiter er in der geistigen Entwicklung fortschreitet, um so mehr findet bei ihm der Gedanke des Zusammenhanges zwischen der ökonomischen Entwicklungshöhe und den Möglichkeiten der politischen und rechtlichen Eingriffe genaueren Ausdruck. Im Jahre 1875 sagt er in seinem Brief über den Entwurf des Gothaer Programms der damaligen geeinten Sozialdemokratie:
„Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.“
Beim Bolschewismus nun – ich betone nochmals: in seiner Doktrin! – wird alles das ignoriert oder umgangen. Der Bolschewismus stützt sich entweder auf das Kommunistische Manifest mit seinen lapidar zugespitzten, aber der Frühperiode von Marx und Engels angehörigen Aussprüchen, wo diese sich darin gefielen „à épater le bourgeois“ – dem Bürgersmann etwas Verblüffendes zu sagen. Oder er gibt späteren Aussprüchen von Marx unter Herausreißung aus dem Zusammenhang die ungeschlachteste und vergröberteste Auslegung. So sagt Marx im vorletzten Kapitel des ersten Bandes von Das Kapital, der die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation kennzeichnet:
„Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt [nämlich im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung. Ed. B.], wo sie unerträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropiateurs werden expropriiert.“
Also wenn die Entwicklung selber unverträglich wird mit der kapitalistischen Hülle, dann werden die Expropriateurs – Marx nennt die Kapitalisten „Enteigner“, weil in der Konkurrenz die großen Kapitalisten die kleinen enteignen –, enteignet, expropriiert. Aus diesem, eine geschichtliche Perspektive zeichnenden Satz haben Bolschewisten den Spruch gemacht: „Beraubt die Räuber!“ und Arbeiter haben das buchstäblich genommen und vielfach in drastischer Anwendung befolgt. Die Unternehmer werden schlechthin, statt als ökonomische Enteigner, als moralische Stehler, als Diebe hingestellt. Dies in direktem Gegensatz zu Marx, der im Vorwort zu Das Kapital, wo er ausführt, daß in dem Buch Kapitalist und Grundeigentümer nicht sehr gut davonkommen, nicht im rosigen Lichte erscheinen, ausdrücklich sagt:
„Es handelt sich aber da um eine Personifikation ökonomischer Kategorien. Weniger als der jedes anderen kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“
In jeder Hinsicht, sage ich, hat in diesen Punkten die bolschewistische Doktrin die Marxsche Lehre vergröbert, man könnte sagen: barbarisiert. Die geschichtliche, also bis zu einer bestimmten Höhe der wirtschaftlichen Entwicklung notwendige Funktion des Unternehmers als treibendes Agens der Produktion ist bei ihr ausgelöscht – auch dies wiederum im Widerspruch mit Marx, der im dritten Band seines Buches Das Kapital, den allerdings die wenigsten gelesen haben, in einem der letzten – dem 24 – Kapitel, das von den Einkommensquellen handelt, auseinandersetzt, daß Mehrarbeit überhaupt als Arbeit des Arbeitenden über das Maß der gegebenen Bedürfnisse hinaus immer bleiben müsse, und daran den schon zitierten Satz fügt:
„Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, daß es diese Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung vorteilhafter sind als unter den früheren Formen der Sklaverei und der Leibeigenschaft.“
Marx zeigt also wiederum, daß das Kapital, so scharf er es sonst angreift, wichtige, den Fortschritt fördernde, er sagt ausdrücklich zivilisatorische Funktionen erfüllt in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.
Über all das und die sich daraus für die Wirtschaftspolitik ergebenden Folgerungen hat sich der Bolschewismus kühl hinweggesetzt und die Gewalt als Allschöpferin behandelt. Bei führenden Bolschewisten findet man in einer gewissen Steigerung – mehr noch als bei Lenin bei Bucharin, Sinowieff und anderen – Sätze, wo der Gewalt einfach die Zauberkräfte von Allheilmitteln zugeschrieben werden. Man brauche nur die Gewalt zu haben, dann könne man die Entwicklung nach seinem Willen lenken! Hier einige Beweise dafür:
Marx sagt – das ist auch wieder wichtig – 1859 im Vorwort zu dem Buch Zur Kritik der politischen Ökonomie:
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“
Im Vorwort zum ersten Band Das Kapital liest man:
„Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekreditieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“
So Marx. Nun nehme man die Schrift von N. Bucharin: Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki) zur Hand. Dort wird frischweg die sozialistische Revolution durch Diktatur der Arbeiterklasse in Rußland, diesem im ganzen noch wenig entwickelten Lande, als eine Sache der unmittelbaren Gegenwart mit der Bemerkung verkündet: „Diktatur der Arbeiterklasse bedeutet die Staatsmacht der Arbeiterklasse, die die Bourgeoisie und die Gutsbesitzer erwürgt“ und gleich darauf:
„Diese Macht der Arbeiter kann nur aus der sozialistischen Revolution der Arbeiterklasse erwachsen, die den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Macht zerstört.“
Und das ist geschrieben in einem Lande, das bekanntlich einen bürgerlichen Staat überhaupt noch nicht gehabt hat! Des weiteren heißt es, die Diktatur müsse „eisern“ sein, ein Wort, das, wie in dieser Schrift, überhaupt unzählige Male in der Literatur des Bolschewismus wiederkehrt und in brutalstem Sinne gedeutet wird. Einige Seiten darauf liest man:
„Wir sehen nun, daß eine Verletzung jeglicher Freiheiten in Beziehung auf die Gegner der Revolution notwendig ist. Es kann in der Revolution keine Freiheiten für die Feinde des Volkes und der Revolution geben.“
Als Feinde der Revolution werden aber nicht nur alle bürgerlichen Parteien unterschiedslos hingestellt, sondern auch diejenigen Sozialisten (Menschewisten und Sozialrevolutionäre), die auf einem anderen Standpunkt stehen als die Bolschewisten. Es ist der extremste Terrorismus, den man sich denken kann. In der Schrift von Leo Trotzki Die Sowjetmacht und der Internationale Imperialismus – ein Vortrag, den Trotzki vor ungeschulten russischen Arbeitern gehalten hat – liest man:
„In der Mitte aber würden die Politiker stehen, die sich bald nach links, bald nach rechts drehen. Das sind die Vertreter der Menschewiki und der rechtsstehenden Sozialrevolutionäre; sie würden sagen: ‚Die Macht muß zur Hälfte geteilt werden.‘“
Das erzählt er Arbeitern! Und er fährt fort:
„Aber, Genossen, die Macht ist doch kein Laib Brot, den man in zwei Hälften schneiden, in vier Teile neu zerteilen kann.“
Welcher Vergleich und welche Verleugnung der Geschichte! Den Zweck zeigt der folgende Satz. Trotzki doziert:
„Die Macht ist das Instrument, mit dessen Hilfe eine bestimmte Klasse ihre Herrschaft befestigt. Entweder dient dieses Instrument der Arbeiterklasse oder es dient gegen die Arbeiterklasse.“
Damit ist die Entwicklung im Leben der Völker ausgestrichen, von einem Gesellschaftszustand zum entgegengesetzten gibt es keinen Übergang, keine Entwicklung, sondern nur die Umstülpung durch die Macht. Es geht so weiter:
„Hier gibt es keine Wahl. Solange es zwei Feinde gibt – die Bourgeoisie und das Proletariat und mit ihm das ärmste Bauerntum –, und solange diese zwei Feinde gegeneinander kämpfen, können sie selbstverständlich nicht eine gemeinsame Waffe haben. Es ist doch nicht denkbar, daß eine Kanone zugleich wie der einen Armee so auch der anderen dienen kann.“
Um die Natur dieser Argumentation richtig einzuschätzen, muß man dessen eingedenk bleiben, unter welchen Umständen sie vorgetragen wurde und welches die Entwicklungshöhe des Landes war, in dem sie Arbeitern eingeprägt wurde. Niemals haben Marx und Engels Arbeitern die politische Frage in so kindisch-einfältiger Gegenüberstellung dargestellt. Selbst als Deutschland schon wirtschaftlich auf wesentlich höherer Stufe stand als das Rußland von 1918 – von der kulturellen Entwicklung ganz zu schweigen –, haben sie immer noch eine zeitweilige Unterstützung des vorgeschrittenen Bürgertums durch die sozialistische Arbeiterschaft für angezeigt erklärt.
Nach dem Muster der vorstehenden, dem Begriffsvermögen sehr naiver und unentwickelter Leute angepaßter Deduktionen, die sich durch den ganzen als Propagandaschrift in alle Sprachen übersetzten Vortrag ziehen und mit ähnlich merkwürdigen Behauptungen über die Ursachen und wirkenden Kräfte des Weltkriegs abwechseln, kommt Trotzki auf die Ausübung der politischen Macht durch die Bolschewisten zu sprechen und erhebt mit folgenden Argumenten Anspruch auf Entschuldigung für deren Mißgriffe:
„Einige sagen: wozu habt ihr denn die Macht genommen, wenn ihr vorher nicht gelernt habt, sie anzuwenden? Wir aber antworten darauf: wie konnten wir das Tischlerhandwerk erlernen, wenn wir kein Tischlerwerkzeug in den Händen hatten? Um zu lernen, ein Land zu verwalten, muß man das Richtscheit in die Hand nehmen, muß man die Staatsmacht in die Hände nehmen. Noch hat niemand im Zimmer sitzend das Reiten gelernt. Um es zu lernen, muß man ein Pferd satteln und sich aufs Pferd setzen. Möglicherweise wird das Pferd sich bäumen und mehr als einmal oder auch mehr als zweimal einen herunterfallen lassen. Wir werden aufstehen, es wieder satteln und wieder reiten, und so werden wir es lernen.“
Wenn solches Probieren nur die Persönlichkeiten beträfe, die das Reiten – sprich Regieren – lernen wollen, so könnte man sagen: gut und schön. Aber mit einem ganzen Staatswesen in das Unbestimmte hinein gewalttätig tiefgreifende Wirtschaftsexperimente machen in dem Gedanken, es könne zwar auch falsch gehen, aber dann macht man es eben noch einmal, in solcher Weise mit einem großen Volke verfahren, wobei unter Umständen viele Hunderttausende dem Hunger, der Not, der Vernichtung ausgeliefert werden, ist ganz etwas anderes. Es gibt für den Sozialreformer, den Revolutionär, auch einen kategorischen Imperativ! Sich darum nicht gekümmert, die wissenschaftliche Lehre der großen Denker, auf die sie sich beriefen, dort, wo sie ihnen nicht paßte, in den Wind geschlagen zu haben, ist bezeichnend für das fehlende Element in den Gedankengängen der Bolschewisten.
Es fällt mir, indem ich das feststelle, nicht ein, die Beweggründe der Bolschewisten irgendwie zu verdächtigen. Wie in jeder Revolutionsbewegung gibt es natürlich auch in dieser eine große Zahl Idealisten. Es gibt in ihr aber sicher auch andere Naturen. Indes lasse ich dies Moment dahingestellt. Es handelt sich hier um die Doktrin, um die Auffassungsweise und wie sie auf das Handeln der Bolschewisten zurückwirkt. Da aber gerade zeigt sich, wie sehr sie abweichen von der Auffassung des großen Meisters und Denkers Karl Marx! Sie geben fast gar keine soziale Bedingtheit für ihre Aktion zu. Ihnen genügt es, daß überhaupt mit etlicher Großindustrie auch ein Proletariat in dem Staate da ist, stark genug, um bei Ergreifung der Gewalt die aktive Rolle zu spielen. Aber sonst werden in den verschiedensten ihrer Schriften diejenigen Sozialisten, ob Marxisten oder nicht, die eine gewisse Reife des Proletariats und einen Reifegrad der ökonomischen Entwicklung als Bedingung der sozialistischen Umgestaltung betonen, verhöhnt, verspottet, oder aber beschimpft. Wie das letztere z. B. einem so, man darf sagen, echten Marxisten wie Karl Kautsky geschehen ist, den Lenin und Genossen, weil er ihre Methoden kritisiert hat, frischweg als Renegaten hinstellen – von meiner Wenigkeit will ich da ganz schweigen.
Der Bolschewismus kennt nahezu keine Grenzen des Willens in der Geschichte. Es ist das Verhängnisvollste in der Politik der Bolschewisten, daß sie tun, als ob es nichts dergleichen für den Willen des revolutionären Reformers gäbe. In den Maximen ihrer Maßnahmen sind sie weit mehr das Ebenbild des ursprünglichen Zarismus als das Ebenbild des Marxismus; vom letzteren sind sie nur ein Zerrbild. Denn das Bedeutungsvolle bei Marx ist ja gerade, daß seine und Engels Lehre eine wissenschaftlich begründete Lehre ist von den Grenzen des Willens in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Man hat diese Lehre daraufhin oft fatalistisch genannt, das ist aber vollständig irrig. Der Marxismus ist weit entfernt, die Bedeutung des Willens in der Geschichte zu leugnen oder seine Notwendigkeit zu verkennen. Es hat einen demokratischen Dichter gegeben, der seit langem vergessen ist, aber einst viel gelesen wurde und manchen begeistert hat, der frühverstorbene Friedrich von Sallet, der Verfasser des Laienevangeliums. In einem seiner Gedichte Geschichtliche Entwicklung sang er in der Zeit politischen Stillstandes in Deutschland:
Man sagt uns: Jugend mit zu heißem Blute |
Diesen Standpunkt erkennt Marx vollständig an, er entspricht seiner Theorie ganz und gar. Aber was man tut, kann man nur durchsetzen im Verhältnis der gegebenen Kräfte und Entwicklungsbedingungen.
Diesem Gegenstand hat Friedrich Engels in der Streitschrift gegen Dühring einige bemerkenswerte Kapitel gewidmet, die gerade heute wieder sehr aktuell geworden sind. Eines davon trifft ganz besonders auch die Methode der Bolschewisten, sehr verschiedene Dinge auf äußerliche Merkmale hin gleichzusetzen und der geschichtlichen Bedingtheit sozialer Institutionen die nötige Beachtung zu versagen. Dühring hatte von der griechischen Sklaverei gesprochen, auf der die ganze griechische Kultur beruhte, und sie mit der Lohnarbeit gleichgesetzt. Darauf antwortet Engels:
„Wenn man sagt, die Lohnknechtschaft sei nur dasselbe wie die Sklaverei, dann könnte man auch sagen, die Menschenfresserei sei dasselbe wie die Lohnknechtschaft, denn das Ursprüngliche war nicht die Sklaverei, sondern daß man die Unterworfenen auffraß. Wie oft auch in der Geschichte die bloße Gewalt gegen die ökonomische Entwicklung war, – entweder geht sie mir der ökonomischen Entwicklung, dann erfüllt sie ihren Zweck, oder sie geht gegen die ökonomische Entwicklung, dann unter Umständen wird der Zwang (namentlich wenn rohe Völker über kultivierte Völker herfallen) zum Ruin der ganzen Kultur, oder aber dann setzt sich doch im Laufe der Zeit das ökonomische Moment durch gegen die Gewalt, die Gewalt unterliegt.“
Nun, diese Erfahrung haben die Bolschewisten, wie sie selbst nicht mehr bestreiten können, machen müssen: wo ihre Gewaltmaßnahmen die ökonomische Bedingtheit unberücksichtigt ließen, haben sie elend Schiffbruch gelitten. Die Kosten dieser Erfahrung aber hat leider das russische Volk mit unendlich vielen Opfern bezahlen müssen.
Gerade das Großartige bei Marx und Engels ist die Begrenzung, die der Wille in der Geschichte bei ihnen erfährt – er erfährt sie nämlich nach zwei Seiten hin, unter bestimmten Umständen gegen die Revolution, dann aber auch wieder für die Revolution. Auf einem Blatt, das mir Friedrich Engels aus dem Marxschen Nachlaß geschenkt hat, ein Stück aus dem ersten Marxschen Entwurf (der nie gedruckt worden ist) zum Kommunistischen Manifest, steht unter anderem ein Wort, das Marx den Vertretern der alten Gesellschaft, die diese Gesellschaft für in ihrem Fundament unzerstörbar erklären, zuruft: „Ihr seid nach rückwärts gekehrte Utopisten.“ Das soll heißen: Ihr wollt die Entwicklung aufhalten, leugnet, daß es eine andere Gesellschaftsform geben könne über eure hinaus, wollt behaupten, eure sei die letzte; aber wenn ihr das erklärt, seid ihr nach rückwärts gekehrte Utopisten! Mit aller Schärfe betont der Marxismus die Kraft des Willens. Er hält zwar die Arbeiter von Unternehmen ab, je nachdem die dafür erforderlichen sachlichen Vorbedingungen noch fehlen. Aber er feuert sie auch an und schützt sie vor Entmutigung. Davon zeugt deutlich die vom Geist des Marxismus beeinflußte Arbeiterbewegung. „Mit uns der Sieg!“ ist ihr Leitmotiv, ist das Gefühl: „Wir werden doch siegen! Wir vertreten die Sache der Zukunft!“ Die Ignorierung der Grenzen für die Macht des Willens aber ist der verhängnisvolle Rechenfehler in der Politik des Bolschewismus. Er erklärt ihre vielen wirtschaftspolitischen Fehlgriffe, die sie ja einen nach dem anderen genötigt worden sind einzugestehen. Die bolschewistische Politik ist eine fortgesetzte stümpernde Experimentiererei. Eine ganze Literatur hat dafür erdrückende Beweise erbracht. Gewiß findet man in den Erlassen und Entwürfen der Bolschewisten vielerlei Bestechendes: großartige Pläne in bezug auf das Erziehungswesen und die soziale Fürsorge, in bezug auf die Organisierung der Produktion und Zirkulation, in bezug auf die Hebung und Verwertung der Erdschätze und ähnliches mehr. Aber dergleichen ist auch sonst in der Literatur des Sozialismus zu finden. Die Literatur der sozialistischen Utopisten aus dem 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts ist voll von oft großartigen Gedanken und sinnreichen Entwürfen. Außerordentlich viel Geist und Intelligenz ist da verschleudert, vieles auf dem Papier ausgezeichnet ausgedacht! Manches hat auch im Laufe der Zeit Verwirklichung gefunden, wenn auch nicht in dem Umfange und in der Art und Weise, wie die spekulierenden Verfasser es sich gedacht hatten.
Für die Pläne der Bolschewisten fehlen aber in Rußland heute so ziemlich alle Vorbedingungen, und zwar haben sie sie infolge ihrer Ignorierung der geistigen Notwendigkeiten zum Teil selbst zerstört. So haben sie, als sie zur Herrschaft kamen, die Arbeiter ermuntert, sich praktisch zu Herren der Fabriken aufzuwerfen, aber ohne daß diese die ökonomische Verantwortung übernahmen. Und das Resultat? Die Fabrikanten hielten es nicht aus und die Fabriken gingen zugrunde! Die Arbeiter waren einfach nicht imstande, sie selbständig zu leiten, sie waren nicht Unternehmer und wollten es auch nicht sein. Mehr noch. Ein Teil der Arbeiter – und merkwürdig: gerade ein großer Teil der gelernten Arbeiter – gingen gleichfalls davon. In den eigenen Veröffentlichungen der Bolschewisten kann man es lesen, daß ein großer Prozentsatz der gelernten Arbeiter geradezu aus den Fabriken geflohen sind und auf das Land sich begeben haben, um als Kleinhandwerker ihr Leben zu fristen.
Im Laufe von vier Jahren bolschewistischer Herrschaft sind die Städte Rußlands um über ein Viertel in der Bevölkerungszahl gesunken, und auf dem Lande gehen die Erträge des Bodens immer mehr zurück. Von der Diktatur des Proletariats, die kaum formal noch besteht, ist man gekommen zur faktischen Knechtung des Proletariats, und von der „Erwürgung“, um mit Bucharin zu reden, der kapitalistischen Unternehmer zur Züchtung einer Bureaukratie, wie sie kaum ein zweites Land in gleichem Verhältnis im Staat und in der Industrie aufzuweisen hat.
Ich will mich darüber nicht ins einzelne verlieren. Es ist nicht meine Absicht, den Bolschewisten Übles nachzusagen, ich behandle nur die Fehler des Bolschewismus, weil seine Doktrin und Methoden heute wichtige Streitfragen des Sozialismus sind. Die Tatsachen aber, die ich summarisch hervorhebe, findet man in der bolschewistischen Literatur selbst hervorgehoben, sie bilden dort den Gegenstand lebhafter Diskussionen, weil man die Konsequenzen fürchtet. Bekannt ist ferner, daß die Bolschewisten neue Kapitalisten geschaffen haben und fremdländische ins Land ziehen. Sie sind einfach mit all ihrer politischen Macht nicht Herren der Dinge. Eines können sie freilich; gestützt auf ihre Garden können sie unterdrücken und knebeln, wo es ihnen gefällt. Der Terrorismus wird noch ungeschwächt geübt. Aber das verstanden auch die asiatischen Despoten und die afrikanischen Sultane. Das Elend in Rußland wächst beständig, die Unterdrückung aller politischen Freiheit dauert fort. Es kann kein sozialistisches Blatt anderer Richtung erscheinen, die bürgerlichen Blätter gar nicht, nur bolschewistische Blätter werden geduldet. Es gibt auch für Andersdenkende keine Versammlungsfreiheit. Ertötet ist die freie wirtschaftliche Schaffenskraft, die für Rußland einfach eine Notwendigkeit ist, wenn es sich einigermaßen erholen soll.
Ein merkwürdiges Stück Wiederholung der altzarischen Despotie. Von Nikolaus I., der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte und der Hort der europäischen Reaktion war, wird erzählt, daß er, als die Eisenbahnen aufkamen und er nun auch eine solche von Moskau nach Petersburg haben wollte, sich eine Karte kommen ließ und einen geraden Strich zog: So wird die Eisenbahn gebaut! Sie heißt noch jetzt die Nikolai-Eisenbahn. Natürlich hat sie furchtbar viel gekostet. Die Bodenverhältnisse, Sümpfe usw. waren von ihm ignoriert worden, und wie es der Zar gewollt hatte, so mußte es gemacht werden – Ein Stück von diesem Geist steckt auch in N. Uljanow Lenin. Die Folge ist zunehmende wirtschaftliche Zerrüttung.
Überall, wo kein geordnetes Rechtsverhältnis besteht, wo Unsicherheit in bezug auf das Recht herrscht, wo man heute nicht weiß, welche Gesetze morgen in Geltung sind, da findet eine Verwüstung statt. Und was wir heute von Rußland hören, von jener entsetzlichen Hungersnot ganzer Millionen, ist zum Teil gleichfalls eine Folge dieser Experimentiererei. Allerdings unmittelbar verursacht durch ein Naturereignis, über das die Menschheit bis jetzt noch keine Gewalt hat: die ungeheure Dürre. Aber man darf nicht vergessen, daß selbst gegen die Dürre der Mensch trotzdem nicht ganz wehrlos ist. Wo der Boden hinreichend gedüngt und intensiv bearbeitet ist, da ist er gegen die Dürre widerstandsfähiger als dort, wo es ihm an Dung fehlt und die Bearbeitung nur oberflächlich ist. Wo aber ein Volk, und besonders ein landbauendes Volk (Rußland ist ja überwiegend Bauernland), wo Bauern die Gewißheit nicht haben, daß sie ihren Boden behalten, daß ihnen die Ernte verbleibt, bauen sie eben oberflächlich, legen sie nichts hinein in den Boden. Infolge dieser Tatsache ist z. B. Kleinasien, das früher einmal geradezu ein Paradies an Fruchtbarkeit gewesen ist, gerade an der westlichen Seite, unter der Willkürherrschaft der türkischen Paschas und unter dem willkürlichen türkischen Steuersystem, der Naturalsteuer, zu großen Teilen versandet. Und leider haben wir ein gleiches Bild in Rußland. In fürchterlicher Weise offenbaren sich die Folgen der Verkennung wirtschaftlicher Gesetze, der materiellen und geistigen, beziehungsweise seelischen Bedingungen des Wirtschaftslebens und der Funktionen der Wirtschaftsträger auf einem gewissen Stande der Entwicklung. Man hat es geschehen lassen, daß die großen Güter, die zum Teil sehr rationell bewirtschaftet wurden und große Überschüsse an Produkten lieferten, unter die Bauern aufgeteilt wurden. Was war die Folge? Die Überschüsse haben aufgehört. Nun kann man nicht für alles das System, die Partei verantwortlich machen. In der Revolution geschehen auch viele Dinge gegen den Willen der Revolutionäre selbst. Aber um die unvermeidlichen Auswüchse auf das möglichst geringe Maß herabzusetzen und möglichst bald zu Zuständen zu gelangen, die dem Bedürfnis der Wiederherstellung des Wirtschaftslebens entsprachen, war das Zusammenwirken aller geboten, die sich auf den Boden des Rechtszustandes stellten, den die Revolution des Februar 1917 geschaffen hatte. Daß man das Gegenteil in dem Wahn herbeiführte, es komme nur darauf an, die Gewalt zu haben, um dann – wie Bucharin sagte –, wenn die ganze bürgerliche Volkswirtschaft „erwürgt“ war, von neuem anzufangen, das konnte nur solche Zerrüttungen zur Folge haben. So darf es ein Kind machen, das mit seinem Baukasten spielt. Aber die Idee, so mit den Daseinsbedingungen eines Volkes von Millionen und Abermillionen umgehen zu können, ist Zäsarenwahnsinn, gleichviel ob von einem gekrönten Machthaber oder von Revolutionären. Er konnte bei den Bolschewisten nur Boden fassen, weil der Grundgedanke ihrer Doktrin ein durchaus falsch ausgelegter, maßlos vergröberter Marxismus ist.
Hierzu ist noch folgendes zu sagen:
Der Bolschewismus hat viele Kritiker gefunden, und es lag nahe, einige davon zu zitieren. Um indes mir nicht den Vorwurf der Parteilichkeit zuzuziehen, habe ich an dieser Stelle davon Abstand genommen. Nur einer Arbeit glaube ich gedenken zu sollen. Es ist das Schriftchen von N. Gefimoff Zur Soziologie des Bolschewismus (Berlin, Verlag Freiheit). Der Verfasser, ein Russe, der die ersten Jahre der Herrschaft der Bolschewisten im einstigen Zarenreich mit durchlebt hat, weist den inneren Zusammenhang des Bolschewismus mit der Bewegung der revolutionären Terroristen des zarischen Rußland nach, die eine Bewegung nicht der Arbeiterklasse, sondern von klassenlosen Intellektuellen war und deren Tendenz, einander im Radikalismus zu überbieten, sich aus den politischen Zuständen Rußlands begreift. Auf diese Weise konnte es geschehen, daß die nach Rußland gelangte Marxsche Lehre eine so – man muß sagen, brutale Ausdeutung erfuhr.
In der Tat ist der Bolschewismus eine spezifisch russische Erscheinung, zu verstehen aus den Verhältnissen, die in Rußland lange geherrscht haben, wo unter einem absolutistischen Regime die größten Zwangsmittel der Unterdrückung üblich gewesen sind. Zu verstehen ist sie, aber darum noch durchaus nicht nachahmenswert. Sie ist das Beispiel der verderblichen Wirkungen eines verhängnisvollen Fehlers im Denken, der sich äußert im Glauben an die Allmacht der rohen Gewalt, in der Verkennung der fundamentalen Gesetze des gesellschaftlichen Daseins und in der Mißachtung des organischen Prinzips in der Entwicklung der aus der Wildheit herausgetretenen menschlichen Gesellschaften.
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7. Wie wenig Marx mit der Auslegung einverstanden war, die Lafargue seinen Feststellungen gab, geht aus seinem Brief an Friedrich Engels vom 11. November 1882 hervor. Dort schreibt Marx dem Freunde, daß Lafargue in Wirklichkeit Schüler des Russen Bakunin sei, und ruft ärgerlich aus: „Longuet (der andere Schwiegersohn von Marx) als letzter Proudhonist und Lafargue als letzter Bakunist! Que le diable les emporte!“
8. Der gesetzlichen Begrenzung der Arbeitszeit. Ed. B.
Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008