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Aus Die Neue Zeit, 27. Jahrgang, 2. Band, Nr. 32 (7. Mai
1909), S. 184–187.
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[In dem diese Überschrift tragenden Abschnitt des Artikels Die verdorbene Suppe [A], den Genosse Trotzki in Nr. 25 der Neuen Zeit veröffentlichte, stützt Trotzki seine Charakteristik der sozialistisch-revolutionären Partei nach dem Falle Asew auf die Zeitschrift Der revolutionäre Gedanke, Nr. 4. Hierzu erkläre ich entschieden folgendes:
Der revolutionäre Gedanke ist das Organ einer oppositionellen Minderheit innerhalb der Partei unter Führung hauptsächlich zweier Genossen, deren einer bereits seit Jahren eine von der Partei abweichende Richtung vertritt und dieselbe auch in Broschüren und Artikeln begründete. Diese Minderheit stellt eine im Verhältnis zur Mehrheit kleine Gruppe von Genossen vor, die in Paris ihren Sitz hat, woselbst sie auch entstanden ist. Sie ist also eine Frucht russischer Emigration. [1] Demgegenüber wird die Ansicht der Partei vertreten durch folgende zwei offizielle Organe: Snamja Truda (Das Banner der Arbeit) als Zentralorgan und die „Nachrichten des Regionalkomitees der ausländischen Organisationen“ und die vom Genossen Rubanowitsch in Paris herausgegebene Zeitschrift La Tribune russe. Hätte Genosse Trotzki diese, besonders das Zentralorgan, zur Auskunft herangezogen, so wäre seine Charakteristik des gegenwärtigen Standes der Taktikdiskussion eine wesentlich andere geworden. In der Tat, man vergleiche sine ira et studio zum Beispiel die vom Genossen Trotzki angeführte Nr. 4 des Revolutionären Gedankens mit der Nr. 16 des Zentralorgans Snamja Truda vom 4. März 1909. Da finden wir nun im letzteren drei Artikel verschiedener Genossen, die die bisherigen Organisationsformen der Massen, besonders die Tätigkeit innerhalb der Arbeiterklasse (Gewerkschaften, Bildungsvereine) und der Bauernschaft kritisieren und den Umstand der veränderten politischen Bedingungen für Propaganda, Agitation und Organisation in Betracht ziehend, Vorschläge zur Reorganisation unserer praktischen Arbeit unter den Massen machen. Während also die Mehrheit der Parteigenossen an dem Klassenkampf als der conditio sine qua non des Kampfes für den Sozialismus und an der Anschauung festhält, dass die russische Revolution endgültig siegen wird als eine Revolution der sozial bedrückten und entrechteten Massen, und zwar des Proletariats und der Bauernschaft, stehen die Wortführer der Pariser Minderheit allerdings auf dem Standpunkt, den Genosse Trotzki nach dem Revolutionären Gedanken anführte.
Wogegen ich im Namen der Mehrheit der Genossen zu protestieren mir das Recht nehme, ist, dass man uns in einen Topf mit einer Minderheit wirft und ihre Ansichten als die unsrigen präsentiert.
M. L., Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre.]
Auf den Brief des Genossen M. L. erlaube ich mir folgendes zu antworten: Meine Aufgabe war nicht die, den „gegenwärtigen Stand der Taktikdiskussion“ innerhalb der Partei der Sozialrevolutionäre, sondern das objektive Schicksal der terroristischen Methode zu charakterisieren. Mein Zitat war kein formeller Beweis, nur eine Illustration der Tendenz. Dass ich diese sich selbst auffressende Tendenz des Terrorismus durch die Meinungsäußerung einer „unverantwortlichen“ sozialrevolutionären Zeitschrift und nicht durch die „synthetischen“, alles und nichts sagenden Selbstrechtfertigungen des Zentralorgans zu illustrieren versuchte, daraus wird mir niemand einen Vorwurf machen, dem es sich um die Sache, nicht um die Form handelt. Aber auch mit der formalen Seite steht es bei weitem nicht so unzweideutig, wie M. L. uns glauben machen will.
„Sie zitieren das Organ der Minderheit und geben das Zitat für die Meinung der Partei aus“, so meint der Verfasser des Briefes. Wo ist aber die Minderheit? Und wo die Mehrheit? Und mit wem ist die Partei? Wer ist imstande und wer hat das Recht, diese Fragen zu beantworten? Es herrscht gegenwärtig in der Sozialrevolutionären Partei, wie leicht zu begreifen, eine tiefe Niedergeschlagenheit und Verworrenheit. Der eine meint, die Partei sollte zu den ökonomischen Arbeiterorganisationen herabsteigen, die sie bis jetzt nur „theoretisch“ anerkannte, denen sie aber in der Praxis aus dem Wege ging (Nachrichten, Nr. 9).
Der andere will den Schwerpunkt der Parteitätigkeit in das Bauerntum verlegt sehen. Der dritte schlagt gar vor, auf die nationalistischen und religiösen Gefühle der Massen als auf einen revolutionären Faktor zu spekulieren. Die offiziellen ausländischen „Nachrichten“ meinen, „jetzt, wo keine näheren Möglichkeiten der Massenkundgebungen vorhanden sind, hieße es, das Banner der Revolution zusammenrollen, wenn man der terroristischen Methode entsagt“, und weiter: „die terroristische Methode wird alle Schläge abwehren und alle (!) Positionen erobern“ – also dem Wesen nach dasselbe, was auch mein beanstandetes Zitat sagt. Das Zentralorgan „synthetisiert“ das alles zusammen; aber wen vertritt es gegenwärtig: die „Partei“ oder nur eine Gruppe um sich selbst? Wie sich das Wirrsal der Meinungen und Richtungen abwickeln wird, ist jetzt nicht so einfach abzusehen; in einer Beziehung sind aber alle Anhänger aller Richtungen der Sozialrevolutionären Partei einverstanden: wenn es eine durch die Asewaffäre unrettbar kompromittierte, jeder Autorität beraubte Institution in der Partei gibt, so ist es das „leitende“ Zentrum, zu dem auch das Zentralorgan gehört. Die Haltung des letzteren in der ersten Nummer nach Asews Entlarvung ist offiziell beruhigend und formell konservativ. „Alles bleibt beim Alten!“ – so lautet die Parole. [2] Dass ich gerade diese gezwungenen Versicherungen einer – nach eigenem Bekenntnis – auf ihre Absetzung wartenden Parteileitung nicht zum Grunde meiner Betrachtungen gelegt habe, darin liegt also mein Verbrechen. Mea culpa! Aber dies Verbrechen bin ich bereit, auch nach dem Briefe des Genossen M. L. zu wiederholen. Und wie denn sonst? Dass die Bestrebungen der Konservativen der Partei diese letztere samt allen ihren Widersprüchen (Terrorismus plus Massenkampf; proletarischer Klassenkampf plus ethischer Intelligenzlersozialismus plus bäuerliche Produktivgenossenschaften usw.) weiter zu konservieren, den erwünschten Erfolg bringen werden, daran zu glauben bin ich nach den Erfahrungen der Revolution noch weniger imstande, als ich es vor der Revolution war. Die Asewaffäre wird das ohnedies verheerende Desertieren der revolutionären Jugend noch beschleunigen; was von der terroristischen Intelligenz übrig bleiben wird, sind vielleicht kleine Gruppen Burzewscher Anhänger, deren einzige Beziehung zur Masse in souveräner Verachtung besteht.
Aber die Burzewsche „Minderheit“, sagt „ausdrücklich“ M. L., unterwirft sich der Parteidisziplin. So? Nun behauptet aber diese so fügsame Minderheit ganz „ausdrücklich“ in ihrem Organ (Nr. 4), dass „die Partei der Sozialisten-Revolutionäre als Organisation gegenwärtig nicht existiere“. Ich muss aufrichtig zugestehen: es ist mir nicht leicht zu verstehen, wieso es die Minderheit zustande bringt, sich der Parteidisziplin zu unterwerfen und in demselben Atemzug die Existenz der Partei zu negieren.
Ich glaubte die Spalten der Neuen Zeit für die Schilderung dieser organisatorischen Angelegenheiten – sintemalen sie für die deutschen Genossen nicht leicht kontrollierbar und nicht sehr belehrend sind – nicht in Anspruch nehmen zu dürfen. Genosse M. L. hat es mir jedoch aufgezwungen. Ich erlaube mir aber zum Schlusse die Aufmerksamkeit der Leser von diesen nebensächlichen Umständen, von den Zitaten und Kontrazitaten, von der subjektiven Logik der Parteiinstitutionen auf die objektive Logik des Terrorismus zu lenken. Diese selbstmörderische Logik könnte man schematisch folgendermaßen darstellen.
Zuerst kamen die Klassiker des Terrorismus – die Narodowolzi. Sie hatten keine revolutionär Klasse hinter sich. Es blieb ihnen tatsächlich nichts übrig, als die eigene Ohnmacht mit der Sprengkraft des Dynamits zu multiplizieren.
Dann traten die Epigonen auf, die Sozialisten-Revolutionäre. Sie kamen, als die revolutionäre Klasse schon da war. Die Terroristen wollten oder konnten diese Klasse aber nicht in ihrer ganzen geschichtlichen Bedeutung verstehen und abschätzen. Sie schlossen einen theoretisch unzulänglichen, praktisch unhaltbaren Kompromiss zwischen der Massentaktik und der aus dem Misstrauen in die Masse begründeten terroristischen Methode. Die Asewaffäre bedeutet den vollkommenen Zusammenbruch des Epigonenterrorismus. Diese Tatsache wird durch kein Zentralorgan aus der Welt geschafft.
Jetzt kommt die Zeit der terroristischen Dekadenten. In dem Moment, wo das Zentralkomitee die Auslösung der von Asew geleiteten Kampforganisation proklamiert, hisst Burzew hoch das Banner des reinen Bombismus auf. Erst jetzt scheint sich diese Richtung aus einer individuellen Grille ihres Urhebers zu einer politischen Erscheinung entwickeln zu wollen. Sie gibt den lästigen Kompromiss auf, kehrt der Masse den Rücken zu und bemüht sich, ein unfassbares terroristisches Übermenschentum zu etablieren, das über alle Sorgen und Misserfolge des Klassenkampfes erhaben ist.
Auf diese Entwicklung (respektive Entartung) des Terrorismus kam es mir an, als ich den Revolutionären Gedanken zitierte und die alles vertuschende offizielle Phraseologie des Zentralorgans außer acht ließ.
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N. Trotzki |
A. Leo Trotzki, Die verdorbene Suppe, Neue Zeit, 27. Jg., 1. Bd., Nr. 25 (19. März 1909), S. 892–899.
1. Ich bemerke ausdrücklich, dass sich diese Minderheit der Parteidisziplin unterwirft und die Autorität unserer höchsten Instanzen (Parteikongress, Parteirat) anerkennt.
2. Die Nr. 16, auf die mich mein Opponent so ausführlich verweist, war noch gar nicht erschienen, als ich meinen Artikel niederschrieb. Aber auch diese Nummer ändert nichts an meinen Ausführungen.
Zuletzt aktualiziert am 18. Dezember 2024