Leo Trotzki

 

Die verdorbene Suppe

(Das Fazit der Asewaffäre)

(19. März 1909)


Aus >strong>Die Neue Zeit, 27. Jahrgang, 1. Band, Nr. 25 (19. März 1909), S. 892–899.
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Alles schien glänzend zu gehen. Die Duma hatte sich „machtvoll“ in die äußere Politik eingemischt und hatte Iswolsky zu entschiedenerem Auftreten aus dem Balkan Mut gemacht. Die Duma hatte das Stolypinsche Agrargesetz angenommen und die Ära des „organischen Aufbaus“ des flachen Landes begonnen. Die weitere „Gesundung des Landes“ stand aus der Tagesordnung. Und die Leute des Staatsstreichs vom 16. Juni prophezeiten bereits das Nahen jener Tage, wo aus dem Tische eines jeden russischen Bauern ein Topf voll Suppe erscheinen würde. Alles schien glänzend zu gehen ... Als plötzlich in dem Staatskessel, worin die Suppe des nationalen Wohlstandes gekocht wird, eine – Küchenschabe erschien. „Das Auskunftsbüro“ versuchte diese nicht anzuerkennen. Aber die Schabe war so kräftig geraten, dass man sie sogar an der französischen Börse bemerkte, wo Kokowzew kurz vorher diese selbe Suppe diskontiert hatte – zu einem recht elenden Kurse. Nun musste man, ob man wollte oder nicht Europa gegenüber Erklärungen abgeben. So entstanden die von der Dumaregie gar nicht vorherbestimmten Debatten über Asew.

Am meisten regten sich die Liberalen auf. Sie trauerten und triumphierten zu gleicher Zeit. Sie triumphierten, denn „sie hatten das schon immer vorausgesehen“, sie trauerten – um die russische Staatsidee. Aber sie triumphierten doch mehr als sie trauerten, denn der Asewskandal peitschte mit einem Ende die „Revolution“, mit dem anderen schlug er die feldgerichtliche Stolypin-Wirtschaft. Wer wollte dabei mehr gewinnen als der Liberalismus, der mitten zwischen den beiden steht? Der liberale Rechtsgelehrte Nabokow bereitete eine neue und tadellose Definition der Provokation vor, der rechte Kadett Maklakow suchte nach einem „gemeinsamen Boden“, das heißt nach einer gemeinsamen „großen Prämisse“ zur Auseinandersetzung mit dem Ministerium („Staatsidee“, „Loyalität“ usw.); der Tribun der Kadetten, Roditschew, blätterte fieberhaft in den Reden Mirabeaus. Aber ach! eine grausame Enttäuschung erwartete sie.

Im ersten Augenblick bemächtigte sich der Herren der Situation eine Verlegenheit die an lähmenden Schrecken grenzte. Natürlich haben die Redner der Linken recht, wenn sie sagen, dass die Affäre Asew kein Einzelfall, sondern ein typischer Fall ist, und dass er sich von tausend anderen ähnlichen Affären nur durch seine Dimensionen unterscheidet. Man kann sagen, dass in jedem Löffel voll Regierungsversöhnungspolitik eine kleine Schabe drinnen sitzt. Trotzdem gibt die arithmetische Summe aller dieser Schaben noch keinen Asew. ...

Die Oktobristen verlangten zehn Tage Bedenkzeit. „Diese Sache muss erst zerkaut werden“, gestand ihr Redner v. Anrep offen ein. In Wirklichkeit aber vergingen ganze fünfzehn Tage, bevor sie die Asewaffäre zerkaut hatten.
 

Stolypin will nur Wahrheit!

Am 24. Februar trat Stolypin mit Erklärungen in Sachen der Interpellation auf. Man muss diesem Ritter von der Galgenschlinge Gerechtigkeit widerfahren lassen: er kennt seine Leute. Er kennt seine oppositionellen Pogromstifter, seine Freunde von rechts, die ihm seine „konstitutionelle“ Gebärde jederzeit verzeihen werden, um der dreitausend Galgen willen, die er aufgebaut hat. Er kennt auch „seine“ oppositionellen Liberalen, seine feindlichen Freunde von links, die ihm in einem schweren Augenblick seine dreitausend Galgen immer verzeihen werden wegen der konstitutionellen Gebärde. Am besten aber kennt er seine Oktobristen, diese vor dankbarer Begeisterung trunkene Horde, die in ihm den heiligen Georg der Gegenrevolution sieht, der den Besitzern ihren Besitz erhalten und sie – am Schweife seines Rosses – in den Saal des Taurischen Palais geführt hat. Vor den „Gräueln“ der Expropriation bewahrt, sind sie bereit mit ihren dankbaren Zungen nicht nur die Wichse von seinen Stiefeln zu lecken.

Niemand braucht so sehr ein edles Äußere wie der Falschspieler. Dieses Äußere ist für ihn dasselbe, was die Stola für den Priester ist oder die Legitimation eines Beamten der Ochrana, der Polizei, für den russischen Raubmörder. Und je frecher sein Spiel, um so edler muss sein Gebaren sein. Man muss wiederum Stolypin Gerechtigkeit widerfahren lassen: mit dem unfehlbaren Instinkt des Wilden orientierte er sich rasch in dem ihm fremden Milieu des Parlamentarismus und, ohne in die Schule des Liberalismus auch nur einen Blick zu werfen, eignete er sich mühelos alles das an, was ein Henker braucht, um wie ein Gentleman auszusehen. Und heute braucht er auf der Dumatribüne nur eine Bewegung mit der Hand zu machen, die vom Stricke des Galgens schwielig ist, so „zerstreut er“, wie das Zentralorgan der Oktobristen sich ausdrückt, „jene ängstlichen Zweifel“, welche sich vielleicht in den Herzen seiner Getreuen regen wollten.

In dieser ganzen Affäre sei der Regierung nur an einem gelegen: „volles Licht“ in die Sache zu bringen. Eben deshalb hat sie sich wohl in ihrer ersten offiziellen Mitteilung ganz und gar von Asew losgesagt, in der zweiten aber – sich selbst Lügen gestraft.

„In diesem Saale braucht die Regierung nur Wahrheit.“ Eben darum will er, Stolypin, die Dokumente des Polizeidepartements in der Hand, beweisen dass die Beamten des Departements „nicht nur des Vergehens des Geschehenlassens, sondern des der Nachlässigkeit nicht schuldig“ sind. Und Asew? Asew ist „ein ebensolcher Mitarbeiter (!) der Polizei wie viele andere“. Wenn er siebzehn Jahre lang zugleich bei der Polizei und bei revolutionären Organisationen war – um so schlimmer für die Revolution und um so besser für die Polizei. Natürlich muss ein „Mitarbeiter“ „zum Scheine und um sein Prestige in der Partei zu wahren“, einige Sympathie für ihre Aufgaben zeigen. Aber wie weit? Das hat Stolypin nicht gesagt. Und er konnte es auch nicht sagen. Denn das ist eine Frage, die rein empirisch, von Fall zu Fall gelöst wird. Und wenn Asew, ein Mitarbeiter wie viele andere auch, manchmal – „zum Scheine“ – dem einen ober dem anderen Minister den Kopf abreißen ober das Gehirn eines Großfürsten auf das Straßenpflaster verspritzen musste, so sind doch in den Polizeiberichten Asews jedenfalls keine Spuren von Provokation ober Geschehenlassen, ja nicht einmal solche von Nachlässigkeit zu finden. „Die Regierung braucht nur die Wahrheit.“ Wisset daher: wenn Stolypin heute erklärt dass der überführte Provokateur, der Wirkliche Staatsrat Ratschkowski, „seit dem Jahre 1906 gar keine Pflichten im Ministerium des Innern zu erfüllen hatte“, so wird der Sozialdemokrat Gegetschkori morgen beweisen, dass Ratschkowski bis auf den heutigen Tag wohlbestallter Vizechef der Ochrana in Zarskoje Selo ist. Wenn Ratschkowski sich als ein zu offenbarer Schuft erwies, um eine angesehene Stelle im Polizeidepartement zu bekleiden, so ist er doch noch immer gut genug, um die geheiligte Person des Monarchen vor der Liebe seines Volkes zu schützen!

Die Parole der Regierung ist: „Wahrheit“ und wenn Stolypin in der Duma lügt wie ein beliebiger meineidiger Polizist bei einem politischen Prozess, so darum, weil er nur zu gut von seiner Straflosigkeit überzeugt ist: er kennt seine Leute! Er weiß, dass nicht nur der Oktobrist Gras Uwarow für seine „kristallene Reinheit“ bürgen wird, sondern dass auch der „à la Mirabeau“ frisierte Roditschew sich beeilen wird, für die Aufrichtigkeit der Stolypinschen „Blindheit“ einen Eid abzulegen. Blindheit! Unglücklicher Honoré Gabriel-Riquetti-Robitschew! Wäre ihm und seiner Partei nur der zehnte Teil jenes politischen Scharfblicks beschieden, mit welchem Stolypin die Ohnmacht des advokatisch-professoralen Liberalismus durchschaut hat!
 

Die Oktobristen weichen und wanken nicht!

Am meisten hatten in dem Asewskandal die Oktobristen zu leiden – und sie haben eine rühmenswerte politische Festigkeit gezeigt. Gerade in jenen Tagen, als die europäische Presse daran ging, den russischen polizeilich-terroristischen Roman der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat der Gutschkowsche Golos Moskwoi; ihr politisches Credo, noch mehr: er hat die objektive historische Position der Oktobristen mit bemerkenswerter Deutlichkeit formuliert. Die Zeitung war von links her herausgefordert worden. Einige demokratische Journalisten beeilten sich, indem sie sich auf die Enthüllungen der allrussischen administrativen Räubereien und Diebereien stützten, der Handels- und Gewerbebourgeoisie klarzumachen, dass ihre einzige Rettung darin liege, mit dem agrarischen Adel zu brechen und den Weg der prinzipiellen Opposition zu betreten.

Der Golos Moskwoi antwortete:

„Es ist ja klar, dass die Bourgeoisie für sich allein nicht stark genug ist, um auf die Regierung mit Erfolg einzuwirken. Die Bestrebungen der Bourgeoisie müssen nach dieser Richtung hin mit den Bestrebungen anderer Elemente verbunden werden.

Wer kann nun dieser Bundesgenosse der Bourgeoisie sein?

Die aus das Wirtschaftsleben einflusslose Intelligenz, die radikale Presse? ... Das ist ein recht fraglicher Zuwachs.

Die natürlichen Bundesgenossen der Bourgeoisie sind die anderen ökonomischen Klassen, die mit jener durch ihren unmittelbaren Anteil am wirtschaftlichen Leben verbunden und wirklich an der Hebung der Produktivität der nationalen Arbeit interessiert sind.

In dem gegenwärtigen historischen Moment sind in Russland alle Klassen des russischen Volkes daran beteiligt: die Bourgeoisie wie die Agrarier, die Bauern wie die Arbeiter.

Aber unglücklicherweise verfallen die Bauern und Arbeiter, sofern sie anfangen, sich ihrer Umgebung gegenüber bewusst zu verhalten, meistenteils der sozialistischen Propaganda, die von der Intelligenz kommt, und sie sehen in der Bourgeoisie ihren politischen Hauptfeind. Deshalb kommen die Bauern und Arbeiter als politische Bundesgenossen für die Bourgeoisie gar nicht in Betracht.

Der Bourgeoisie bleibt also vorderhand nur ein einziger Bundesgenosse übrig – der Agrarier. ... Und daher ist die Vereinigung der Vertreter dieser beiden Klassen in dem Bunde vom 30. Oktober nicht durch zufällige Ursachen hervorgerufen, sondern sie ist durch den ganzen Ablauf der russischen politischen Entwicklung diktiert.“ [A]

Die Bourgeoisie konnte nur die Übermacht über die Regierung gewinnen, wenn sie sich auf die Massen stützte. Da aber die Massen ihr feindlich gegenüberstehen, so ist die Bourgeoisie gezwungen, nicht gegen die Regierung anzukämpfen sondern sich mit beiden Händen an ihr festzuhalten. Die Oktobristen sind viel zu realistisch, um sich ins Blaue hinein mit „Opposition“ abzugeben wie die Kadetten. Diese ihre Schlussfolgerung führen sie konsequent durch, trotz aller Heimsuchungen des Schicksals. Freilich nach den ersten Donnerschlagen der Asewaffäre erlaubten auch sie sich, aufzuschreien. Aber sehr bald zwangen sie sich zu der Erkenntnis, dass Asew „an dem Verlauf der russischen politischen Entwicklung“ nichts ändere, da er ja doch nur eine Schabe sei, die an die Oberfläche ihrer eigenen Oktobristensuppe gekommen ist, und dass es nicht nur den Interessen, sondern auch den Traditionen der nationalen Sitte der Moskauer Kaufmannschaft widersprechen würde, wollte man wegen der einen Schabe die ganze Suppe weg schütten Und als man ihnen von links her bewies, dass die Schabe kein Zufall sei, sondern Notwendigkeit, da antworteten sie: „Was tun? – es bleibt nichts übrig, als sich zu bekreuzen und die Schabe mitzuschlucken.“ Und sie schluckten sie, ohne eine Miene zu verziehen.
 

Eine Grabschrift für die Kadettentaktik

In den Kabettenreden über Asew waren viele schöne Stellen, viele glückliche Ausdrücke und sogar Gedanken. Aber noch nie ist die Hoffnungslosigkeit des Kadettentums so deutlich hervorgetreten wie in diesen Debatten. Nach dem Gedankengang der Miljukowschen Fraktion sollte die Interpellation der Keil sein, den sie in den Leib des Blocks der dritten Duma treiben wollte, sie sollte, wenn schon nicht das Ministerium stürzen, so doch den Oktobristen die Rolle der Regierungspartei unmöglich machen. Das Gegenteil geschah. Es wiederholte sich das gleiche wie nach den früheren Enthüllungen.

All der Schmutz, all der Mist und Unrat, womit die Geschichte der letzten zwei, drei Jahre die zarische Selbstherrschaft begossen und beworfen hat, hat dem konterrevolutionären Bunde nicht nur nichts geschadet, sondern umgekehrt, es hat ihn das alles durch den Kitt der gemeinsamen Schmach nur noch fester gekittet. Das Getreide, welches Gurko den hungernden Bauern gestohlen hat? Die Bestechungsgelder an den Gouverneur? Die Verbrüderung des Zaren mit den verurteilten Plünderern? Das Muttergottesbild, angefüllt mit Bestechungsgeld für den Stadthauptmann? Die Bordelle als Stützen des Patriotismus? Die Haare, die während der Foltern einzeln herausgerissen wurden? Was war denn da noch? Gibt es da nicht etwas Kräftigeres? Expropriationen unter Polizeikommando? Vergewaltigung von Greisinnen durch Kosaken? Erschießen ohne Urteil? Und endlich: Asew? Minister, die unter Mitwirkung von Polizeiterroristen getötet wurden? ... Gebt nur alles her! Alles wird in Aktion treten! Stolypin und Gutschkow bauen das Gebäude des neuen Russland – sie brauchen Baumaterial!

„Warum“, so fragte Maklakow mit Wehmut die Oktobristen und die Regierung, „warum fangen wir bei einer Sache, wo wir anscheinend von demselben Standpunkt ausgehen, in konkreten Fällen an, eine verschiedene Sprache zu sprechen?“ Warum? Die Frage des „glänzenden Juristen“ Maklakow hat der plumpe Politiker Miljukow gelöst. Die Regierung will „die Revolution besiegen, aber sie kann es nicht: daher ihre Schwäche. Die Kadetten dachten anders: sie hofften, die Revolution zum Stehen zu bringen.“ ... Sie sind also von der gleichen Position ausgegangen, sie schlugen nur eine andere Methode vor. Nun, hatten sie Erfolg? Ach! „Die Regierung, die es gewohnt war, sich auf Gewalt zu stützen“ – so klagte Miljukow –, „hat mit uns gerechnet, solange man in uns eine große revolutionäre Macht sah. Als man aber sah, dass wir nur eine konstitutionelle Partei sind, da brauchte man uns nicht mehr.“ Begriff wohl Miljukow, was er sagte? War er sich dessen bewusst, was für ein tödliches Urteil er über die dreijährige Geschichte seiner Partei fällte? Sie hatte der Revolution den Rücken gekehrt, indem sie auf das Vertrauen der Regierung rechnete – und das richtete sie zugrunde. Ihre Bestrebungen wurden in Nichts verwandelt, die ganze Schmach ihrer Erniedrigungen, ihrer Verrätereien hatten ihr kein Körnchen Macht verschafft. Und die Rede ihres eigenen Führers ward zur grausamen Inschrift über dem Grabe ihres „demokratischen“ Liberalismus.
 

Die revolutionäre Romantik und Asew

Zugleich mit der lehrreichen, aber sittlich abstoßenden Geschichte des liberalen Sancho Pansa, der fast völlig zu einer vorrevolutionären Nichtigkeit zurückgekehrt ist, aber ohne die alten Hoffnungen und Möglichkeiten, wäre das Geschick des terroristischen Don Quichotte, der Partei der Sozialisten-Revolutionäre, imstande, ein lebhaftes Mitgefühl hervorzurufen. Wenn nur dieser arme Ritter von der traurigen Gestalt die entschiedene Absicht äußern würde, seinen Kopf von dem romantischen Unsinn zu reinigen und einzusehen, dass er, weil es die Geschichte so will, immer nur der Waffenträger des Schelmen Sancho Pansa gewesen war, der mit seiner Hilfe Gouverneur der Insel werden wollte! Aber das Vorurteil des Terrorismus hat seinen Eigensinn und seinen Enthusiasmus. Und statt des Mitgefühls für die Fehler, die der Romantismus der Sozialisten-Revolutionäre bis jetzt begangen hat, erweckt er die Notwendigkeit, sich den Fehlern, die er noch zu begehen im Begriff ist, aktiv zu widersetzen.

Seht: statt die untaugliche Rüstung von sich zu werfen, die die Hand des Polizeischurken sich zu verschaffen gewusst hat; statt die Ärmel aufzukrempeln und an die ernste revolutionäre Arbeit zu gehen, entfernen die Romantiker die letzten Körnchen von politischem Realismus aus ihrem Kopte, wollen von einer Organisation des Proletariats und der Bauernschaft nichts wissen, im Namen des nackten Terrors (siehe Revolutionärer Gedanke, Nr. 4), und unternehmen es – zum wievielten Male wohl! –, mit „eigenen“ Mitteln gegen den Zarismus zu kämpfen Jetzt wissen sie es bereits genau, wie man den versteckten Sandbänken und Klippen aus dem Wege geht. Sie werden ein neues Netz von „unfassbaren autonomen Drushinen“ schaffen, sie werden neue Parolen ersinnen, welche Asew nicht kennt, und endlich, und was die Hauptsache ist, sie werden einen großen Kessel voll Dynamit brauen von anderthalb Mal so großer Kraft wie der von Asew. Um aber die Parolen nicht durcheinander zu werfen und das Dynamit nicht zu lange kochen zu lassen, werden sie die Fenster und Türen ihres alchimistischen Laboratoriums mit Filz beschlagen – und von nun an wird kein Schrei von der Straße, kein Ton einer Fabrikpfeife den Weg zu ihnen finden und wird sie nicht hindern, jene Zauberspeise zu brauen, die auszulöffeln – ach, wer weiß, wem beschieden sein wird. Ob es ihnen gelingen wird, auf diesem Wege noch irgend ein „effektvolles“ Werk in Szene zu setzen, wissen wir nicht. Aber wir wissen genau, dass sie einem noch schlimmeren und bittereren Ende entgegengehen. Bisher konnte ihnen wenigstens der Trost bleiben, dass der Bankrott der terroristischen Taktik als eine furchtbare Ohrfeige der Geschichte dem Zarismus der dritten Duma ins Gesicht geklatscht hat. Sie haben nicht genug an dieser Großmut der Geschichte. Sie erdreisten sich aufs Neue, sie herauszufordern, und dies mit einem Starrsinn, der nicht einmal Kühnheit an sich hat, denn er ist mit Blindheit geschlagen. Und sie werden noch den letzten unbarmherzigen Rippenstoß erleben. Schon erscheint eine in ihrer Art symbolische Figur am Horizont mit den dunklen Brillen ihres Berufs, sie wirst einen Schatten auf die beginnende neue Epoche des Terrors. Das ist Bakay. Er tritt jetzt zusammen mit seinem Impresario, dem unglückseligen Burzew auf – in allen Ischariotprozessen der letzten Zeit als Zeuge und verdienstvoller Sachverständiger, und seine Reden atmen die lebensnahe Überzeugung, dass, gleich wie minus mal minus plus gibt, so auch zweifacher Verrat dem sittlichen Renommee seine jungfräuliche Frische wiedergibt. Wir wären schließlich berechtigt, es den Toten zu überlassen, ihre Toten zu begraben, wenn wir in dieser Gesellschaft nicht einige Verpflichtungen gegenüber den Lebenden hätten. Das sind vor allem die sozialrevolutionären Arbeiter. Wir wollen zu ihnen gehen und ihnen sagen: „Seht, eure Führer erklären offen, dass sie gemäß den Bedingungen ihres Berufs gezwungen sind, der Arbeiterklasse den Rücken zu kehren; euch, den Arbeitern, bleibt nur eines übrig: ein für allemal diesen Führern den Rücken zu kehren!“
 

Opportunismus und Terrorismus

Die Interpellation wegen Asew ist in der Duma durch die Initiative unserer Fraktion eingebracht worden. Gleichzeitig brachten auch die Kadetten ihre Interpellation ein, der sie eine um so weniger prinzipielle Form verliehen, je mehr sie eine, unmittelbar wundertätige Wirkung davon erwarteten. Sie irrten. Ihre Interpellation wurde ebenso einmütig wie die unsrige von der Dumamajorität nach einer „glänzenden“ Rede des Premierministers abgelehnt. Und jetzt, während diese Zeilen geschrieben werden, winselt die liberale Presse über das Misslingen der Interpellation, an die sie so viele Hoffnungen geknüpft hatte. Die Sozialdemokratie aber berührt dieser offizielle „Misserfolg“ ebenso wenig, als sie das Zusammenbrechen der terroristischen Taktik berührt hat.

Das unversöhnliche Verhalten der russischen Sozialdemokratie gegenüber dem bürokratisierten Terror der Revolution als Kampfmittel gegen die terroristische Bürokratie des Zarismus hat nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Befremden und Missfallen erregt. Wie oft wurden gegen uns verschiedene leitende sozialdemokratische Zeitungen Westeuropas zitiert! Jetzt ist es wohl kaum nötig zu beweisen, dass wir recht hatten, recht im Realsten des Realen: die politische Entwicklung hat uns nur zu überzeugend und grausam Genugtuung verschafft. Aber es ist von Interesse, noch etwas anderes zu bemerken. Fast rührend erscheint die Tatsache, dass gerade jene Genossen aus dem Westen, welche in ihrer Heimat am wenigsten blutdürstigen Ministerfressern und Monarchenvernichtern ähnlich sehen, doch der Meinung waren, dass in Russland eine mit Dynamit gefüllte Blechdose immer noch das beste Argument sei. Es wäre wohl eine unzureichende Erklärung, wollte man sich auf die Psychologie des Goetheschen Bürgers [1] berufen, der an Sonn- und Feiertagen so gern von Krieg und Kriegsgeschrei erzählen hört – hinten, weit, in der Türkei – und auf diese Weise seinem an Werktagen schlummernden Romantismus Luft macht.

Dann kehrt man abends froh nach Haus
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten

In Wirklichkeit hat der Zusammenhang zwischen dem sozialistischen Opportunismus und der revolutionären Abenteurerlust des Terrors seine Wurzeln viel tiefer. Der erstere wie der letztere legen der Geschichte die Rechnung vor dem Zahlungstermin vor. In dem Bestreben, die Geburt künstlich zu beschleunigen, bringen sie es zu Fehlgeburten – des Millerandismus oder ... der Asewwirtschaft. Sowohl die terroristische Taktik als der parlamentarische Opportunismus übertragen den Schwerpunkt von der Masse aus die repräsentativen Gruppen, von deren Geschicklichkeit, Heldenhaftigkeit, Energie oder Taktgefühl der ganze Erfolg abhängt. Hier wie dort sind breite Kulissen notwendig, die die Führer von der Masse trennen. An dem einen Pol die in Mystik gehüllte „Kampforganisation“; an dem anderen die geheimen Verschwörungen der Parlamentarier, um die blöde Parteimasse zu beglücken, wider ihren Willen. Die politisch-psychologische Wahlverwandtschaft zwischen Opportunismus und Terrorismus geht aber noch weiter. Wer (in der allerbesten Absicht) einem Ministerportefeuille nachläuft oder, wenn er weniger Schwung hat, nur der Gunst und Sympathie eines „fortschrittlichen“ Ministers, wird ebenso wie derjenige, der dem Minister selbst mit einer Höllenmaschine unter dem Mantel nachläuft, den Minister überschätzen: seine Person und seine Stellung. Das System verschwindet für beide oder wird zurückgedrängt; es bleibt nur die Person übrig, die die Macht besitzt. Der eine stimmt, um den Minister auf seine Seite zu bringen, für das Polizeibudget; der andere versteckt sich vor der Polizei und setzt dem Minister den Browning an die Schläfe. Die Technik ist eine verschiedene, beide aber wollen unmittelbar auf den Minister einwirken und übergehen die Masse. Dann weiter. Wenn sozialistische Abgeordnete zu Hofe gehen, so hoffen sie dem wohlwollendem aber schüchternen Monarchen „Mut zu machen“, oder umgekehrt, sie wollen seinem Nachfolger eine Warnung zukommen lassen in dem Sinne, dass er ein für allemal die ehrgeizige Hoffnung aufgeben müsse, einmal in fünf Jahren lebende Sozialisten bei sich zu sehen, falls er nicht in die Fußstapfen seines Vorgängers treten will. Da die russischen Sozialisten dieser feinen Mittel „moralischer“ Einwirkung entbehren, so muss man daraus folgern, dass ihnen nur der Ziegelstein physischer Einschüchterung zur Verfügung steht. In beiden Fällen aber handelt es sich um das „Bewusstsein“ des Monarchen, nicht um das Bewusstsein des Proletariats. In den Ländern mit mildem politischem Klima genügt es oft für die Sozialisten, ein paar Schritte hinter dem Sarge eines toten Gekrönten mitzugehen, um das Herz seines Nachfolgers durch die unwiderstehliche Aussicht zu erobern, dereinst auch hinter seinem eigenen Sarge Sozialisten zu sehen. Wenn aber die natürliche Thronfolge der Monarchen nicht günstig genug ausfällt, muss da – in Ländern mit rauem Klima – nicht der Wunsch aufkommen: corriger la fortune, die bewusste Kontrolle des Dynamits dorthin zu tragen, wo nur die blinden Gesetze der Vererbung und Entartung walten? Die Pädagogik kennt zugleich mit dem Honigkuchen der Belohnung auch die Rute der Züchtigung. Und wenn man die sozialistische Politik auf die Höhe der Kunst bringt Monarchen zu erziehen, so werden so verschiedene Dinge wie ein Hofknicks und das Schleudern einer Bombe als die Bestandteile eines und desselben Systems erscheinen.

Welche Fehler unsere Partei in Russland auch immer begangen hat, so ist sie doch – zu ihrer Ehre sei’s gesagt – stets beiden Formen des Utopismus gleich fern geblieben, der opportunistischen wie der Abenteurerform. So wie sie in der unterirdischen Arbeit nie mit den Sozialisten-Revolutionären auf Asew als Terroristen eine Nummer gesetzt hat, so hat sie in der Duma nicht mit den Kadetten auf Asew als Provokateur gesetzt. Sie hat es nie versucht, mittels des Asewschen Dynamits Minister zu beseitigen oder einzuschüchtern, sie hat auch nicht die Absicht gehabt, durch die Asewinterpellation Stolypin zu stürzen oder nur zu erziehen. Und darum hat sie keinen Anteil an dem Katzenjammer dieser beiden Misserfolge. In der Konspiration wie in der Duma verrichtet die russische Sozialdemokratie die gleiche Arbeit: sie klärt die Arbeiter auf und vereinigt sie. Sie kann das besser oder schlechter tun, jedoch eines steht fest: auf diesem Wege können wohl Fehler begangen werden, aber auf diesem Wege gibt es keinen Bankrott.

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Anmerkungen

A. Der Gesichtspunkt, von dem aus in der deutschen Literatur Genosse Kautsky die Konstellation der Klassen in der russischen Revolution formuliert hat, ist von einem Teile der russischen Genossen (Plechanow, Martow und anderen) einer strengen Kritik unterzogen worden. So hat sich Genosse Dan in seinen Aufsätzen in der Neuen Zeit (XXV, Nr. 27 und 28) auf den Standpunkt gestellt, dass nur der Bruch zwischen Bourgeoisie und Agrariern (als „Ding an sich“ ist die Bourgeoisie nach der Lehre dieser Art Marxismus revolutionär) der Ausgangspunkt einer neuen Erhebung der Revolution sein kann. Das angeführte Zitat aus dem führenden Blatte der Oktobristen bezeugt, dass erzbürgerliche Journalisten sich manchmal in den Klassenbeziehungen besser auskennen als einige Marxisten.

1. J.W. von Goethe: Faust: Eine Tragödie, Kapitel 5.


Zuletzt aktualiziert am 18. Dezember 2024