Leo Trotzki

 

Vor dem Ersten Mai

(27. März/9. April 1909)


Aus Prawda, Nr 3, 27. März/9. April 1909.
Übersetzung von Sozialistische Klassiker 2.0 nach dem russischen Text.
in Перед историческим рубежом. Политическая хроника. Сочинения. Том 4. Москва-Ленинград, 1926, S. 256–260.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In einen Monat ist der erste Mai. Nicht in einer frohen Stunde des Sieges, sondern inmitten der Qualen und Prüfungen des bitteren Kampfes mit dem siegreichen Feind werden wir in diesem Jahr unseren revolutionären Feiertag erleben. Und nicht nur wir, sondern die gesamte Sozialistische Internationale. Denn wahrhaftig, die kapitalistische Welt hat noch niemals so alle Deckmäntel von ihrer scheußlichen Nacktheit heruntergerissen, wie in dieser Zeit. Die Handels- und Industriekrise, die politische Reaktion, das Delirium des Militarismus, die Gefahr eines internationalen Krieges – alle höllischen Kräfte bedeckten, als wären sie verabredet, mit bleiernen Wolken den Himmel. Und durch die Schicht dieser Wolken müssen die Strahlen der Sonne des Ersten Mai durchbrechen!
 

I. Krise

Der fünfjährige Industrieboom, der für die Bourgeoisie Milliarden an Reichtum erzeugte, endete in einer Weltkrise, die Millionen von arbeitslosen Proletariern hervorbrachte. In den Schiffsladeräumen drängen sich die von Europa nach Amerika ziehenden Arbeitslosen, in die Gegenrichtung bringen die amerikanischen Dampfschiffe an die europäischen Küsten Hunderttausende von zurückkehrenden Emigranten.

Die Krise schreit von neuem den herrschenden Klassen in die Ohren: „Schaut, ein gesunder, arbeitsfähiger und -williger Mensch stirbt vor Hunger – nicht im dichten sibirischen Urwald, nicht in der wasserlosen afrikanischen Wüste, sondern auf dem Asphalt eurer reichsten Städte!“

Mit einem schrecklichen Schrei von Hunger und Kälte, von Verbrechen und Prostitution verkündet die Krise am Tag des 1. Mai eine Anklageschrift gegen den Kapitalismus! Und das revolutionäre Proletariat wird an diesem Tag von neuem seinen Eid bekräftigen: die Todesstrafe gegen diese kriminelle Gesellschaftsordnung zu vollstrecken, die längst von der Geschichte verhängt wurde.
 

II. Acht Stunden!

In den Jahren des Wachstums verschlingt das Kapital ohne Unterlass Kohle, Eisen, Baumwolle, die Muskeln der Proletarier, das Blut ihrer Frauen und ihrer Kinder. Nachdem es sich in den Krisenjahren überfressen hat, wirft es Berge von totem und lebendigem „Material“ auf die Straße. Aber der Arbeiter unterscheidet sich von Baumwolle, Kohle und Kerosin. Er ist ein Mensch! Und über diesen seinen hohen Rang sollte er am Tag des 1. Mai am lautesten sprechen.

Jetzt, wo die riesigen Kader der Arbeitslosen 24 Stunden am Tag „ruhen“ und an dieser schrecklichen „Ruhe“ sterben und verrückt werden – während ihre nicht entlassenen Mitbrüder 12–14 und mehr Stunden in Folge arbeiten, ist es jetzt mit verdoppelter Kraft notwendig, das Recht des proletarischen Menschen auf ein menschliches Leben zu verkünden.

Möge unser Ruf am 1. Mai überall gehört werden:

Acht Stunden – für die Arbeit,
acht – zum Schlafen
acht – frei!
 

III. Neben der Krise – die Reaktion

Die russländische Revolution, die den zaristischen Absolutismus ins Wanken brachte, sorgte für Verwirrung in den Reihen der kapitalistischen Regierungen. Seit 1905 wehte in ganz Europa, in der ganzen Welt die Luft der Freiheit. Unter dem direkten Einfluss unseres Oktoberstreiks [1] gewann das österreichische Proletariat das allgemeine Wahlrecht. In Preußen und Sachsen beginnt eine stürmische Massenbewegung zur Demokratisierung der Landtage (örtlichen Parlamente). In Frankreich, in England, in Nordamerika gibt es eine entschiedene Belebung der Arbeiterbewegung. Schließlich, Gebiet nach Gebiet, erwacht ganz Asien zu politischem Leben mit dem Donner der russischen Ereignisse.

Aber sobald die Selbstherrschaft die Revolution mit den Hufen der Kosakenpferden unterdrückte, fühlte sich die europäische Bourgeoisie sofort fester im Sattel. Und in diesen Monaten, wenn Stolypin sich darauf vorbereitet, das dreijährige Jubiläum seines allrussischen Henkertums zu feiern, droht die deutsche Regierung dem Proletariat mit Ausnahmegesetzen, in Preußen und Sachsen verweigern die herrschenden Klassen den Arbeiter das allgemeine Wahlrecht entschieden, die „radikale“ Regierung der französischen Republik erschießt Streikende und verfolgt mit wölfischer Grausamkeit die Arbeiterorganisationen, englischen Gerichte verhängen Bußgelder über Trade Unions (Gewerkschaften) für die Unterstützung der Arbeiterpartei, die österreichische Bürokratie macht immer weniger Umstände mit dem Parlament, das durch das allgemeine Wahlrecht gewählt wurde. Die bürgerliche Reaktion feiert Siege auf der ganzen Linie.
 

IV. Militarismus und die Gefahr von Kriegen

Und wie immer führt der Triumph der Reaktion zu einer Zunahme des Militarismus – zu Lande, zu Wasser, unter Wasser und in der Luft – und zu den Schrecken militärischer Katastrophen. Anstatt auf dem Wege radikaler innerer Reformen den Wohlstand der Massen zu heben, suchen kapitalistische Regierungen nach einem Ausweg aus den Schwierigkeiten von Krise und Arbeitslosigkeit in der Politik ausländischer Eroberung und kolonialer Plünderung. Die Konkurrenz um Märkte nimmt von Stunde zu Stunde zu, und jeder nachlässige Schritt kann zu einem monströsen internationalen Handgemenge führen, in dem das Proletariat mit dem Blut in seinen Adern für den Wahnsinn der kapitalistischen Klassen und ihrer Regierungen bezahlen müsste.
 

V. Die zaristische Diplomatie und ihre Helfershelfer

Die niederträchtigste Rolle in der internationalen Politik spielt der Zarismus. Die Machtlosigkeit seiner Armee, zerbrochen und geschändet auf den Feldern der Mandschurei, desorganisiert und korrumpiert durch Polizei- und Henkerspflichten, verdeckt er mit der Niedertracht seiner diplomatischen Intrigen. Mit der einen Hand entfacht er das Feuer auf der Balkanhalbinsel [2], wobei er angeblich zur Verteidigung des serbischen Volkes spricht, das er in der Tat erneut verraten hat, wie er es schon viele Male verraten hat. Mit der anderen Hand erhält er in Persien die Anarchie mit dem Ziel, dieses Land in Stücke zu reißen, wie er einst das unglückliche Polen zerrissen hat.

Und bei diesem teuflischen Werk ist der Zarismus nicht allein. Die Parteien der besitzenden Klassen – angefangen bei den Schwarzhundertern und endend bei den Kadetten – mit ihren patriotischen Lügen, slawophilem Rummel, der gehässigen Hetze gegen Österreich und Deutschland und ihren Stimmen für Militärkontingent und -budget decken bewusst den Rücken der zaristischen Diplomatie, deren erstes Wort falsch und deren letztes Blut ist.
 

VI. Gegen die diplomatischen Ränke

Dem blutigen Patriotismus der Ausbeuter setzt das Proletariat seine internationale Solidarität entgegen.

In der gegenwärtigen Lage dürfen die russischen Arbeiter weniger denn je schweigen. Sie sollten mit einem tausendstimmigen Chor die Proteste der sozialdemokratischen Fraktion in der Duma gegen die zaristische Diplomatie und ihre Helfershelfer unterstützen.

Mögen das unsere Erster-Mai-Losungen sein: Nieder mit der zaristischen Diplomatie mit ihren Provokationen und Verrat! Raus aus dem revolutionären Persien! Weg von der Balkanhalbinsel!
 

VII. Gegen den Militarismus!

Im Angesicht der Krämerseelen, Heuchler, Helfershelfer und Judasse des Patriotismus sagen wir von neuem: „Für uns, die Arbeiter, gibt es noch kein Vaterland – wir wollen es erst für uns begründen. Und wisst: das sozialistische Proletariat wird freiwillig nicht einen Tropfen Blut für euer Zuchthaus- und Zwangsarbeits-Vaterland vergießen, weder das eigene noch das anderer. Eure Armee ist nicht für uns, sondern gegen uns. Wir können uns von Unterdrückung befreien, nur wenn wir die zaristischen Regimenter auflösen, die Brudermord und Ausschweifung lehren. Um das Volk, seine Rechte und Freiheiten zu beschützen, müssen die selben Hände bewaffnet werden, die Hammer, Säge und Pflug führen!“

Deshalb unsere Erste-Mai-Losung: Nieder mit der stehenden Armee! Hoch die Miliz – das bewaffnete Volk!
 

VIII. Wie werden wir den 1. Mai begehen?

I. Wo immer möglich, werden wir unseren proletarischen Feiertag mit einem eintägigen Streik begehen, wie es die Resolutionen der internationalen sozialistischen Kongresse erfordern. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es unmöglich, eine allgemeine und weit verbreitete Einstellung der Arbeit zu erwarten. Aber je größer die Hindernisse, je verheerender die Krise, je härter die Reaktion lastet, desto größer wird die politische Bedeutung jeder Fabrik sein, die durch den Willen der Arbeiter für einen Tag auf Eis gelegt wird.

Der Streik am 1. Mai wird von neuem die Verbindung zwischen den verstreuten sozialistischen Arbeitern herstellen, er wird von neuem den proletarischen Massen zeigen, dass der Schlüssel zur gesamten gesellschaftlichen Produktion in ihren Händen liegt, er wird den Kampfgeist stärken, revolutionäre Traditionen wiederbeleben und eine günstige Atmosphäre für das Wachstum gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Organisationen schaffen.

Es besteht kein Grund zu bezweifeln, dass in allen Fällen, in denen unsere Komitees nach einer vorausgehenden Agitation – Hand in Hand mit den Gewerkschaftsverbänden – energisch zum Erster-Mai-Streik aufrufen werden, die Arbeiter so einmütig reagieren werden wie zur Zeit des Prozesses gegen die Sozialdemokratische Fraktion der zweiten Staatsduma.

II. Wo der Streik unmöglich ist, dort muss Agitation betrieben werden, damit alle bewussten Arbeiter ihren Lohn für den Ersten Mai in die Kassen von Partei und Gewerkschaftsverbänden einzahlen. Es wird bedeuten: Heute sind wir zu schwach, um in den Streik zu treten; aber wir stärken unsere Organisationen, um den 1. Mai nächstes Jahr angemessen zu begehen.

III. Man muss die Arbeitermassen an diesem Tag zu Zusammenkünften, Massenveranstaltungen, Versammlungen, großen und kleinen, aufrufen und führen, aus Fabriken, Betrieben, Werkstätten, Handwerksbetrieben, Quartieren, Kasernen und schließlich die Arbeitslosen von der Straße. Und lasst diese Versammlungen in Resolutionen ihre brüderliche Solidarität mit den Arbeitern der ganzen Welt, insbesondere mit den Arbeitern Österreichs und Serbiens [A], festhalten.

Im Gleichklang und Hand in Hand, bereitet euch vor, Genossen, den Ersten Mai angemessen zu begehen!

Lasst diesen Tag die Epoche der neuen Blüte des proletarischen Kampfes eröffnen!

* * *

Anmerkungen

1. Leo Trotski, Der Oktoberstreik, Auszug aus Russland in der Revolution, Druck und Verlag von Kaden & Comp., Dresden 1910, S. 63–77.

2. Leo Trotzki, Der Balkan, das kapitalistische Europa und der Zarismus, Proletarij, Nr. 38, 1./14. November, 1908.

A. Diese Resolutionen müssen zur Veröffentlichung im Sozialdemokrat (dem Zentralorgan unserer Partei) und in der Prawda mitgeteilt und auch an das Internationale Sozialistische Büro geschickt werden.


Zuletzt aktualiziert am 18. Dezember 2024