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Nach Russland in der Revolution, Druck und Verlag von Kaden & Comp., Dresden 1910, S. 63–77.
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„Sie glauben also, dass die Revolution herannaht?“
„Jawohl, sie ist nahe.“
Nowoje Wremja, 5./18. Mai 1905.
„Sie ist da!“
Nowoje Wremja, 11/27. Oktober 1905.
Völlig freie Volksversammlungen innerhalb der Universitätswände zu einer Zeit, da Trepow auf den Straßen mit unbeschränkter Gewalt herrschte – das ist eines der staunenerregendsten Paradoxe der revolutionär-politischen Entwicklung während der Herbstmonate des Jahres 1905. Irgend ein alter unwissender General Glasow, der, wer weiß weshalb, Minister der Volksaufklärung geworden war, hatte gegen seinen eigenen Willen Freistätten für das freie Wort geschaffen. Die liberale Professorenschaft protestierte: die Universität gehört der Wissenschaft; für die Politik der Straße ist kein Raum in den Hörsälen der Hochschule Fürst Sergius Trubetzkoi starb mit dieser Binsenwahrheit auf den Lippen. Doch die Pforten der Universitäten blieben im Verlaufe einiger Wochen weit geöffnet. Das Volk füllte alle Gänge, Auditorien und Säle, und die Arbeiter zogen direkt von der Fabrik in die Universität. Die Behörden gerieten in Verwirrung. Sie durften die Arbeiter bedrücken, verhaften, mit Füßen treten und niederknallen, solange diese sich auf der Straße oder in ihrer Wohnung befanden; sobald aber der Arbeiter die Schwelle der Universität überschritt, wurde er unantastbar. Die Vorzüge des konstitutionellen vor dem selbstherrlichem Recht wurden auf diese Weise den Massen in anschaulichster Form vor Augen geführt.
Am 13. Oktober fanden die ersten freien Volksversammlungen in den Universitäten Petersburgs und Kiews statt. Die offizielle Telegraphenagentur schilderte mit Worten des Grauens und Entsetzens das Publikum, das sich in der Aula der Wladimir-Universität in Kiew versammelt hatte. Abgesehen von Studenten, wurde dieser Menschenhaufe nach dem Wortlaut des Telegramms gebildet von „unbeteiligten Personen beiderlei Geschlechts, Zöglingen der Mittelschulen und der städtischen Privatschulen, Arbeitern, verschiedenem Pöbel und sonstigen zerlumpten Subjekten“
Das revolutionäre Wort durchbrach die engen Schranken der unterirdischen Tätigkeitssphäre und füllte die Säle und Auditorien, die Gänge und Höfe der Universitäten. Die Massen machten sich die in ihrer Einfachheit herrlichen Losungen der Revolution gierig zu eigen. Der unorganisierte, zufällige Haufe, der den Dummköpfen in den Reihen der Bürokratie und den Strauchrittern der reaktionären Presse als Pöbel erschien, legte eine moralische Disziplin und ein politisches Feingefühl an den Tag, das sogar bürgerlichen Schriftstellern Worte des Staunens entlockte.
„Was mich besonders auf dem Meeting in der Universität frappierte“, schrieb der Mitarbeiter der Russj, „war die ungewöhnliche, musterhafte Ordnung! In der Aula wurde eine kleine Pause angesagt, und ich schlenderte durch die Gänge. Der Hauptgang bot das bewegte Bild einer Straße. Alle anliegenden Auditorien waren dicht besetzt – hier fanden die Meetings der einzelnen Fraktionen statt. Der Gang selbst war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Menge flutete in einem fort auf und ab. Andere wieder saßen auf den Fensterbrettern, Bänken und Schränken. Man rauchte. Gesprochen wurde nur halblaut. Man konnte meinen, man befand sich auf einem zahlreich besuchten Raout [1], bloß ernster als gewöhnlich. Und dennoch war das alles Volk – unverfälschtes, urwüchsiges Volk, mit schwieligen, roten Arbeitshänden, mit jenen erdfarbigen Gesichtern, die Leuten zu eigen sind, die sich bei Tage in geschlossenen, ungesunden Räumen aufhalten. Und bei allen glänzten die Augen hell in den tiefen Augenhöhlen ... Für alte diese kleingewachsenen, engbrüstigen, schlecht genährten Leute, die direkt aus der Fabrik aus der Werkstatt hergekommen waren, wo Eisen gehärtet und Gusseisen geschmolzen wird, wo vor Rauch und Sitze der Atem stockt, war die Universität eine Art Tempel, hoch und geräumig, in schneeweißer Helle funkelnd. Und jedes Wort, das hier ertönte, klang ihnen wie ein Gebet.“
Hier herrschten ungeteilt die Redner der Revolution. Hier knüpfte
die Sozialdemokratie die zahllosen Atome der Volksmasse durch ein
lebendiges, festes politisches Band zu einem Ganzen zusammen. Hier
gab sie den tiefen sozialen Leidenschaften der Massen durch knappe,
revolutionäre Losungen Ausdruck. Die Menge, die die Universität
verließ, war nicht mehr dieselbe, die sie vorher betreten hatte
... Die Meetings fanden tagtäglich statt. Die Stimmung in
den Arbeiterkreisen wuchs mit jedem Tage mehr, doch die Partei gab
keine konkreten Direktiven. Eine allgemeine Massenaktion sollte weit
später stattfinden – am Jahrestage des 22. Januar, zur
Zeit der Einberufung der Reichsduma, die am 23. Januar zusammentreten
sollte. Der Eisenbahnerverband hatte die Zusicherung gegeben, den
Abgeordneten der Bulyginschen Duma den Weg nach Petersburg
abzuschneiden. Doch die Ereignisse waren schneller, als je erwartet
werden konnte.
Am 2. Oktober streikten die Setzer in der Druckerei von Sytin in Moskau. Sie verlangten eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung des Akkordlohnes für je 1.000 Buchstaben, die Interpunktionszeichen nicht ausgenommen; dieses geringfügige Ereignis eröffnete nicht mehr und nicht weniger als den allrussischen politischen Streik, denselben Streik, der, wegen Interpunktionszeichen entstanden, den Absolutismus zur Strecke brachte.
Der Streik bei Syten machte sich – wie das Polizeidepartement in seiner Erklärung sich beklagte – eine illegale Verbindung, die sich „Verband der Moskauer Typo- und Lithographendruckarbeiter“ nannte, zunutze. Am Abend des 7 Oktober streifte man bereits in 50 Druckereien. Der Stadthauptmann ersah in ihnen ein willkürliches Vorgehen des Delegiertenrates der Druckereien und versuchte im Namen der persönlichen Unabhängigkeit der Arbeiter, die von der Willkür der proletarischen Selbsttätigkeit bedroht seien, den SetzerstDer Oktoberstreikreik mit der Polizeifaust niederzuknütteln.
Doch der Streik, aus Anlass der Interpunktionszeichen entstanden, hatte auch schon andere Industriezweige ergriffen. Es streikten die Moskauer Bäckereiarbeiter, und zwar so beharrlich, dass zwei Hundertschaften des ersten Donkosakenregiments sich veranlasst sahen, die Bäckerei von Philippow mit der unserem herrlichen Kriegsheer eigenen Tapferkeit im Sturm zu nehmen. Am 14. Oktober wurde aus Moskau telegraphisch gemeldet, dass der Streik in den Fabriken im Abnehmen begriffen sei. Es handelte sich aber nur um eine flüchtige Ruhepause.
Am 15. Oktober fassten die Petersburger Setzer den Beschluss, ihre Solidarität mit den Moskauer Kollegen durch einen dreitägigen Demonstrationsstreik zum Ausdruck zu bringen. Aus Moskau wurde telegraphisch gemeldet, dass der Streik in den Fabriken andauerte. Zu Zusammenstößen in den Straßen kam es nicht: der beste Bundesgenosse der Ordnung war das eingetretene heftige Regenwetter.
Die erste Verwarnung erfolgte seitens der Eisenbahner, denen es beschieden war, eine ganz eminente Rolle in den Oktoberkämpfen zu spielen. Am 12. Oktober begann es in den Werkstätten der Moskau-Kursker- und der Moskau-Kasan-Bahn zu gären. Diese beiden Bahnen sind bereit, schon am 14. Oktober die Kampagne zu eröffnen. Sie werden jedoch vom Eisenbahnverband zurückgehalten, der sich von partiellen Streiks im gegenwärtigen Augenblick keinen Erfolg verspricht. Gestützt auf die Erfahrungen der Februar-, April- und Julistreiks auf einzelnen Bahnstrecken, bereitete er einen allgemeinen Eisenbahnerstreik zur Zeit der Einberufung der Reichsduma vor. Doch die Gärung hält an. Schon am 3. Oktober waren die Delegierten der Eisenbahner zu einer offiziellen Beratung über die Frage der Pensionskassen in Petersburg zusammengetreten. Diese Versammlung erweiterte nun eigenmächtig die engen Rahmen ihrer Kompetenz und verwandelte sich unter dem Beifall der ganzen Eisenbahnerwelt zu einem unabhängigen gewerkschaftlich-politischen Kongress. Von allen Seiten liefen Begrüßungen und Zustimmungskundgebungen bei dem Kongress ein – die Gärung im Volke erhielt ständig neue Nahrung, sie wuchs mehr und mehr, und der Gedanke, unverzüglich einen allgemeinen Eisenbahnerstreik zu inszenieren, tritt im Moskauer Knotenpunkt immer stärker hervor.
Am 16. Oktober wird telefonisch aus Moskau berichtet, dass der Streik in den Fabriken allmählich abflaue. Auf der Moskau-Brest-Bahn, wo die Werkstätten streikten, sei eine Strömung für Wiederaufnahme der Arbeit bemerkbar.
Der Eisenbahnerverband hat noch keinen festen Entschluss gefasst – er erwägt noch und schwankt.
Eine Delegiertenversammlung der Druckerei-, Maschinenbau-, Tischlerei-, Tabak- und vieler anderer Arbeiter beschließt, einen allgemeinen Delegiertenrat aller Moskauer Arbeiter ins Leben zu rufen.
in den folgenden Tagen scheint es, als ob eine gewisse Beruhigung eingetreten sei. Der Streik in Riga wird aufgehoben. Am 17. und 18. Oktober werden in vielen Moskauer Druckereien die Arbeiten wieder aufgenommen. Die Zeitungen erscheinen wieder. Am nachfolgenden Tage stellen sich nach einwöchiger Unterbrechung die Saratower Zeitungen wieder ein, und es hat fast den Anschein, als ob gar nichts auf die herannahenden Ereignisse hinwiese.
Auf dem Universitätsmeeting in Petersburg am 18. Oktober wird eine Resolution angenommen, die die Einstellung der Sympathiestreiks zur angegebenen Frist fordert. Am 19. nehmen die Petersburger Setzer nach dreitägigem Manifestationsstreik die Arbeit wieder auf. Am selben Tage verkündet der Stadthauptmann, dass in den Fabriken an der Schlüsselburger Trasse völlige Ordnung herrsche und dass die Arbeit, die infolge der Moskauer Nachrichten eingestellt worden war, überall wieder aufgenommen sei. Am 20. tritt die Hälfte der Arbeiter auf den Newski-Schiffsbauwerken wieder zur Arbeit an, und jenseits der Newapforte sind alle Fabriken im Gange, mit Ausnahme der Obuchow-Werke, die einen politischen Streik bis zum 23. Oktober proklamiert hatten.
Alle diese Vorkommnisse mussten den Anschein erwecken, als ob der
Streik nach einigen regellosen Versuchen aufgegeben, in weite Ferne
gerückt sei ... Es schien aber bloß so ...
In Wirklichkeit jedoch traf der Streik Anstalten, sich in seiner ganzen gewaltigen Macht zu entfalten, sein Werk in kürzester Frist zu vollenden – und erfasste mit einem Schlage die Eisenbahnen.
Unter dem Einfluss der gespannten Stimmung auf allen Eisenbahnlinien, insbesondere auf dem Moskauer Knotenpunkt, beschloss das Zentralbüro des Eisenbahnerverbandes, schon jetzt den allgemeinen Streik zu proklamieren. Es war hierbei nur eine allgemeine Probemobilisation aller vorhandenen Streitkräfte ins Auge gefasst; der Kampf selbst wurde wie früher für den Januar anberaumt.
Der 20. Oktober brachte die Entscheidung. „Die Herzkrämpfe haben begonnen“ – schrieb die Nowoje Wremja. Die Moskauer Eisenbahnen starben eine nach der anderen ab. Moskau selbst wurde vom ganzen Lande isoliert. Der Telegraph brachte einander überstürzende schreckerfüllte Nachrichten: Nischni-Nowgorod, Arsamas, Kaschira, Rjasan, Wenew, alle klagten um die Wette über den „Verrat” der Eisenbahner.
Am 20. trat die Moskau-Kasan-Bahn in den Streik und in Nischni-Nowgorod streikte die Nomodanow-Zweigbahn. Am folgenden Tage breitete sich der Streik über folgende Linien aus: Moskau-Jaroslaw, Moskau-Nischni, Moskau-Kursk. Die übrigen zentralen Punkte schlossen sich aber dem Streik nicht sofort an.
Am 21. Oktober wurde bei einer Beratung der Angestellten des Petersburger Knotenpunktes beschlossen, unverzüglich an die Organisation des auf dem Aprilkongress in Moskau gegründeten Eisenbahnerverbandes zu schreiten um der Regierung in der Folge ein Ultimatum zu stellen und die Forderungen durch einen Streik des gesamten Eisenbahnnetzes zu unterstützen. Vorn Streik wurde hier noch in unbestimmter Zukunft gesprochen.
Am 22. Oktober breitet sich der Streik auf die Bahnlinien Moskau-Kiew-Woronesch, Moskau-Brest aus. Er wird Herr der Situation und wirft festen Boden unter sich fühlend, alle gemäßigten, abwartenden oder gar feindlichen Beschlüsse über den Haufen.
Am 22. Oktober werden auf einer außerordentlichen Sitzung des Petersburger Delegiertenkongresses der Eisenbahnangestellten die allgemeinen Losungen des Eisenbahnerstreiks formuliert und allen Eisenbahnlinien auf telegraphischem Wege mitgeteilt: Achtstundentag, bürgerliche Freiheiten, Amnestie, konstituierende Versammlung.
Der Streik beginnt mit sicherer Hand im Lande zu schalten und zu walten. Alle Unschlüssigkeit verlässt ihn. Mit der Zahl seiner Teilnehmer wachst auch ihr Selbstbewusstsein. Über die ökonomischen Forderungen des Berufes erheben sich die revolutionären Forderungen der Klasse. Die engen beruflichen und lokalen Rahmen sprengend, fängt der Streik an sich als Revolution zu fühlen – und das verleiht ihm eine ungeahnte Entschlossenheit.
Er saust die Schienenstränge entlang und schließt mit mächtiger Hand den Weg hinter sich ab. Er verkündet durch den Telegraphendraht der Bahnlinie, dass er naht, und er entsendet nach allen Richtungen den Befehl: Auf zum Streik! – Am 22. meldeten die Zeitungen, dass auf der Kasan-Bahn irgend ein Elektrotechniker Bjednow mit Flugblättern verhaftet worden sei. Sie hofften noch immer, den Streik aufzuhalten, indem sie ein Päckchen Flugblätter konfiszierten. Die Narren! Der Streik verfolgt das große stolze Ziel das gesamte industrielle und Handelsleben des Landes zum Stillstand zu bringen – und er lässt bei seiner Riesenaufgabe das kleinste Detail nicht außer Acht. Wo der Telegraph sich weigert, in seinen Dienst zu treten, zerreißt er mit kriegerischer Entschlossenheit den Draht, macht er die Telegraphenstangen dem Erdboden gleich. Er gebietet den ruhelosen Lokomotiven Stillstand und lässt ihren Dampf ausströmen. Er bezwingt die Elektrizitätswerke oder beschädigt dort, wo seine Arme noch nicht hinreichen, die elektrischen Leitungen und versenkt die Bahnhofe in Finsternis. Wo eigensinniger Widerstand seine Pläne zu kreuzen versucht, schreckt er nicht zurück, die Schienenstränge auszureißen, das Semaphor zu verderben, Lokomotiven umzustürzen, den Weg zu versperren, Eisenbahnwagen quer über die Brücken zu stellen. Er bringt in den Elevator ein und setzt der Tätigkeit der Hebemaschinen ein Ende.
Bloß für seine eigenen Zwecke entbindet er sich vom Gelübde des Nichtstuns Er setzt Druckereien in Bewegung, wenn er Revolutionsbulletins bedarf, er benutzt den Telegraph für Streikbefehle und führt Eisenbahnzüge mit den Delegierten der Streikenden.
Sonst aber gestattet er keine Ausnahmefälle: er schließt Fabriken, Apotheken, Läden und Gerichte.
Hin und wieder erschlafft seine Aufmerksamkeit, und seine Wachsamkeit nimmt hier und da ab. Zuweilen bricht ein zufälliger Eisenbahnzug durch die von ihm gezogenen Schranken – dann lässt er ihm nachsetzen. Wie ein Verbrecher eilt der Zug an finsteren, leeren Bahnhöfen ohne Telegraphen-Signale vorüber, von Schreck und banger Ungewissheit begleitet. Er entgeht seinem Schicksal nicht, der Verfolger ereilt ihn und packt ihn mit eiserner Faust, bevor er noch Sein Ziel erreicht hat.
Der Streik wendet alle Mittel an: er ruft, überredet,
beschwört, fleht auf den Knien – wie es eine Rednerin auf
dem Bahnsteig des Kursker Bahnhofes in Moskau tat –, er drohe,
flößt Furcht ein, steinigt und feuert endlich aus der
Browningpistole. Er will sein Ziel erreichen, koste es, was es wolle.
Er hat zu viel auf die Karte gesetzt: das Blut der Väter, das
Brot der Kinder und endlich die Reputation seiner eigenen Kraft. Eine
ganze Klasse gehorcht seinen Befehlen; ist es dann verwunderlich,
wenn er ein unbedeutendes Teilchen, das sich ihm, von seinen Feinden
betört, in den Weg stellt, mit einem unsanften Stoß zur
Seite wirft?
Die Bewegnerven des Landes sterben mit jedem Tage mehr ab. Das wirtschaftliche Leben stockt. Smolensk, Kirsanow, Tula, Lukojanow, die vom Verkehr fast völlig abgeschnitten sind, jammern über den eingetretenen Eisenbahnerstreik und flehen vergeblich um Hilfe. Die plumpen Eisenbahnbataillone sind außerstande, etwas zu tun, da die ganze Linie, das ganze hiesige Eisenbahnnetz gegen sie ist.
Am 23. Oktober streiken alle durch Moskau laufenden Bahnen, darunter auch die Nikolaibahn (bis Twer) – und Moskau verliert sich völlig im Zentrum eines ungeheuren Territoriums.
Am Abend des 23. Oktober versammeln sich die streikenden Eisenbahner in der Aula der Moskauer Universität und fassen den Beschluss, zu streiken bis alle ihre Forderungen erfüllt sind.
Der Eisenbahnerstreik breitete sich vom Zentrum nach der Peripherie aus. Am 21. streikte die Rjasan-Uralbahn, am 22. die Brjansker Linie, am 23 die Linie Kursk-Charkow-Sewastopol, die Katarineneisenbahn und alle Linien des Charkower Knotenpunktes. Die Lebensmittelpreise stiegen überall rapid und schon am 24. hatte Moskau über Milchmangel zu klagen.
An diesem Tage machte der Streik neue Fortschritte. Auf der Samara-Slatoustowsker Bahn wurde der Verkehr eingestellt. Es streikte der Oreler Knotenpunkt. Auf den Südwestbahnen stellen die wichtigsten Stationen die Arbeit ein. Es stockte der Verkehr auf den Poljesskibahnen. In Saratow trafen im Laufe des Tages drei Züge, ausschließlich mit Delegierten, ein, die von den Streifenden gewählt waren. Die Delegiertenzüge wurden, wie der Telegraph meldete, unterwegs überall mit heller Begeisterung begrüßt
Der Streik breitete sich mit unaufhaltsamer Gewalt aus, eine Linie nach der anderem einen Eisenbahnzug nach dem anderen in seinen Bannkreis ziehend. Am 24. Oktober erließ der kurländische Generalgouverneur eine eilige Verfügung, die die Arbeitseinstellung auf den Bahnen mit Gefängnishaft bis zu drei Monaten bedrohte. Die Antwort hierauf erfolgte prompt. Schon am 25. langten keine Züge mehr in Windau an. Die Linie streikte und am 28. wurde auch die Arbeit aus dem Windauer Elevator eingestellt. In der Nacht vom 24. zum 25. wurde der Verkehr aus allen Weichselbahnen eingestellt und am Morgen des 25. der Petersburger Zug nicht mehr aus Warschau abgelassen. Am selben Tage umschloss der Streik ganz Petersburg wie mit einem Ringe. Der revolutionäre Instinkt hatte ihn die richtige Taktik finden lassen: er mobilisierte zuerst die Provinz, bombardierte die Hauptstadt mit Tausenden schreckerfüllter Telegramme und schuf dadurch die Vorbedingungen für einen günstigen, psychologischen Moment.
Am Morgen des 25. wurde aus dem gesamten Petersburger Knotenpunkt mit vollster Einmütigkeit die Arbeit niedergelegt. Nur die Finnländische Bahn arbeitete noch in Erwartung der revolutionären Mobilisation Finnlands – und stellte erst nach vier Tagen, am 29., den Verkehr ein. Am 26. erreichte der Streik Reval, Libau, Riga und Brest. Es streikte ein Teil der Taschkentbahn. Am 27. trat die Transkaukasische Bahn in den Streik. Am selben Tage breitete sich der Streik auch auf die Sibirische Bahn aus, beginnend mit Tschita und Irkutsk und, sich von Osten nach Westen fortbewegend, erreichte er am 30. Oktober Tscheljabinsk. Am 28. Oktober streikte die Station Baku, am 30. Odessa.
Zur Paralyse der Bewegnerven trat auf kurze Zeit die der Gefühlsnerven hinzu: die telegraphische Verbindung wurde unterbrochen – am 24. Oktober in Charkow, am 26. in Tscheljabinsk und Irkutsk, am 27. in Moskau, am 28. in Petersburg.
Aus Anlass des Eisenbahnerstreiks verweigerte die Post die Annahme der Korrespondenz nach anderen Städten.
Auf der alten Moskauer Trasse zeigte sich die altertümliche Troika (Dreigespanns mit ihrem metallbeschlagenen Krummholz.
Es ruhten nicht nur alle Bahnen des europäischen Russlands
und Russisch-Polens, sondern auch die Transkaukasische und Sibirische
Bahn. Es streikte die gesamte Eisenbahnerarmee – dreiviertel
Millionen Menschen!
Es erschienen besorgte Bulletins der Getreide-, Fleisch-, Gemüse- und Fischbörse usw. Die Lebensmittelpreise, besonders die Fleischpreise, stiegen rapid. Die Effektenbörse krachte in allen Fugen. Die Revolution war stets ihre Todfeindin gewesen. Sobald sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, wurde die Börse stets von sinnloser Angst erfasst. Sie stürzte zum Telegraphen, doch dieser schwieg voll Feindseligkeit. Auch die Post versagte. Die Börse klopfte nun bei der Reichsbank an, doch diese übernahm für Terminanweisungen keine Verantwortung. Die Aktien der industriellen und Eisenbahnunternehmungen wurden wie eine Schar erschreckter Vögel aufgescheucht, flogen aber nicht nach oben, sondern stürzten nach unten. Im dunklen Reiche der Börsenspekulation war Furcht und Zähneklappern. Der Geldverkehr wurde schwierig. In der Residenz tiefen keine Zahlungen mehr aus der Provinz ein. Firmen, die stets bar bezahlt hatten, stellten ihre Zahlungen ein, und die Zahl der protestierten Wechsel stieg rapid. Trassanten, Remittenten, Giranten und Kaventen eilten geschäftig und voll Besorgnis hin und her und forderten, dass die sich auf sie beziehenden Gesetzesverfügungen umgangen würden, weit der Streik, die Revolution, alle Gesetze des wirtschaftlichen Verkehrs verletzt hatte.
Der Streik begnügt sich nicht mit den Eisenbahnen, er durchbricht die zu eng gezogenen Grenzen und ist unablässig bestrebt, die Allgemeinheit zu umfassen.
Nachdem er den Dampf aus den Lokomotiven ausströmen und die Lichter auf den Bahnhöfen löschen ließ, zieht er mit einem Haufen Eisenbahnarbeiter in die Stadt. Er hält die Straßenbahnwagen auf, ergreift das Pferd des Droschkenkutschers am Zügel und zwingt den Fahrgast, auszusteigen, er schließt die Läden, Restaurants, Cafés und Wirtshäuser und tritt mit sicheren, festen Schritten an die Tore der Fabrik. Dort wird er schon erwartet. Das Alarmsignal ertönt, die Arbeit wird eingestellt und der Menschenhaufe auf der Straße wächst. Er geht weiter und trägt zulegt schon eine rote Fahne vor sich her. Auf der Fahne steht, dass er die Konstituante, dass er die Republik fordert und für den Sozialismus kämpft. Er geht an den Redaktionsräumen eines reaktionären Blattes vorbei. Hasserfüllt blickt er auf diesen Herd geistiger Vergiftung, und wenn ihm ein Stein in die Hand gerät, schleudert er ihn wuchtig in ihre Fenster. Die liberale Presse, die sich dem Glauben hingibt, dem Volke zu dienen, sendet ihm eine Deputation entgegen, verspricht, Versöhnung hinein zu tragen in diese schrecklichen Tage und bittet um Schonung. Ihre Fürbitte wird unbeachtet gelassen. Die Setzkasten werden hastig zurückgeschoben, die Setzer stürmen aus die Straße. Die Geschäftsbüros, die Banken werden geschlossen ... Ungeteilt herrscht der Streik.
Am 23. Oktober beginnt der allgemeine politische Streik in Moskau,
Charkow und Reval. Am 24. in Smolensk, Koslow, Jekaterinoslaw und
Lodz. Am 25. in Kursk, Samara und Poltawa. Am 26. in Petersburg,
Minsk, Krementschug, Simferopol. Am 27. in Homel, Kalisch, Rostow am
Don, Tiflis, Irkutsk. Am 28. in Wilna, Odessa, Batum. Am 29. in
Orenburg. Am 30. in Dorpat, Witebsk, Tomsk. Außerdem streiken:
Riga, Libau, Warschau, Bjelostok, Kowno, Dwinsk, Pskow, Poltawa,
Nikolajew, Mariupol, Kasan, Tschenstochow, Slatoust usw. Überall
stockt das industrielle Leben, vielerorts auch der Handel. Die
Lehranstalten werden geschlossen. Dem Streik des Proletariats
schließen sich auch die Verbände der Intelligenz an. Die
Geschworenen weigern sich an vielen Orten, an den
Gerichtsverhandlungen teilzunehmen, die Rechtsanwälte, die
Verteidigung zu führen, die Ärzte Kranke zu behandeln. Die
Friedensrichter schließen ihre Gerichtsstuben.
Der Streik organisiert kolossale Volksversammlungen – die Spannung in den Massen und die Verwirrung in den Regierungskreisen wächst, sich gegenseitig ständig neue Nahrung gebend. Die Straßen und Plätze werden von militärischen Streifwachen zu Fuß und zu Pferde besetzt. Kosaken suchen die Streikenden zu offenem Widerstand zu provozieren: sie sprengen in die Menge hinein, schlagen mit ihren Peitschen blindwütig um sich, hauen mit den Säbeln und feuern ohne Warnung aus dem Hinterhalte.
Dort, wo es möglich ist, zeigt der Streik, dass er mehr ist als eine einfache Arbeitsniederlegung, als ein passiver Protest mit über der Brust gekreuzten Armen. Er verteidigt sich und geht aus seiner Defensive zur Offensive über.
In einigen südlichen Städten errichtet er Barrikaden, bemächtigt er sich der Gewehrmagazine, bewaffnet er sich und leistet, wenn auch nicht siegreichen, so doch heroischen Widerstand.
In Charkow bemächtigte sich die Menge am 23. Oktober nach einem Meeting eines Gewehrladens. Am 24. wurden neben der Universität von Arbeitern und Studenten Barrikaden aufgebaut. Quer über die Straße wurden abgehauene Telegraphenstangen gelegt, darauf eiserne Torflügel, Fensterläden, Gitter, Holzkisten, Bretter und Balken geworfen und all das war mit einem Netz von Telegraphendrähten bedeckt. Eine Anzahl von Barrikaden waren auf steinernem Fundament errichtet, auf den Holzklötzen und Balken ruhten schwere Steinplatten, die aus den Trottoiren herausgerissen waren. Bis gegen 1 Uhr mittags waren mittels dieser einfachen und doch vornehmen Architektur zehn Barrikaden entstanden. Auch die Eingänge und Fenster der Universität wurden verbarrikadiert. Über den Rayon, auf dem sich die Universität befindet, wurde der Belagerungszustand verhängt und das Oberkommando über ihn dem zweifellos heldenmütigen Generalleutnant Mau übertragen. Der Gouverneur zog es jedoch vor, ein friedliches Übereinkommen anzubahnen. Mit Vermittlung der liberalen Bourgeoisie werden die Bedingungen einer ehrenvollen Kapitulation ausgearbeitet, man organisiert eine Miliz, die seitens der Einwohner mit Begeisterung begrüßt und empfangen wird. Die Ordnung wird von der Miliz wieder hergestellt, aber sie währte nur kurze Zeit, denn von der Petersburger Regierung traf sehr bald der Befehl ein, die geschaffene Ordnung mit bewaffneter Macht niederzureißen. Die Miliz wird, kaum ins Leben gerufen, auseinandergejagt, und die Stadt befindet sich wieder in der Gewalt der Hooligans zu Fuß und zu Pferde.
In Jekaterinoslaw wurden am 24. Oktober nach heimtückischer Niedermetzelung einer friedlichen Menschenmenge durch Kosaken zum ersten Mal auf den Straßen Barrikaden errichtet. Es waren ihrer sechs. Die größte und stärkste stand auf dem Brjanskipiatz. Umgestürzte Fuhrwerke, Schienen, Stangen, Dutzende sonstiger kleinerer Gegenstände – alles, was die Revolution nach dem Worte Viktor Hugos dem alten Regime an den Kopf werfen kann – wurde für deren Bau verwendet. Das Skelett der Barrikade war mit einer dichten Sandschicht bedeckt. An den Seiten waren Gräben aufgeworfen und vor der Barrikade Drahtsperren errichtet. Jede dieser Barrikaden war vom frühen Morgen an mit einigen hundert Personen besetzt. Der erste Ansturm der Truppen war erfolglos, und erst um 3½ Uhr bemächtigten sich die Soldaten der ersten Barrikade. Als sie zum Angriff vorgingen, wurden von den Dächern der Häuser zwei Bomben gegen sie geschleudert; unter den Soldaten gab es Tote und Verwundete. Gegen Abend wurden alle Barrikaden von den Truppen gestürmt. Am folgenden Tage herrschte in der Stadt die Ruhe eines Friedhofes. Das Militär putzte seine Gewehre, und die Revolution trug ihre Toten zu Grabe.
Der 29. Oktober sah Barrikaden in Odessa. Gegen Morgen werden auf der Preobraschenski- und Richelieustraße die Straßenbahnwagen umgestürzt, Schilder herab gerissen, Bäume gefällt, Bänke herbeigetragen. Umspannt mit Stacheldrahtsperren nahmen vier Barrikaden die ganze Breite der Straße ein. Sie wurden vom Militär im Sturm genommen und mit Hilfe der Hausknechte niedergerissen.
In vielen anderen Städten kam es auf den Straßen zu
blutigen Zusammenstößen mit dem Militär, wurden
Versuche gemacht, Barrikaden zu errichten. Doch im Großen und
Ganzen waren die Oktobertage Tage des politischen Streiks,
revolutionärer Manövergänge, Tage der allgemeinen
Mobilisation, Tage des Aufmarsches aller Streitkräfte,
keinesfalls aber solcher des bewaffneten Aufstandes.
Und trotzdem wich der Absolutismus zurück. Die furchtbare Spannung, die das ganze Land ergriffen hatte, die schreckerfüllten Berichte aus den Provinzen, die schon durch ihre Menge niederschmetternd wirkten, die völlige Ungewissheit, was der folgende Tag bringen würde – dies alles rief in den Regierungskreisen eine unglaubliche Panik hervor. Das volle, unbedingte Vertrauen zur Armee war geschwunden; auf den Meetings erschienen auch Soldaten, und Redner aus den Offizierskreisen gaben die Versicherung ab, dass ein Drittel der Armee aus der Seite des Volkes stünde. Der Eisenbahnerstreik schuf zudem unüberwindliche Schwierigkeiten für militärische Beruhigungsmaßnahmen. Und schließlich – die europäische Börse! Diese begriff sofort, dass sie es mit einer Revolution zu tun hatte, und erklärte, dass Sie diesen Zustand nicht länger dulden wolle. Sie forderte Ruhe und konstitutionelle Garantien.
Der Absolutismus, der den Kopf verloren hatte und sich aus seinen Positionen gedrängt sieht, wich zurück. Man verkündete das Manifest vom 30. Oktober, Graf Witte wurde zum Ministerpräsidenten ernannt, und das – möge er versuchen, es zu bestreiten! – nur infolge des Sieges des revolutionären Streiks oder, genauer gesagt: infolge der Unvollkommenheit dieses Sieges. In der Nacht vom 30. zum 31. zog das Volk mit roten Fahnen durch die Straßen, forderte Amnestie, es sang auf den Plätzen, wo die Januarmorde geschehen waren, das Trauerlied, und stieß vor den Fenstern Pobjedonoszews, sowie vor den Redaktionsräumen der Nowoje Wremja laute Flüche und Verwünschungen aus ... Am 31. Oktober früh morgens fanden bereits die ersten Mordtaten der konstitutionellen Ära statt.
Der Feind war noch nicht zu Boden geworfen, bloß
zurückgewichen auf kurze Zeit vor der unerwartet auftauchenden
Gewalt. Der Oktoberstreik zeigte, dass die Revolution jetzt imstande
war, die gesamte städtische Bevölkerung Russlands mit einem
Schlage mobil zu machen. Das war ein ungeheurer Schritt vorwärts,
– und die herrschende Reaktion bewertete ihn richtig, als sie
den Oktoberaufmarsch der revolutionären Kräfte einerseits
mit dem Manifest vom 30. Oktober beantwortete, und andererseits mit
der Mobilisation aller ihrer Streitkräfte für die Eröffnung
der Ära des schwarzen Terrors.
Vor mehr als zehn Jahren hat Plechanow auf dem Londoner Internationalen Sozialistischen Kongress gesagt: die russische revolutionäre Bewegung wird als Arbeiterbewegung siegen oder sie wird überhaupt nicht zum Siege gelangen.
Am 30. Oktober bestätigte die Selbstherrschaft den ersten ernstlichen Sieg der Revolution – und dieser Sieg war vom Proletariat errungen worden, Plechanow hatte recht: die revolutionäre Bewegung siegte als Arbeiterbewegung.
Es muss zugegeben werden, der Oktoberstreik wurde nicht nur materiell von der Bourgeoisie gefördert, sondern auch durch den Streik der Vertreter der liberalen Berufe unterstützt. Allein, das ändert an der Sache nichts. Der Streik der Ingenieure, Rechtsanwälte und Ärzte konnte ein selbständige Bedeutung nicht haben. Er verstärkte nur in geringem Maße die politische Bedeutung des allgemeinen Streiks der Vertreter der physischen Arbeit. Dagegen unterstrich er die unbestreitbare, unbeschränkte Hegemonie des Proletariats im revolutionären Kampfe: die liberalen Berufe, die sich nach dem 22. Januar die fundamentalen, demokratischen Losungen, die von den Petersburger Arbeitern proklamiert wurden, angeeignet hatten, unterwarfen sich im Oktober sogar jener Kampfesmethode, die die spezifische Macht des Proletariats darstellt – den Streik. Der revolutionärste Flügel der Intelligenz, die Studentenschaft, hatte den Streikkampf schon längst, unter feierlichen Protesten der gesamten liberalen Professorenschaft, auf der Fabrik in die Universität hineingetragen. Die weitere Entwicklung der revolutionären Hegemonie des Proletariats trug den Streik in die Gerichtsräume, Apotheken, Landschaftsämter und Magistrate hinein.
Der Oktoberstreik war eine Demonstration der proletarischen Hegemonie in der bürgerlichen Revolution und zu gleicher Zeit – eine Demonstration der Hegemonie der Stadt in einem Bauernlande.
An Stelle der Macht der Erde, die von den Volkstümlern vergöttert wurde, trat nun die Despotie der kapitalistischen Stadt.
Die Stadt war Herrin der Situation geworden. Sie konzentrierte enorme Reichtümer in sich, sie machte sich das Dorf durch die eisernen Schienenstränge Untertan, sie lockte auf diesen Schienensträngen die besten Kräfte der Initiative und des Schaffens aus allen Gebieten zu sich heran, sie unterwarf das ganze Land ihrer materiellen und geistigen Führerschaft. Vergebens weist die Reaktion auf den geringen Prozentsatz der städtischen Bevölkerung hin und findet Trost in der Behauptung, dass Russland noch immer – ein Bauernland sei. Die politische Rolle der modernen Stadt wird ebenso wenig an der nackten Ziffer ihrer Einwohnerschaft gemessen, wie ihre ökonomische Rolle. Das Zurückweichen der Reaktion vor dem Streik in den Städten unter dem Schweigen des Dorfes ist der beste Beweis für die Diktatur der Stadt.
Die Oktobertage zeigten, dass die Hegemonie in der Revolution der Stadt gehört und in der Stadt – dem Proletariat. Gleichzeitig jedoch deckten sie die politische Isoliertheit der bewusst-revolutionären Stadt von dem spontan-erregten Dorfe auf.
Die Oktobertage rollten in der Praxis in kolossalem Maßstabe die Frage auf: wem gehört die Armee? Sie zeigten, dass von der Lösung dieser Frage das Schicksal der russischen Freiheit abhängt
Die Oktobertage der Revolution zeitigten die Novemberorgien der Reaktion. Die dunklen Gewalten benutzten einen Moment revolutionären Stillstandes und gingen zur blutigen Attacke vor. Ihren Erfolg verdankten sie dem Umstande, dass der Streik, die Revolution, wohl den Hammer niedersausen lassen konnte, aber doch nicht mächtig genug war, das Schwert zu erheben. Die Oktobertage zeigten mit furchtbarer Deutlichkeit, dass die Revolution Waffen bedurfte.
Das Dorf organisieren und sich mit ihm koalieren, sich mit der Armee liieren, sich bewaffnen – das sind die einfachen und großen Konsequenzen, die von den Oktoberkämpfen und dem Oktobersieg dem Proletariat diktiert werden.
Auf diesen Konsequenzen basiert die Revolution.
November 1905
1. Abend-Gesellschaft.
Zuletzt aktualiziert am 1. November 2024