Leo Trotzki

 

Im Westen

(Notizen ohne System)

(Januar/März 1909)


Aus Kiewskaja Mysl, Nr. 30, 37, 63, 30. Januar/12. Februar, 6./19. Februar, 3./16. März 1909.
Nach Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 268–271,
s. auch den russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1.

Der Leser ist vorsorglich gewarnt, dass er in diesen Zeilen keinerlei System, nichts Abgeschlossenes vorfinden wird. Dies ist im buchstäblichen Sinne das Tagebuch eines Lesers, Zuschauers und Hörers – eines russischen Lesers und Hörers im europäischen Westen. Das neue Heft einer Zeitschrift, eine wissenschaftliche Entdeckung, ein neues Drama, eine Gemäldeausstellung oder eine technische Ausstellung – das ist das Gebiet, auf dem wir unsere Beobachtungen sammeln werden. Wenn es sich so ergibt, dass wir von Stadt zu Stadt wandern müssen, dann nehmen wir unser Heft mit. Aber am meisten werden wir lesen: denn das Leben an Hand von Büchern oder Zeitungen zu verfolgen ist leichter, als es in natura zu beobachten. Tolstoi hat irgendwann gesagt, die Erfindung des Buchdrucks habe für die Verbreitung der Unwissenheit das mächtigste Werkzeug geliefert. Der Unwissenheit, das ist wohl ein wenig zu hart, aber dem Dilettantismus – das ist unzweifelhaft. Aber was kann man machen? Die moderne Kultur ist so vielfältig und kompliziert und das Feld unserer unmittelbaren Beobachtungen und selbständigen Gedanken so winzig ... Im Endergebnis sind wir alle zum Dilettantismus verurteilt – auf allen Gebieten, mit Ausnahme des einzigen, an das wir lebenslänglich gebunden sind durch das Geschenk einer Berufung oder durch den Fluch eines Berufes ...

Der Leser wird hier kein System finden. Wir haben kein äußerliches System im Auge. Das bedeutet jedoch durchaus nicht, dass wir uns vor dem Leser mit dem Mangel eines verbindenden Gesichtspunkts wichtig tun wollen. Nur dieser letztere ist geeignet, unseren Eindrücken einen Sinn zu geben und sie zu veredeln, das Chaos in einen Kosmos zu verwandeln. Weltanschauung ist ein sehr veraltetes und im höchsten grade kompromittiertes Wort. Deshalb halten wir es für angebracht, gleich zu Anfang unsere Schuld zu bekennen, um so mehr, als es uns kaum gelungen wäre, diesen Umstand zu verbergen:wir erheben Anspruch auf eine entschiedene Weltanschauung.

Im Februarheft einer der besten deutschen Monatsschriften (Die Neue Rundschau, Berlin) ist der Aufsatz eines gewissen Karl Scheffler über „sachliche Ideale“ erschienen. Dieser Aufsatz ist der fällige Aufschrei des Entsetzens der europäischen bourgeoisen Publizistik, eines Entsetzens vor dem Morgen unserer Kultur. Scheffler leugnet nichts. Das Existierende ist historisch bedingt und deshalb unabwendbar. Mehr noch: es ist erhaben, kolossal und fordert Hochachtung. Welche machtvolle Abhängigkeit der Einzelteile, welche geniale Abstimmung in ihrer Automatik! Und dennoch: „überall weist die empörte Kritik darauf hin, dass inmitten dieses Überflusses an materiellen Gütern die Seele darbt; dass wir mehr denn je eine allumfassende Kunst entbehren; dass alle Formen der modernen Kunst durch merkantile Spekulation verwüstet werden: dass wir ohne Religion leben in einer Zeit, in der alle religiösen und philosophischen Systeme vor uns ausgebreitet liegen – zur Auswahl“. Die Industrie? Der Handel? Hier herrscht der sinnlose Geist der Spekulation. Der Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Ganzen ist zerrissen. Was für eine Masse unsinniger und fiktiver Unternehmungen frisst die wertvolle Energie der Nation. Die Wissenschaft? Unsere Universitäten amerikanisieren sich immer mehr; hier hat sich das Wort Hoffmanns von Fallersleben bewahrheitet:

„Brot ist das einzig Universelle unserer Universitäten.“

Wo liegt die Ursache dieser moralischen Desorganisation der Gesellschaft? „Im Mangel an moralisch-idealer Auffassung in sachlichen Berufen“. Man braucht nichts abzuschaffen; mag in ihrer ganzen Fülle die ererbte materielle Kultur erhalten bleiben – nur muss man, um sie vor innerer Zersetzung zu bewahren, den lebenspendenden Saft des sozialen Idealismus in ihre Adern leiten. Alle inneren Berufungen muss man adeln; das Gefühl der Berufsehre muss entwickelt, die korporativen Bindungen gefestigt und unter die kapitalistische Anarchie ein Fundament aus den Prinzipien des moralischen Konservativismus gelegt werden. Schließlich träumt Scheffler von irgendeinem kapitalistischen Feudalismus, in dem eine stabile Innungsmoral mit erbarmungsloser Konkurrenz gekoppelt werden soll. Und in dieser missgestalteten Utopie sieht er den einzigen Weg zur Rettung der deutschen Nation.

Scheffler erinnert sich weder an Carlyle, der schon vor langer Zeit gesagt hat, dass Zahlungen in bar – noch keine ausreichende Verbindung von Mensch zu Mensch seien, noch an Ruskin, der seine Landsleute zornerfüllt money-making mob, einen Geld machenden Pöbel genannt hat. Ruskin hat ebenfalls die Gesellschaft mit Hilfe stabiler moralisch-ästhetischer Ideen wiederbeleben wollen, aber er hat offen deren Unvereinbarkeit mit dem kapitalistischen Individualismus bekannt, die neueste Industrie glatt „abgelehnt“ und die Rückkehr zum zünftigen Handwerk gefordert. Natürlich ist das Irrsinn! Aber ein Irrsinn, der wenigstens den Vorzug einer schönen Konsequenz hat.

In derselben Nummer dieser Zeitschrift charakterisiert Franz Oppenheimer das Nachtleben von Berlin. Er vergleicht die Ausschweifungen der französischen Aristokratie zur Zeit des Niedergangs des ancien régime mit den Ausschweifungen der zeitgenössischen Bourgeoisie Die Schlussfolgerungen fallen nicht zugunsten der letzteren aus. Der Aristokrat fand in den Ausschweifungen seine Berufung: er gab sich ihr mit seiner ganzen Persönlichkeit hin und erreichte darin Virtuosität. Er stieg bis in die tiefsten Tiefen der Perversität hinab und ging wie Marquis de Sade bis zum Verbrechen, aber er blieb dabei ein „Künstler“. Der zeitgenössische Durchschnittsbürger bringt in seine Ausschweifungen eine nüchterne Sachlichkeit hinein. Seine Zeit ist beschränkt, und deshalb schaltet er aus seinen zufälligen Bindungen schonungslos alles „Überflüssige“ aus. Er zahlt entweder knauserig wenig, oder er gibt für die „teuersten“ Frauen horrende Summen aus, wenn er hofft, auf diese Weise seinen Kredit heben zu können. In beiden Fällen ist er demnach berechnend. Kein Schwung, keine Eleganz, nicht einmal eine übermäßige Perversität. Geiz, Schmutz und Banalität ... Scheffler hofft wahrscheinlich, mit der Wiedergeburt des „sachlichen Idealismus“ auch hier Licht und Farbe hereinbringen zu können.

In München soll im Verlag Müller, der Strindbergs sämtliche Werke herausgebracht hat, demnächst eine Autobiographie des düsteren Skandinaviers erscheinen (Entwicklung einer Seele, 1849–1871). Ein kleiner, in einer deutschen Wochenschrift (Neue Revue, No. 4–5) abgedruckter Abschnitt aus diesem Werk hinterlässt einen unvergesslichen Eindruck. Die Leiden einer empfindsamen Kinderseele in der eigenen Familie. Die Autobiographie berichtet mit erstaunlicher Schlichtheit in der dritten Person. Alles ist überaus alltäglich: die Atmosphäre der sachlichen Nüchternheit in der Familie, kleine Ungerechtigkeiten, die stumpfe Pedanterie der Erwachsenen, unmotiviertes Lob, willkürliche Strafen, alles äußerst gewöhnlich – und dabei zugleich: welch grausames Familiendrama! „Für die Erziehung reichte die Zeit nicht. Diese fiel der Schule zu – und vorher den Dienstmädchen. Die Familie war eigentlich nur Speiseanstalt und Wäscherei, und das nicht einmal zweckmäßig. Man kochte, kaufte ein, bügelte und reinigte – nichts weiter. So viele Kräfte in Bewegung – für einige wenige Personen, Ein Gasthauswirt, der Hunderte von Menschen zu beköstigen hat, wird kaum mehr Kräfte dazu benötigen“. Hier und da unterbricht Strindberg seine epische Erzählung: er ballt die Fäuste und flucht: „oh, heilige Familie, unantastbare göttliche Einrichtung ... du angeblicher Hort der Tugenden, in dem unschuldige Kinder zu ihrer erster Lüge gezwungen werden, der Wille durch Willkür gebrochen und das Gefühl der Persönlichkeit durch zu Haufen geballte Egoismen erschlagen wird. Familie, du bist der Herd aller sozialen Laster, die Versorgung aller auf Komfort versessenen Frauen, die Schmiede, in der die Ketten für den Familienvater geschmiedet werden, die Hölle für die Kinder...“ Der abgedruckte Abschnitt lässt einen denken, dass die Strlndbergsche „Entwicklungsgeschichte einer Seele“, abgesehen von ihrer autobiographischen Bedeutung, noch den Wert einer vernichtenden Anklageschrift gegen jene dumme und gewissenlose Dressur haben wird, die Kindererziehung heißt. Das Buch müsste man Eltern und Berufspädagogen empfehlen, wenn man nur damit rechnen könnte, dass die stumpfe Rasse der Eltern und Pädagogen fähig wäre, irgend etwas zu lernen.

Eine Richtung kennen die europäischen Zeitschriften – im Gegensatz zu den Zeitungen – in der Mehrzahl der Fälle nicht. Sie unterscheiden sich voneinander durch den Grad der Strenge bei der Auswahl des literarischen Materials, in der Qualität des Papiers und der Schrift. Manchmal versteht es der Herausgeber, seiner Publikation den Stempel seiner eigenen Individualität aufzuprägen wie Maximilian Harden der Zukunft. Aber das ist keine Richtung – denn was gibt es schon bei Harden für eine Richtung? Mit Hilfe solcher Zeitschriften erarbeitet sich niemand eine „Weltanschauung wie bei uns in der guten, lieben, alten, unwiederbringlichen Zeit vor etwa fünf, sechs Jahren!“ In den Zeitschriften blättert man im Café, wohin man nicht auf der Suche nach Weltanschauung geht. Die Aufsätze müssen interessant, nicht zu tief und vor allen Dingen kurz und auf gutem Papier gedruckt sein, das sich mit den Fingern angenehm anfühlt. „März“ ist die ideale Zeitschrift dieses Typs. Kautsky hat gelegentlich gesprächsweise über sie geäußert, sie sei der Simplicissimus ins Ernste übersetzt. – eine ausgezeichnete Definition. Sie drängt sich übrigens ganz von selbst auf, denn „März“ erscheint bei demselben Langen wie auch der Simplicissimus, wobei beide einige gemeinsame Mitarbeiter haben. Außer diesen schreiben Gelehrte, Professoren und Parteiführer: „März“ spart nicht an Honoraren. Ziel der Zeitschrift ist es, unterhaltend zu sein, nicht beschwerende Informationen zu vermitteln und die Aufmerksamkeit mit nicht allzu groben Sensationen zu erregen. Das Aprilheft im vorigen Jahr hat den „authentischen Text“ von Briefen Wilhelms II. an einen englischen Lord gebracht, über diese unveröffentlichten Briefe hat damals die Presse viel geschrieben. „Der authentische Text wurde telegrafisch in der ganzen Welt verbreitet, aber am nächsten Tage stellte sich heraus, dass dies ein Aprilscherz gewesen ist“... Kürzlich hat der türkische Prinz Abdulmeschid mit Empörung einen Artikel im „März“ dementiert, der so verfasst war, als handle es sich um seine eigenen Äußerungen. Ob dies ein neuer „Scherz“ oder eine alte Fälschung war, ist im Grunde genommen gleichgültig. Wenn es nur amüsant war. Im letzten Heft der Zeitschrift gibt die „große“ französische Modeschöpferin Jeanne Paquin auf Bitten der Redaktion eine ästhetische Analyse ihres Schaffens, das jährlich nicht mehr und nicht weniger als 22 Millionen Meter Seidenfaden verschlingt. Das ist – für „unsere Leserinnen“. Und daneben ein politischer Aufsatz – zum fünfzigsten Geburtstag Kaiser Wilhelms. Der Aufsatz ist in höchstem Grade sittsam: lasst uns wünschen, dass der Kaiser kein mystischer Führer sei, der das Volk zu unbekannten Zielen führt, sondern ein konstitutioneller Vertreter einer eigenständigen Nation usw. usw. Ein billiger liberaler Gemeinplatz mit einem leichten Anflug von Byzantinismus. O weh, so sieht der Schlingel Simplicissimus in die „ernste“ Sprache übersetzt aus: der gegenstandslose Radikalismus der Karikatur wird natürlich durch ... die Servilität der Politik ergänzt.

Frank Wedekind [A] hat im vergangenen Jahre dem Simplicissimus den Krieg auf Leben und Tod erklärt. In seinem Drama Oaha stellt er die Redaktion der satirischen Zeitschrift Till Eulenspiegel dar, wobei er unter den ziemlich durchsichtigen Pseudonymen den Herausgeber und die Mitarbeiter des Simplicissimus [B] zeichnet, darunter auch sich selbst. Hier taucht auch von Tichatscheck auf (d. h. von Reznicek), der da meint, es gäbe auf der Welt kein dankbareres Gebiet für die Jagd nach Witzen als Damenunterwäsche. Hier ist auch Dr. Kilian (d. h. Ludwig Thoma), nach dessen Meinung ein Wesen, das einer satirischen Zeitschrift dient, weder Liebe noch Hass gegen irgend etwas auf der Welt empfinden darf. Hier ist auch der Herausgeber Sterner (d. h. Langen), ein grober Gauner, für den Majestätsbeleidigungen eine glänzende Reklame sind. Der ehrliche Butterweck kommt ins Gefängnis (Wedekind wurde tatsächlich vor einigen Jahren wegen Majestätsbeleidigung im Simplicissimus verurteilt), während Sterner inzwischen das Gold einschaufelt. Das ganze Drama hat den Charakter einer schmutzigen Schmähschrift, und um über die rein persönlichen Motive seines Werkes keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, wählt der mit den Jahren recht schwerfällig gewordene Wedekind als Epigraph den giftigen Satz: „Dieses verfluchte Fett richtet meinen ganzen Satanismus zugrunde, den ihm der Simplicissimus einst in den Mund gelegt hatte“. Selbstverständlich blieb der Simplicissimus ihm nichts schuldig und zeichnete einen Schriftsteller Wedelgrind, der vor Gericht schwört, er sei in seiner Seele „ein heimlicher Royalist und beleidige die Majestät nur auf Verlangen des Verlegers“.

Diese ganze ekelhafte Episode, die im Grunde genommen außerhalb der Literatur steht (das Drama Oaha ist überaus schlecht!), ist nur insofern lehrreich, als es den Vorhang vor der verborgenen kleinen Welt der blasierten Ästheten, politischen Superskeptiker und Künstler-Individualisten lüftet ... Alles auf der Welt ist vom Aussatz des Philistertums befallen: alle Parteien, alle Lehren, alle Hoffnungen. Nur in der Redaktion des „Simplicissimus“ sitzen schonungslose Neinsager: sie beschäftigen sich gegen Honorar – mit Majestätsbeleidigung und geben dieses auch öffentlich zu, um ... den Verleger zu kompromittieren.

Man kratze etwas an dem anmaßenden Individualisten, und es kommt ein in Sold stehender Zyniker zum Vorschein.
 

2.

Als auf dem Schlachtfeld von Sedan im Jahre 1872 das französische und preußische Blut noch nicht getrocknet war und als in Paris die Maschinengewehre der Gerichte Thiers ihre Arbeit noch nicht beendet hatten, besuchte Gleb Uspenski Berlin. Folgendes fand er hier vor: Pallasche, Sporen, Helme, Schnurrbärte, zwei Finger am Mützenschirm, unter dem in einem engen Kragen die selbstzufriedene Physiognomie des Siegers sitzt, trifft man auf Schritt und tritt, jeden Augenblick; hier wird salutiert, dort wird die Wache abgelöst, da wird irgend etwas mit dem Gewehr angestellt, als wären sie verrückt, und dann gehen sie mit stolzer Miene irgendwohin ... Im Schaufenster sieht man den Sieger in verschiedener Gestalt: er schlitzt einem Franzosen den Bauch auf, und nachher, wenn er in die Heimat zurückkehrt, umarmt er seine Familie; der Backenbart ist bei den Helden nicht in die Richtung gekämmt, die sich gehört ... Aber das Wesentliche daran ist, dass sie von ihrer Sache vollkommen überzeugt sind, dass Stierhörner [1] statt eines Schnurrbartes schön seien, herrlicher noch als die Schönheit der schönen Helena („Das kranke Gewissen“). Diese Periode dauerte fast vierzig Jahre. Das eben erst von Bismarck eingerichtete Deutschland lebte von den Zinsen des Kapitals seiner Siege über Österreich und Frankreich. Deutschland wurde einer Prussifizierung unterworfen. Europa lebte in der Angst einer Germanisierung. Bismarck rasselte mit dem schweren Säbel und zähmte den oppositionellen Liberalismus. Wilhelm II. stellte die mittelalterliche Mystik des Monarchismus wieder her. Das deutsche Kapital eroberte Welten.

Aber es schlug die Stunde der Abrechnung. Unvermeidlich musste das Fazit nach dem russisch-japanischen Krieg gezogen werden. Die Niederlage Russlands auf den Schlachtfeldern der Mandschurei hallte als Echo in Berlin wider. Ein gewaltiges Glied – das alte russische System – war aus dem Mechanismus des europäischen Gleichgewichts mit einem Male ausgeschaltet. Es fielen die traditionellen internationalen Beziehungen, und gleichzeitig mit ihnen fiel die traditionelle Hegemonie Deutschlands. Es begann die Neuordnung der Kräfte. Und es zeigte sich, dass Deutschland nach außen isoliert und innen desorganisiert war. Es gibt keinen einheitlichen Staatsapparat. Das Parlament ist ohnmächtig. Das Land wird durch einen Absolutismus beherrscht, der durch den Kampf der Kamarillen beschränkt wird. Es begann der Eulenburg-Prozess und dann die „Kaiserkrise“. Die bürgerlichen Parteien waren betroffen beim Anblick der Eiterbeulen des offiziellen Vaterlands, das sie selbst geschaffen hatten. Es begann die Periode des nationalen Katzenjammers

Ich will hier nicht die historischen Voraussetzungen für den Zusammenbruch der vierzigjährigen deutschen Diktatur darlegen. Der Leser wird sehr gut daran tun, sich mit dem Aufsatz von Parvus im Januarheft von Sowremenny Mir (In der Sackgasse der Reichsverfassung) vertraut zu machen. Mir genügt schon allein die Tatsache, dass der unumstößliche Glaube an den Stier-förmigen Schnurrbart auf der ganzen Linie durch eine patriotische Besorgnis abgelöst worden ist. Man kann keine deutsche Zeitung oder Zeitschrift und kein politisches Pamphlet aufschlagen, ohne auf deutliche Kennzeichen eines nationalen Katzenjammers zu stoßen. Man weiß nicht, worüber man sich dabei am meisten wundern soll: über die Verwirrung oder die Hilflosigkeit. Die Publizistik ist voller Kritik und Selbstkritik; man klopft die deutsche Kultur von allen Seiten ab und stellt überall Lücken und Mängel fest, aber man tritt sofort den Rückzug an, sobald es darauf ankommt, wirkliche politische Schlussfolgerungen zu ziehen. An eine ernsthafte demokratische Bereinigung innerhalb des „nationalen“ Lagers wagt man nicht einmal zu denken, denn eine derartige Bereinigung fordert den offenen Zusammenstoß mit der Kamarilla, ein Zusammenstoß setzt die Mobilisierung der Massen voraus und eine Mobilisierung der Massen ... nein ... da muss man schon versuchen, das Problem mit Mitteln der moralischen Selbstheilung zu lösen. Wir haben in diesen Spalten schon eines dieser Rettungsprojekte besprochen, das aus der Wiedergeburt des „Idealismus“ im Handel und ganz allgemein im Geschäftsgebaren bestand. Aus welchen chemischen Elementen der geschäftliche Idealismus zubereitet werden soll, hat der Autor mitzuteilen verabsäumt. Und solcher Projekte gibt es viele.

Vor nicht so langer Zeit fand in Berlin ein Kongress von Kriminalisten statt, das heißt von Leuten, die in der Regel keineswegs von der Leidenschaft zu Verallgemeinerungen angesteckt sind. Dieser ehrenwerte Kongress hat seine Aufmerksamkeit auf die außerordentlich große Straffälligkeit des deutschen Bürgers gegenüber der deutschen Polizei gelenkt. Es stellt sich heraus, dass zum Beispiel in Stuttgart die Polizei im vergangenen Jahr 40.000 Strafen verhängt hat, in Köln – 53.000. Im ganzen Land war die Zahl der Strafen nicht weniger als 10 Millionen pro Jahr, Das bedeutet, dass jeder deutsche Bürger einschließlich der kleinsten, die noch an der Brust der Amme saugen, alle 5 bis 6 Jahre einmal „straffällig“ werden muss. Und wenn man die Säuglinge, die Kranken und Alten ausschließt sowie die hochgestellten Personen, die für die Polizei nicht erreichbar sind, dann stellt sich heraus, dass jeder Durchschnittsdeutsche mindestens einmal im Jahr für seine „lasterhaften Neigungen“ büßen muss. Auf Schritt und Tritt handelt er den Polizeivorschriften zuwider – über den Anstand auf der Straße, über die Polizeistunde bei Musik und Gesang, über das An- und Abmelden von Dienstmädchen, schon gar nicht von der Handelsordnung, den Gasthausvorschriften, der Bauordnung und sonstigen Verordnungen zu reden. Ein Radfahrer, der durch zehn Dörfer fährt, muss unter Umständen zehn Strafen zahlen und alle aus verschiedenen Gründen. Ein Kutscher, der seinen Personalausweis hat, wird bestraft, wenn er die Ausweise für seine Pferde nicht bei sich hat. Wenn der Kutscher einschläft, zahlt er Strafe. Wenn er vom Bock steigt, selbst im Falle eines Bedürfnisses, wird ihn die strafende Hand erreichen. Der ambulante Handel, eine Fahrt in der Straßenbahn, ein Spaziergang im Park, Geburt, Eheschließung und Tod – alles dies eröffnet unerschöpfliche Möglichkeiten für Bestrafungen

Ist die deutsche Natur so lasterhaft oder legt die deutsche Polizei den Bürgern untragbare Lasten auf? – diese Frage haben sich die Kriminalisten gestellt, und sie zeigten Neigung, sie nicht zu Gunsten der Polizei zu beantworten. Polizei hin, Polizei her – sagt aus diesem Anlass die Zeitschrift „Kunstwart“ (erstes Februarheft, 1909) – nicht jedes Volk wird es zulassen, dass jeder seiner Schritte vom Stacheldrahtzaun polizeilicher Vorschriften umgeben wird. Bei den Engländern zum Beispiel gibt es solcher Vorschriften recht wenige, und trotzdem entstehen dadurch keinerlei Ungelegenheiten. Das bedeutet, dass es in unserer nationalen Natur irgendeinen Defekt gibt, klagt die Zeitschrift und bringt eine satirische englische Erzählung über einen Deutscher der in der freien Luft Großbritanniens fast erstickt wäre. Bereits in Dover beginnen die Leiden des ehrenwerten Maier: der Zutritt zum Bahnhof war völlig frei; Beamte sah man fast gar nicht; das Gepäck wurde nicht kontrolliert, an den Wänden sah man keine Verordnungen, Vorschriften und Erläuterungen; hat man eine Fahrkarte gekauft, dann kann man mit jedem Zug fahren: es gibt weder Zuschläge noch Nebengebühren, noch Platzkarten. Herr Maier beginnt sich aufzuregen. Was ist das für ein Land: man weiß nicht, was erlaubt und was verboten ist!... In London besteigt unser Reisender sein geliebtes Fahrrad – Was haben sie diesbezüglich für Vorschriften? Eine einzige – halten Sie die Augen offen, damit sie sich nicht das Genick brechen. – Herr Maier ist im Park; Alleen, eingefasste Rasenflächen, alles, wie es sich gehört. Aber was ist denn das? Die Engländer steigen unverfroren über die Begrenzung und wälzen sich auf dem Rasen. In heiligem Entsetzen wendet sich der kontinentale Bürger an den Policeman. Einfassung? Bei uns sind in den Parks Einfassungen nur für das Vieh. Aber alles hat doch mal ein Ende! Als Herr Maier sah, wie Polizisten eine Versammlung unter freiem Himmel bewachten und dem Redner, der an dem König von Großbritannien und Kaiser von Indien kein gutes Haar ließ, keinerlei Scherereien machten, war die Geduld des Touristen endgültig erschöpft. Er packt seine Sachen und verlässt wütend das barbarische Land, in dem die Polizeivorschriften nur für das Vieh existieren.

Wie man es auch nimmt, die Engländer haben Recht, sagt der konservative Journalist, der Geist der Unterwürfigkeit und Liebedienerei, das Subalterne, sitzt bei uns im Blut. Der Staat dressiert die Bürger nur und bestraft sie. „Was die Erziehung der Bürger anbelangt, wird diese den Parteien überlassen und unter den Parteien in erster Linie der Sozialdemokratie. Und dann sprechen wir mit Hohn und Verdruss über die sozialdemokratische Disziplin“. Wir haben viel zu lange und unbekümmert den Trunk der nationalen Größe (Grande-Nation-Champagner) getrunken und die Ausbildung unseres Nationalcharakters vernachlässigt.

Zu diesem Thema kann man in der zeitgenössischen deutschen bürgerlichen Journalistik viel Interessantes und Scharfsinniges lesen, aber die Schlussfolgerungen konsternieren immer mit ihrer fatalen Unfruchtbarkeit. Man kann mit aller Gewissheit behaupten, dass in Deutschland alles trotz der erstaunlichen politischen Erschütterung im vergangenen Jahr beim Alten bleiben und Herr Maier seine Frau nach wie vor nur der Polizeivorschrift gemäß küssen wird.
 

3.

In der amerikanischen Zeitschrift North American Review war im Mai 1906 ein Aufsatz – „des nach Ansicht der Zeitschrift bedeutendsten heute lebenden Philosophen der Vereinigten Staaten“ – zu dem Thema erschienen, dass die Kapitalisten uns ein Mittel weisen müssen, mit dessen Hilfe man die Anhäufung von Vermögen, die wachsenden Widersprüche zwischen den Klassen und die Gefahr großer Reichtümer einschränken könnte: „sonst wird sich die amerikanische Arbeiterklasse unter Führung der Sozialisten erheben und die Unternehmer einfach wegfegen“. Der Verfasser dieses Aufsatzes ist offensichtlich der Stahlkönig Andrew Carnegie. In den beiden letzten Heften der deutschen Wochenschrift Neue Revue kommt Carnegie erneut auf das Problem zurück, dem er sein Buch Evangelium des Reichtums gewidmet hat. Man kann nicht behaupten, dass „der bedeutendste lebende Philosoph der Vereinigten Staaten, durch die Tiefe oder Neuheit seiner Gedanken“ überrascht. Wie die Mehrzahl der amerikanischen Philosophen ist Carnegie ein Mensch „mit nur einer Idee“, die dabei noch nicht einmal sehr bedeutend ist. Wie Henry George die Rettung in einer einheitlichen Grundsteuer erblickte, so löst Carnegie das „Problem des Reichtums“ mit Hilfe einer progressiven Erbschaftssteuer. Die Grundlagen des Bestehenden zu erschüttern, kommt dem amerikanischen Reformer nicht in den Sinn „Wenn ich zu dem Schluss käme, schreibt er, dass die Erbschaftssteuer den Sozialismus oder Kommunismus begünstigen oder in irgendeiner Form die individuelle Initiative hemmen könnte, dann wäre ich selbstverständlich der letzte, der es auf sich nehmen würde, eine solche Maßnahme zu vertreten, denn es gibt nichts, wovon ich mehr überzeugt wäre, als dass nur im Individualismus das Geheimnis des Fortschritts liegt“. Auf den folgenden Seiten der deutschen Zeitschrift lässt der ehrenwerte Yankee an der Lehre von Marx nicht ein einziges gutes Haar – und alles das mit Hilfe selbst gefertigter Gleichnisse, von denen jedes mit den Worten beginnt: „ein Farmer hatte fünf Söhne“.

Wie erfolgreich jedoch Carnegie in der Theorie gegen die Werttheorie von Marx gekämpft haben mag, in der Praxis realisiert er mit unvergleichlich größerem Erfolg die marxistische Theorie der Kapitalkonzentration Auf diese Seite der Angelegenheit wirft das kürzlich in Stuttgart erschienene Buch von E. v. Hesse-Wartegg „Amerika als industrielle Weltmacht unserer Tage“ ein grelles Licht. In diesem Werk gibt es „lebendige Zahlen“, die unvergleichlich ausdrucksvoller sind als die biblischen Geschichten von den heldenmütigen Farmern.

Das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten wird von 440 Trusts beherrscht, in denen 8.600 Firmen und Aktiengesellschaften zusammengefasst sind. Jeder der sechs großen Eisenbahntrusts verfügt über ein Kapital von 4 Milliarden Mark und der Morgantrust – von 5 Milliarden. Drei Viertel des gesamten Eisenbahnnetzes – und das ist mehr als das gesamte Eisenbahnnetz Europas – befinden sich in den Händen von sieben Personen. Der Stahltrust, dessen Hauptaktionär Andrew Carnegie ist, hat im Jahre 1906 einen Reingewinn von 533 Millionen und einen Bruttogewinn von 27 Milliarden Mark gebracht! In den 1.600 Betrieben dieses stählernen Leviathans sind 170.000 Arbeiter beschäftigt. In den Kassen befinden sich stets 200 Millionen Mark in bar „für laufende Ausgaben“. Carnegie erhält für seinen Anteil in Höhe von einer Milliarde Mark jährlich 80 Millionen Mark an reinem Einkommen. Wie man sieht, ist dieser „bedeutendste der Philosophen Nordamerikas“ dem Diogenes recht wenig ähnlich. In Erwartung der progressiven Erbschaftssteuer stellt Carnegie mit Hilfe von großzügigen Stiftungen das soziale Gleichgewicht wieder her: er gab an 1.400 Bibliotheken – 42 Millionen Dollar, an 51 Lehranstalten – 8 Millionen Dollar, an das Carnegie-Institut – 10 Millionen, an schottische Universitäten – 10 Millionen, an den Friedenstempel in den Haag – 1½ Millionen, an die technische Hochschule in Pittsburgh – 10 Millionen usw., usw., insgesamt 120½ Millionen Dollar, das heißt fast 250 Millionen Rubel Und dabei hat er noch nicht einmal sein Grundkapital in Anspruch genommen!

Noch mächtiger als Carnegie ist der alte Rockefeller, das Rückgrat des Erdöltrusts Roosevelt suchte gegen Rockefeller, Morgan und Harriman als „in höchstem Maße unerwünschte Bürger den Kreuzzug zu erklären. Er ist jedoch nach den ersten Schritten gestolpert. Harriman klopfte mit der Hand auf sein Notizbuch und sagte: „Hier sind bei mir gewisse Ausgaben für deine Wahl notiert, Teddy!“ Roosevelt wurde augenblicklich friedlich und dankte nach dem ersten Ausbruch der Währungskrise im Herbst 1907 ehrerbietig den „in höchstem Maße unerwünschten“ Milliardären für die „geschickte Verhütung“ der drohenden Gefahr, die sich übrigens keineswegs als verhütet erwies und sich in einer verheerenden Handels- und Industriekrise entlud, die bis zum heutigen Tage andauert.

„Der Kampf“ Roosevelts gegen die Trusts wie auch Carnegies Agitation für eine progressive Erbschaftssteuer haben ein und denselben Ursprung: die Panik vor der lawinenartigen Konzentration des Kapitals E. Hesse illustriert diese Konzentration in Zahlen. Das gesamte Vermögen der Vereinigten Staaten wird auf 115 Milliarden Dollar geschätzt, wobei 840.000 Personen 103 Milliarden in ihrer Hand haben, während 83 Millionen Personen lediglich über die restlichen 12 Milliarden verfügen. Das bedeutet: ein Prozent der Bevölkerung verfügt über 90 Prozent des Volksvermögens und 83 Millionen über ein Jahreseinkommen von 140 Dollar je Kopf. 2⅔ Millionen Familien haben ein Einkommen zwischen 5.000 und 120.000 Mark Einige hundert Personen verfügen über hunderte von Millionen, einige Dutzend über je eine halbe Milliarde, und das vermögen dreier Personen bemisst sich nach Milliarden

Man tröstete sich damit, dass diese ungeheuren Trusts zum mindesten Planmäßigkeit in die Produktion bringen und die Katastrophe der Überproduktion abwenden würden. Aber diese Hoffnungen brachen 1907 zusammen – und mit ihnen Dutzende von Banken, Fabriken und Betrieben. Nun ist es bereits das zweite Jahr, dass die Zahl der Arbeitslosen in den Vereinigten Staaten mit drei Millionen angegeben wird. Hierher, nach Europa, bringen amerikanische Dampfschiffe zehntausende von Auswanderern zurück. Mit der Wohnung im Weißen Haus hinterließ Roosevelt seinem Nachfolger zugleich als Erbe die Verpflichtung, gegen die Trusts zu kämpfen, das heißt im Grunde genommen, gegen den unabwendbaren Prozess der Konzentration von Kapital. Taft übernahm mutig diese Verpflichtung. Aber die europäische Börse lachte sich wie die amerikanische eins ins Fäustchen Wenn der Athlet und Tigerjäger Roosevelt dem goldenen Drachen keinen einzigen Schlag versetzen konnte, wie sollte es dann diesem Dickwanst Taft, der 2½ Zentner wiegt, gelingen! ... Ihm wird nichts anderes übrigbleiben, als mit dem Strom zu schwimmen.

Aber wohin trägt uns diese Strömung? fragt Carnegie warnend und erzählt seine Gleichnisse von den arbeitsamen Farmern ...

Versetzen sie in Gedanken John Davison Rockefeller aus Richfield – nun wohin wohl? – nach Jasnaja Poljana. Führen sie ihn in das Kabinett des Grafen Tolstoi, setzen sie die beiden einander gegenüber und schlagen sie ihnen einen „Gedankenaustausch vor. Der Altersunterschied der beiden ist nicht sehr groß: Tolstoi ist vor kurzem 80 Jahre alt geworden, und Rockfell« wird im Juli 70. Aber kann man sich größere Gegensätze vorstellen, als die Schicksale dieser beiden Personen: des Aristokraten, der sich den Bauernrock anzog, und des Plebejers, der sich auf den Thron der Weltbörse erhoben hat? In dem Alter, in dem Tolstoi als Student der Kasaner Universität mit jugendlicher Hingabe das Leben abzutasten und auszukosten suchte, musste Rockefeller bereits mit Zähnen und Krallen seinen Platz im Wirbel der Konkurrenz verteidigen. Mit 19 Jahren, als Tolstoi mit einem mühelos erworbenen Vorrat an Universitätswissen sich sorglos auf dem weichen Rasen der Familienbesitzung räkelte, war Rockefeller bereits Leiter eines von ihm selbst gegründeten Unternehmens. Die Jahre, in denen Tolstoi die Uniform eines Artillerieoffiziers trug, verbrachte Rockefeller hinter dem Hauptbuch. Und endlich, im reifen Alter, als der große russische Schriftsteller, der Leere und Zwecklosigkeit des Lebens müde, auf Selbstmordgedanken gekommen war, schuf sich Rockefeller nach einem Bankrott bereits zum zweiten Male sein Vermögen. Beide sind sie zu Weltruhm gelangt, aber auf welch verschiedenen Wegen!

Die Idee – Lew Nikolajewitsch und John Davison zusammenzuführen – stammt von Maximilian Harden. Er veranlasst die beiden Greise, den aus Jasnaja Poljana und den aus Richfield, miteinander zu disputieren – in einem Artikel, der auch so heißt: Disputation (Zukunft, no. 23).

Sie verurteilen alles, sagt Rockefeller, nachdem er sich Tolstois Predigt angehört hat – Kirche, Staat, Reichtum, Kultur, alles, was wir lieben, schaffen und schätzen. Sie predigen den Bauernrock, die Keuschheit und den Hakenpflug Aber schauen sie: Savonarola, der der Welt die Kutte der Askese anziehen wollte, haben seine Zeitgenossen verbrannt, sie aber werden von den Bewohnern beider Hemisphären vergöttert. Ist denn ihr los nicht beneidenswert?

Ihnen gegenüber sitzt ein Milliardär. Aus der Erde holt er die Quellen der Macht und des Reichtums, er legt Wege an, vereinigt die Menschen, baut Städte, führt Ordnung und Arbeitsdisziplin ein, richtet Schulen und Universitäten ein, und was geschieht? – er wird ständig an den Pfahl des Hasses und der Schande genagelt. Jeder Demagoge, ob er Roosevelt oder Bryan heißt, lästert seinen Namen und bespuckt seine Ehre. Ich weiß, Sie werden sagen: sie haben Recht. Aber wieso? Weil ich die Schwachen umstoße und die Ohnmächtigen wegfege? Aber sagen sie mir: wie könnte ich sonst vorwärtskommen? Schließlich ist die Welt doch nicht von mir erschaffen, und ich nehme nicht wie Aie die Verantwortung für die Pläne Gottes auf mich: mir genügen meine eigenen Angelegenheiten.

Sie verdammen den Wahnsinn des Krieges. Diese Beschäftigung ist sehr human, sie erobert die Herzen der Frauen und bringt Ruhm. Mehr noch: dafür gibt es jetzt Prämien – in Gold ... in Gold, das ich aus dem Schoß der Erde hole.

Dieser über zehn Seiten füllende Disput – ich habe ihn nur schematisch wiedergegeben – endet, wie man sieht, nicht mit einem Siege Tolstois. Ja, konnte es denn anders sein in einem Dialog, in dem Maximilian Harden als Souffleur auftritt, dieser kleine Rockefeller der deutschen kapitalistischen Journalistik. Wer anders, wenn nicht er, der talentierte und vor nichts zurückschreckende Polemiker, der sich seinen Weg mit den Ellenbogen gebahnt hat, sollte den Gesetzen der freien Konkurrenz huldigen? Sie ist allein schon dadurch göttlich, dass sie seiner Wochenschrift 35.000 Abonnenten und 312.000 Mark Reineinnahmen jährlich einbrachte ... Konnte denn Harden, ausgerechnet er, der immer ein Lakai der Macht war – erst unter Bismarck, jetzt unter Bülow – tatsächlich die Predigt der Demut und der Abkehr von der Gewalt verstehen Das stimmt schon alles. Und trotzdem muss man zugeben: den Reden Rockefellers verstand Harden eine innere Überzeugungskraft zu verleihen. In dem Disput der beiden geographischen und moralischen Antipoden befinden sich die Sympathien des sittlichen Gefühls auf Seiten Tolstois, Die Sympathien des Verstandes dagegen ... man muss sie kräftig bremsen, damit sie sich nicht auf die Seite Rockefellers schlagen. Der amerikanische Milliardär oder, genauer gesagt, sein deutscher Apologet, trifft Tolstois Achillesferse mit unfehlbarer Sicherheit: seinen Rationalismus. Wer alles verurteilt, rechtfertigt alles, denn Rechtfertigung hat nur Sinn, wenn auch verurteilt wird. „Sie werfen alles beiseite: aber in der Gemeinschaft ist selbst der Tod noch schön!“ – kann Rockefeller zu Tolstoi sagen. Und auf dem Hintergrund von Tolstois Ablehnung der gesamten Geschichte tritt der amerikanische Erdölmagnat als Vertreter der Weltkultur hervor.

Rockefeller kann man nur besiegen, wenn man sich auf seine Ebene begibt. Man muss ihn von der Kultur lösen. Die Kultur bejahen, den alten John Davison aber ablehnen. Man muss ihm zeigen, dass er nicht der lebendige Träger des Fortschritts ist, sondern ein Gewicht an den Füßen der Geschichte ...

* * *

Anmerkung

A. Leo Trotzki, Frank Wedekind, Liternaturnyj Raspad,14./27. Februar 1908.

B. Leo Trotzki, Simplizissimus, Kiewskaja Mysl, Nr. 178, 29. Juni 1908.

1. Gemeint ist der wilhelminische Schnauzbart.


Zuletzt aktualiziert am 16. Dezember 2024