Leo Trotzki

 

Über Optimismus und Pessimismus,
über das 20. Jahrhundert
und viele andere Themen

(17. Februar 1901)


Auszug, nach Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der Revolution, Frankfurt am Main 1981, S. 43f.
Wostotschnoje Obosrenije [Östliche Rundschau], Nr. 36, 17. Februar 1901, unter dem Pseudonym Antid Oto.
Verglichen mit dem vollständigen russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Dum Spiro spero!
[Solange ich atme, hoffe ich!]

... Wäre ich einer der Himmelskörper, so würde ich völlig unbeteiligt auf diesen elenden Ball von Staub und Schmutz herabblicken ... Ich würde die Guten und Schlechten in gleichem Maß bescheinen ... Aber ich bin ein Mensch. Die Weltgeschichte, die für dich kaltherzigen Genießer der Wissenschaft, für dich, du Buchhalter der Ewigkeit, nur ein unbedeutender Augenblick im Kommen und Gehen der Zeiten ist – für mich bedeutet sie alles! So lange ich lebe, werde ich für die Zukunft kämpfen, die strahlende Zukunft, in der der Mensch, stark und schön, Herr über den dahineilenden Strom der Geschichte sein wird, um seine Wasser dem grenzenlosen Horizont der Schönheit, der Freude und des Glückes entgegen zu führen! ...

Das neunzehnte Jahrhundert hat in vieler Hinsicht die Hoffnungen des Optimisten erfüllt, noch öfter aber enttäuscht ... Es hat ihn gezwungen, die meisten seiner Hoffnungen auf das zwanzigste Jahrhundert zu übertragen. Immer dann, wenn der Optimist einer scheußlichen Tatsache gegenüberstand, rief er aus: Was, und das kann an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen! Wenn er von der harmonischen Zukunft wunderbare Bilder malte, so war die Szenerie immer die des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und nun ist dieses Jahrhundert gekommen! Was hat es gleich zu Beginn gebracht?

In Frankreich – den Giftschaum des Rassenhasses; in Österreich – nationalistische Streitigkeiten ...; in Südafrika – den Todeskampf eines winzigen Volkes, das von einem Riesen hingemordet wird; auf der ‚freien‘ Insel selbst – Triumphgesänge an die siegreiche Gier chauvinistischer Geschäftemacher; dramatische ‚Komplikationen‘ im Osten! Rebellionen hungernder Volksmassen in Italien, Bulgarien, Rumänien ... Hass und Mord, Hungersnot und Blut ... Es scheint so, als ob das neue Jahrhundert, dieser gigantische Neuankömmling, vom ersten Augenblick seines Erscheinens an nur darauf aus wäre, den Optimisten in einen völligen Pessimismus und ein bürgerliches Nirwana hineinzutreiben.


Zuletzt aktualiziert am 12. September 2020