MIA > Deutsch > Sedov > Rotbuch
Der individuelle Terror stellt sich zur Aufgabe, durch Ermordung einzelner Personen eine politische Bewegung und sogar eine politische Revolution hervorzurufen. Im vorrevolutionären Russland hatte die Frage des individuellen Terrors nicht nur eine allgemein-prinzipielle, sondern auch gewaltige politische Bedeutung, denn in Russland existierte die kleinbürgerliche Partei der Sozialrevolutionäre (die Epigonen der heroischen „Narodnaja Wolja“), welche die Taktik des individuellen Terrors den zaristischen Ministern und Gouverneuren gegenüber anwandte. Die russischen Marxisten, darunter seit seinen allerjüngsten Jahren auch Trotzki, haben am Kampf gegen die Abenteurertaktik des individuellen Terrors und seine Illusionen mitgewirkt, eine Taktik, welche den Weg zur Revolution nicht in der Arbeiterbewegung, sondern im terroristischen Einzelgänger mit der Bombe erblickte. Dem individuellen Terror stellt der Marxismus die proletarische Revolution gegenüber.
Seit seiner Jugend ist Trotzki – entschieden und auf immerdar – zum Marxismus gestoßen. Gäbe man alles heraus, was Trotzki geschrieben hat, so würde das Dutzende von dicken Bänden ausmachen. Darin ist keine einzige Zeile enthalten, aus der ein zweideutiges Verhalten zum individuellen Terror zu entnehmen wäre. Es ist unglaublich, dass man heute davon überhaupt reden muss!
Hier ein Beispiel, wie Trotzki 1911 in der österreichischen Zeitschrift Der Kampf die Einstellung des Marxismus zum individuellen Terror formulierte:
„Ob Terroranschläge, auch „gelungene“, in den herrschenden Kreisen Verwirrung stiften oder nicht, das hängt von den konkreten politischen Umständen ab. Auf jeden Fall kann diese Verwirrung nur von kurzer Dauer sein; der kapitalistische Staat ruht nicht auf den Ministern und kann nicht mit ihnen vernichtet werden. Die Klassen, denen er dient, finden stets neue Menschen, – der Mechanismus bleibt heil und setzt seine Arbeit fort.“
„Doch weitaus tiefer ist die Verwirrung, die die Terroranschläge in den Reihen der Arbeitermassen selbst stiften. Wenn es genügt, sich mit einer Pistole zu bewaffnen, um ans Ziel zu gelangen, wozu dann die Mühe des Klassenkampfes? Wenn man die Oberen mit dem Knall eines Schusses einschüchtern kann, wozu. dann eine Partei?“
Sein ganzes bewusstes Leben – 40 Jahre! – hat der Marxist Trotzki der Arbeiterbewegung gewidmet. In den letzten 20 Jahren spielte sich Trotzkis revolutionäres Wirken vor den Augen der ganzen Welt ab. In diesem Wirken könnten auch die bösartigsten Feinde keine „doppelte Buchführung“, Kompromisse auf Kosten des Marxismus entdecken. 40 Jahre lang ging Trotzki immer auf geradem Wege zum Ziel. Jetzt den Weg des individuellen Terrors beschreiten, dem Marxismus entsagen, hieße für Trotzki, nicht nur sich selbst verleugnen, sondern auch die Frucht einer vierzigjährigen revolutionären Arbeit zunichte machen. Das wäre gleichbedeutend mit politischem Selbstmord.
Die Bolschewiki-Leninisten-Marxisten, die den individuellen Terror gegenüber dem bürgerlichen Polizeistaat ablehnen, denn nur das Proletariat selbst vermag ihn zu stürzen, lehnen den individuellen Terror mit umso mehr Grund im Lande der Sowjets ab, wo die größte soziale Revolution der Geschichte stattfand. Der individuelle Terror in der USSR kann – ganz unabhängig von den eigenen Absichten der Terroristen – nur der Sache der bonapartistischen Konterrevolution dienen, nur dem Faschismus den Sieg in der USSR erleichtern.
Die Linke Opposition war stets, zum Unterschied von den Bürokraten und den Terroristen, der Meinung, dass es nicht um Stalin persönlich, sondern um die sozialen Veränderungen geht, die sich in der USSR vollzogen haben, und als deren Folge Stalin der Erfolg beschieden war. Stalins Absolutismus ist durchaus nicht zufällig, sondern das Resultat der geschichtlichen Entwicklung. Nicht Stalin persönlich hat eine unumschränkte Macht, sondern die Bürokratie als soziale Schicht, vermittels Stalin. Diese unbeschränkte Macht der Bürokratie war ein Geschenk der Reaktion, welche die heroische Epoche der russischen Revolution ablöste. Die Stärke der Bürokratie und – davon abgeleitet – die Stärke Stalins, „ihrer hervorragendsten Mittelmäßigkeit“, beruht keineswegs in Stalins „Genialität“, sondern in dem fürs Proletariat äußerst ungünstigen Klassenverhältnis, das in der letzten Periode in und außerhalb der USSR entstand.
Stalins Beseitigung (vom Posten des Generalsekretärs) als persönliche Frage wurde Anfang 1923 von Lenin aufgeworfen; Und damals konnte das einen Sinn haben, weil es den Kampf gegen die noch nicht gefestigte Bürokratie erleichtern konnte. Heute – und bereits seit langem – existiert die Frage Stalin als selbständige Frage nicht. Mit seiner Ermordung kann das soziale Kräfteverhältnis nicht verändert und der objektive Gang der Entwicklung nicht aufgehalten werden. Stalin persönlich beseitigen würde heute nichts anderes bedeuten, als ihn durch einen der Kaganowitsche zu ersetzen, den die Sowjetpresse im Eiltempo zum größten Genie aller Zeiten machen würde.
Die Sowjetbürokratie ist die größte Gefahr für die USSR. Aber nur ein aktiver Aufschwung der Arbeiterklasse vermag sie zu entfernen, und dieser Aufschwung ist nur im Gefolge eines Wiedererwachens der Arbeiterbewegung im Westen möglich, welche, auf die USSR übergreifend, den stalinschen Absolutismus unterhöhlen und wegschwemmen würde. Andere Wege kann es für revolutionäre Marxisten nicht geben. Und nicht mit Hilfe einer Polizeimache wird es Stalin gelingen, den Marxismus und die Marxisten zu diskreditieren! Bald sind es hundert Jahre, dass die Weltpolizei sich in dergleichen Affären versucht – bereits vor Bismarck und Napoleon III. –, doch noch jedesmal hat sie sich die Finger verbrannt! Stalins Polizeifälschungen und -machinationen überragen kaum die bisherigen Muster dieser Gattung; er aber hat sie durch „Geständnisse“, die den Angeklagten mit Hilfe der unendlich vervollkommneten Inquisitionsmethoderi abgepresst wurden, ergänzt, – und wie ergänzt!
Um den Marxismus zu diskreditieren, schiebt Stalin immer denselben Reingold vor, welcher aussagt, „Sinowjew begründete (!)... die Notwendigkeit der Anwendung des Terrorismus damit, dass, obgleich (?) der Terror mit dem Marxismus unvereinbar ist, man dies (!!) im gegebenen Augenblick über Bord werfen muss.“ [1] Das edle Sprachgebilde! Sinowjew, nicht wahr, begründete dies damit, dass, obgleich dies mit dem Marxismus unvereinbar ist, „man dies über Bord werfen muss“. Welch analphabetischer Blödsinn!
Dem Marxismus, wie überhaupt aller Theorie, steht Stalin mit Furcht und zugleich halb verächtlich gegenüber. Als beschränkter Empiriker, „Praktiker“, war Stalin für die Theorie und den Marxismus stets ein Fremdling. Für ihn ist der Marxismus, genauer: sind dem „Marxismus“ entlehnte Argumente, vor allein Deckung, Rauchschleier. Viel näher liegen ihm selbstverständlich die handgreiflichen Argumente des täglichen Gebrauchs, und insbesondere die des politischen Gangsterismus. Das ist sein Element.
* * *
Geht man an die Frage des individuellen Terrors in der USSR nicht vom theoretischen, sondern vom rein „empirischen“ Standpunkt heran, vom Standpunkt des sogenannten gesunden Menschenverstands, so genügt die folgende Bilanz: der ermordete Kirow wurde sofort durch einen anderen Kirow, Shdanow, ersetzt (davon hat Stalin soviel, wie er will, in Reserve). Indes, hunderte von Menschen wurden erschossen, tausende, wahrscheinlich zehntausende verbannt, der Druck nahm ungemein zu.
Wenn Kirows Ermordung jemandem genutzt hat, so der Stalinbürokratie. Unter dein Vorwand des Kampfes gegen die „Terroristen“ hat diese die letzten Regungen des kritischen Denkens in der USSR erstickt. Sie hat einen schweren Sargdeckel über alles Lebendige gestülpt.
Selbstverständlich stösst Stalin mit seiner Politik selbst einzelne politisch rückständige und verzweifelte Gruppen der Jugend auf den Weg des Terrorismus. Dadurch dass Stalin die Freiheit auf das Recht reduziert hat, hundertprozentige Unterwürfigkeit zur Schau zu tragen, dadurch dass er alles öffentliche Leben in der USSR erstickt, dass er niemandem ermöglicht, im Rahmen der proletarischen Demokratie seine Meinung zu äußern, muss er einzelne verzweifelte Menschen unweigerlich auf den Weg des Terrors drängen. Die Verpersönlichung des Regimes – Partei, Arbeiterklasse das gibt es nicht, allein Stalin und das lokale Kaganowitschlein gibt es – muss ebenfalls den terroristischen Tendenzen Nahrung geben. In dem Masse, wie diese in der USSR wirklich bestehen, trägt Stalin – und nur er – dafür die volle politische Verantwortung. Ihr Urheber ist das Stalinregime, nicht die Linke Opposition.
In der gleichen Richtung wirkt auch die wahnwitzige, viehische Repression, insbesondere die letzten Moskauer Erschießungen (und in der USSR werden ohne Zweifel noch viele andere Erschießungen vollzogen, von denen wir nichts erfahren!). Als Nikolajews Schuss ertönte, haben die Kommunisten-Internationalisten aufs unerbittlichste, entschiedenste den individuellen Terror verurteilt. Heute stehen sie mehr denn je auf diesem Standpunkt. Kann Stalin durch seine Politik, sein Regime und die Ausrottung der Opposition terroristische Stimmungen wecken, so gebietet die revolutionäre Pflicht den Bolschewiki-Leninisten, mit allem Nachdruck zu wiederholen: der Weg des individuellen Terrors ist nicht unser Weg, er kann nur zum Verderbe der Revolution führen; nur der bonapartistischen Konterrevolution, nur ihr, kann er den Weg erleichtern.
1. Prozessbericht, S.55; von uns aus dem überaus plumpen russischen Urtext neu übersetzt.
Letztes Kapitel | Nächstes Kapitel
Anfang der Seite
Zuletzt aktualisiert am 9.07.2009