L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Lenin, der erste Terrorist


Im Prozess wie in der Voruntersuchung gebrauchten die offiziellen und die inoffiziellen Ankläger (d.h. die Angeklagten) mit Vorliebe den Ausdruck: man muss „Stalin beseitigen“. In der Voruntersuchung wird diese Formel anfangs wie ein ungeformtes Stück Eisen gebraucht, aus dem man eine Axt, aus dem man aber auch nichts machen kann. Ob legal „beseitigen“, d.h. auf Grund der Statuten und durch einen Parteikongress, auf dem der Generalsekretär neugewählt oder ersetzt werden muss, oder auf irgendandere Weise, „illegal“, diese Frage wird von den Untersuchungsrichtern zu Beginn der Untersuchung behutsam umgangen. Man wird schon sehen. Solange die Angeklagten nicht endgültig gebrochen sind, verlangt man von ihnen nur das Geständnis, die Absicht gehabt zu haben, „Stalin zu beseitigen“, will sagen, zu ersetzen. Dann verlangt man von ihnen gleichsam zufällig zu gestehen, sie seien für „scharfe Methoden“. Das übrige ergibt sich von selbst: das eine wird mit dem anderen gepaart, und wenn der Angeklagte endgültig gebrochen ist, deckt der Untersuchungsrichter die Karten auf. Die scharfen Methoden, das ist Terror, „beseitigen“ wird gleichbedeutend mit ermorden: Und das auf den ersten Blick harmlose ungeformte Eisenstück wird gewetzt und zur todbringenden Waffe. [1] Ins Gericht findet die Formel „Stalin beseitigen“ Eingang bereits in ihrer neuen Bedeutung: beseitigen gleich ermorden.

Warum aber hat dieser Ausdruck es Stalin und seinen Handlangern dermaßen angetan? Woher stammt er? In seiner Rede gibt uns Staatsanwalt Wyschinski in dieser Hinsicht einige Fingerzeige: „Trotzki hat im März 1932 in einem Anfall konterrevolutionärer Tollwut einen offenen Brief mit dem Aufruf, Stalin zu beseitigen“ verfasst. (Dieser Brief wurde aus dem Geheimfach des Golzmanschen Koffers genommen und der Anklage als Beweisstück beigelegt)“. [2] Olberg sagt über diesen Punkt: „Zum ersten Mal sprach mit mir Sedow über meine Reise (in die USSR) nach dem Appell Trotzkis im Zusammenhang damit, dass Trotzki die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. In diesem Appell entwickelte Trotzki den Gedanken, dass es notwendig sei, Stalin zu ermorden. Dieser Gedanke wurde in folgenden Worten geäussert: „Stalin muss aus dem Wege geräumt werden“. [3] Sedow, der mir einen mit Schreibmaschine geschriebenen Text dieses Appells zeigte, erklärte: „Nun also, jetzt sehen Sie es, klarer kann man es nicht sagen. Das ist eine diplomatische Formulierung“.

Wir erfahren somit, dass es sich um Trotzkis Offenen Brief handelt, geschrieben im März 1932, als ihm seine russische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Wyschinski hält es nicht für notwendig, ein so wichtiges Dokument zu zitieren, obgleich der Brief „der Anklage als Beweisstück beigelegt“ wurde. [4]

Warum? Das werden wir sogleich erfahren. Trotzkis „Appell“ zur Ermordung Stalins ist nichts anderes als der Offene Brief Trotzkis ans Präsidium des Zentralexekutivkomitees der USSR, d.h. an Kalinin, Petrowski, u.a., der seinerzeit im Bulletin der Opposition und in allen anderen Publikationen der Internationalen Linken Opposition gedruckt wurde. [5] Trotzki gibt Kalinin und Petrowski also – durch die Presse! – die Anweisung, Stalin zu ermorden. Welche Sensation! Und warum sitzt Kalinin nicht unter den Angeklagten? Oder ist er noch nicht an der Reihe?

Der uns interessierende Absatz dieses Offenen Briefes lautet:

„Stalin hat Sie in eine Sackgasse geführt. Daraus ist nicht anders herauszukommen als durch die Liquidierung des Stalinismus. Es heißt der Arbeiterklasse vertrauen, der proletarischen Vorhut die Möglichkeit geben, durch freie Kritik von oben bis unten das ganze Sowjetsystem neu zu prüfen, es unerbittlich von allem angehäuften Schutt zu säubern. Es heißt schließlich, Lenins letzten, eindringlichen Rat befolgen: Stalin zu beseitigen“.

Jetzt wird begreiflich, warum Wyschinski dieses so wichtige, den „Terror“ begründende Dokument nicht zitiert! Hätte er auch nur einen einzigen Satz zitiert – die Sensation wäre schon gewaltig gewesen. Trotzki ruft nicht nur dazu auf, Stalin zu beseitigen – zu „ermorden“ –, sondern beruft sich dabei auch noch auf Lenin!

Begründer des Terrorismus und erster Terrorist war, wie es sich herausstellt, Lenin und nicht Trotzki.

„Lenins letzter, eindringlicher Rat“ – das ist sein berühmtes Testament. Erinnern wir uns, was Lenin dort schrieb:

„Gen. Stalin hat, seitdem er Generalsekretär wurde, in seinen Händen eine unfassbare Macht gesammelt, und ich bin nicht sicher, ob er verstehen wird, diese Macht immer vorsichtig genug zu gebrauchen.“

„Stalin ist zu grob und dieser Mangel, der unter uns Kommunisten und in unserem Verkehr miteinander durchaus erträglich ist, wird im Amt des Generalsekretärs unzulässig. Darum schlage ich den Genossen vor, ein Mittel zu ersinnen, Stalin dieses Postens zu entheben und auf diesen Posten einen anderen Menschen zu ernennen, der sich in jeder anderen Beziehung von Gen. Stalin nur vorteilhaft unterscheidet, nämlich geduldiger ist, loyaler, höflicher und aufmerksamer den Genossen gegenüber, weniger Launen hat usw. Dieser Umstand mag als Kleinigkeit erscheinen, doch glaube ich, vom Standpunkt der Verhütung einer Spaltung und vom Standpunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki, ist dies keine Kleinigkeit, oder eine Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann. (4. Januar 1923.)“ [6]

Stalin vom Posten des Generalsekretärs absetzen – brutaler beseitigen (ubratj, der von Trotzki benutzte Ausdruck) – das ist es, was Lenin in seinem Testament vorschlug. Das sind die Quellen des „Terrorismus“, die Wyschinski so klugerweise nicht zitiert!

Die Linke Opposition forderte seit dem Tage ihrer Gründung die Erfüllung des Testaments in hunderten von Artikeln, Dokumenten, Flugblättern, in ihrer Plattform, in den Artikeln des „Bulletins der Opposition“ und endlich in Trotzkis Offenem Brief ans Präsidium des Zentralexekutivkomitees (anlässlich eines der kleineren vorbereitenden Amalgame Stalins – des Entzugs von Trotzkis Sowjetbürgerrecht). Und dabei ist der Brief vor viereinhalb Jahren geschrieben worden. Warum hat es Stalin damals nicht gewagt, Trotzki terroristische Absichten zuzuschreiben? Darum, weil Stalin Zeit brauchte, um den Boden für sein é giftigen Verleumdungen vorzubereiten.

Stalin absetzen (beseitigen!) hieß in Lenins Gedanken, ihm die gewaltige Macht nehmen, die er in seinen Händen konzentriert hatte, als er an der Spitze des Apparats stand. Das hieß, ihm die Möglichkeit nehmen, diese Macht zu missbrauchen.

Als Lenin sein Testament schrieb, war er sich natürlich nicht im entferntesten klar, welche Ausmasse Stalins Machtmissbrauch annehmen würde. Ja, wenn Lenin lebte, säße er nicht nur im Gefängnis („Vor dem Gefängnis rettete Lenin nur der Tod“, sagte Krupskaja 1926), sondern er wäre zum ersten und obersten Terroristen erklärt worden!

Das ist Stalins verspätete Rache – nach dreizehn Jahren für das Testament. Stalins Rache an Lenin. Dreizehn Jahre bedurfte der Totengräber der Revolution, Stalin, um den Bolschewismus zu zerschmettern und die größte aller Revolutionen bis zu dem bonapartistischen Regime herabzuzerren, das heute in der USSR herrscht.


Anmerkungen

1. Besonders schlagend geht das aus den Aussagen Ter-Waganjans hervor.

2. Prozessbericht, S.130.

3. Ebendort, S.57. Der deutsche Übersetzer des Prozessberichts; gibt dasselbe Wort „Ubratj“ einmal mit „beseitigen“, einmal mit „aus dem Wege räumen“ wieder. Genau bedeutet es: „entfernen“, „beseitigen“, und wird benutzt wie „absetzen“, „entheben“.

4. Ebendort, S.130.

5. Obgleich der Brief gedruckt wurde, soll Sedow Olberg aus irgendeinem Grund ein „mit der Schreibmaschine“ geschriebenes Exemplar gezeigt haben. Das brauchte Olberg, um der Sache einen recht geheimnisvollen, konspirativen Anstrich zu geben. Kläglicher Trick!

6. Die Septembernummer des Bolschewik (1936), des Organs des ZK der KpdSU, gibt Lenins Testament mit folgenden Worten wieder: „Stalin, den Lenin, als er starb, an die Spitze der Partei stellte“!




Zuletzt aktualisiert am 9.07.2009