L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Was aber war in Wirklichkeit?


Als Stalin 1927–28 die Linke Opposition zerschlug, machte er, der bis dahin die Möglichkeit der Industrialisierung, der Kollektivisierung, der Planwirtschaft geleugnet hatte, eine Wendung nach links. Der neue stalinistische Wirtschaftskurs – äußerst widerspruchsvoll, chaotisch und mit rein bürokratischen Methoden durchgeführt – wurde mit Stücken aus der Plattform der Linken Opposition bestritten. Umso heftiger war Stalins Repression gegen die Träger dieser Plattform. Stalins Wendung nach links (plus Verstärkung der Repression) trugen 1929 Verwirrung in die Reihen der Opposition. Die beginnende Industrialisierung und Kollektivisierung eröffneten neue Möglichkeiten und neue Perspektiven. Unter diesen Umständen waren viele Oppositionelle geneigt, sich zu dem immer mehr erstarkenden bürokratischen Regime nachsichtig zu verhalten. Eine Welle von Kapitulationen erfasste sie. Darunter befanden sich Radek, Preobrazchenski, I.N. Smirnow, Mratschkowski, Ter-Waganjan, Dreitzer usw.

Die folgenden Jahre (1930–1932) waren Jahre des unkontrollierten Wirtschaftens der Stalinspitze, wobei das Land schnell in eine sehr schwere wirtschaftliche und politische Krise schlidderte. 1932 nahm die Krise besonders scharfe Formen an. Die administrative Vernichtung der Klassen auf dem Lande und die „durchgängige“ Zwangskollektivisierung hatten die Landwirtschaft gründlich zerstört. Die Disproportionen in der Sowjetwirtschaft hatten unerhörte Ausmasse angenommen: zwischen Industrie und Landwirtschaft, innerhalb der Industrie; katastrophal niedrige Qualität, Mangel an Bedarfsartikeln, Inflation, völlige Zerrüttung des Transportwesens. Die materielle Lage der Massen verschlimmerte sich zusehends, die Lebensmittelknappheit ging in direkte Hungersnot über: Millionen neuer Arbeiter hatten keine Wohnung, hausten in Baracken, oft ohne Licht, in Kälte und Schmutz. Im Lande wütete eine Pockentyphusepidemie, wie man sie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr erlebt hatte. Die allgemeine Müdigkeit und Unzufriedenheit begannen sich Luft zu machen. Die Arbeiter griffen nun immer häufiger zum Streik; in Iwanowo-Wosnessensk gab es große Arbeiterunruhen. Die Kolchosbauern beschützten mit der Waffe in der Hand ihre Ernte und ihr Inventar gegen die nichtkollektivisierten Bäuern. Im Kaukasus und im Kuban wütete ein regelrechter kleiner Bürgerkrieg. Zweifel, Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber der Führung wuchsen in der Partei ständig und griffen auch auf den Apparat über. Allenthalben, bei den alten Bolschewiki, bei den Arbeitern, bei den Jungkommunisten, ging die Rede, Stalin führe das Land ins Verderben.

Dies war die Lage, in der sich die ehemaligen Führer der Linken Opposition, die sich von ihr getrennt hatten, nun befanden. Nachdem sie zu verschiedenen Zeiten kapituliert hatten, hatten sie, wenigstens zu Anfang, ganz aufrichtig versucht, sich dem stalinschen Apparat anzupassen, in der Hoffnung, am Kampf für die Industrialisierung, am Kampf gegen den Kulaken teilzunehmen. Doch die scharfe wirtschaftliche und politische Krise im Lande trieb sie vom stalinistischen Apparat fort. Halb ungewollt tauchten bei ihnen wieder gewisse oppositionelle Regungen auf, das Bedürfnis, miteinander zu sprechen, Stalins Politik zu kritisieren. So war 1932 eine gewisse, übrigens ziemlich schwache Belebung der Gruppen, die vor Stalin kapituliert hatten, zu beobachten: der Sinowjew–Kamenewgruppe, der Gruppe der ehemaligen linken Stalinisten (sog. „Linksler“ oder Führerlose), Lominadse-Schatzkin-Sten, Smirnow und seine Freunde, auch einige Rechte: Rjutin, Sljepkow usw. Doch dieses „Wiedererwachen“ soll man nicht übertreiben. Bei den meisten blieb es beim gegenseitigen „Herzausschütten“ innerhalb der vier Wände, beim träumen davon, wie schön es wäre, eine andere Politik und eine andere Führung zu haben. Vermutlich suchten Leute aus verschiedenen Gruppen und Zirkeln persönliche Annäherung, Verbindung untereinander. Die Verwegensten sagten vielleicht, es sei gut, einen „Block“ zu schaffen. Höchstwahrscheinlich aber nicht einmal das. Daraus macht Stalin nun – vier Jahre später! – einen „Block“ und sogar ein terroristisches „Vereinigtes Zentrum“.

Mit keiner einzigen von diesen Gruppen haben die russischen Bolschewiki-Leninisten selbstverständlich einen Block gebildet. [1] All diese Gruppen haben früher oder später vor Stalin kapituliert und sich schon darum schroff gegen die Linke Opposition gewandt, welche die Kapitulation stets als eins der größten Verbrechen am Kommunismus und am Interesse der Arbeiterklasse betrachtet hat und weiter betrachtet. In dieser Frage war die Linke Opposition besonders unnachgiebig. In den Augen der Bolschewiki-Leninisten besaßen diese Gruppen und Menschen weder politische, noch moralische Autorität, und konnten sie auch nicht besitzen.

Dem Wiederaufleben dieser Gruppen – der „Parteiliberalen“, wie sie sie nannte – maß die Linke Opposition vor allem symptomatische Bedeutung zu. Selbstverständlich hätte es als Ausgangspunkt für eine Rückkehr Sinowjews, Kamenews, Smirnows usw. unter das alte Banner der Bolschewiki-Leninisten dienen können, das war aber eben nicht der Fall.

Stalin, die GPU und die Zentrale Kontrollkommission waren über diese Stimmungen der ehemaligen Oppositionellen nicht ununterrichtet. Diese Stimmungen ergriffen, nebenbei gesagt, unterdessen die Parteimehrheit. Anfang Oktober 1932 wurden Sinowjew und Kamenew aus der Partei ausgeschlossen, gemeinsam mit bekannten Rechten wie Uglanow (ehemals Sekretär des Zentralkomitees und des Moskauer Parteikomitees), Rjutin (Mitglied des Zentralkomitees und führender Parteiarbeiter der Moskauer Organisation), Sljepkow, Maretzki (junge Theoretiker der Rechten, Schüler Bucharins) usw. [2] Die Sache war die, dass Rjutin ein großes politisches Dokument verfasst hatte mit einer Kritik an der stalinschen Politik und am Stalinregime und angeblich auch mit einer herben Charakteristik der Person Stalins („Böser Genius der Partei“ usw.). Sinowjew und Kamenew wurden beschuldigt, sie hätten, „obgleich sie von der Verbreitung der konterrevolutionären Dokumente wussten, statt sie anzuzeigen. vorgezogen, diese Dokumente zu erörtern und so zu direkten Helfershelfern der parteifeindlichen konterrevolutionären Gruppe zu werden“ [3] (Prawda, Oktober 1932). Für diese bloße Unterlassung der Anzeige andere Beschuldigungen waren gegen sie nicht erhoben – wurden Sinowjew und Kamenew aus der Partei ausgeschlossen und aus Moskau verbannt. Die Meldung von ihrem Ausschluss erwähnte mit keinem Wort irgendwelche eigene politische Aktivität Sinowjews und Kamenews, denn sie gab es nicht.

Das war die erste – einigermaßen glaubwürdige – Version von Sinowjew–Kamenews „Aktivität“ im Jahre 1932. Die zweite Version (1934) sprach, schon von einem „Moskauer Zentrum“, von der „Entfachung von Terrorstimmungen“ usw. Die dritte Version (der Prozess vom August 1936) lautet: Vereinigtes Zentrum, Terror, Ermordung Kirows! Je weiter die Tatsachen zurückliegen, umso unverschämter fälscht Stalin sie um!

Bald kamen aus Moskau die Nachrichten von der Verhaftung mehrerer ehemaliger bekannter Oppositioneller, alter Bolschewiki: I.N. Smirnow, Preobrashenski, Ufimzew, Mratschkowski, Ter-Waganjan und vieler anderer. [4]

Wir schrieben weiter oben, die Verbannung Sinowjews, Kamenews usw. hätte der Ausgangspunkt für ihre Rückkehr zu den Bolschewiki-Leninisten werden können, dass dies aber eben nicht der Fall war. Bereits im Frühjahr 1933 kapitulierten Sinowjew und Kamenew von neuem, in noch viel erniedrigender Form als das erste Mal, lobpriesen Stalin usw. Sie kehrten nach Moskau zurück. Trotzki beurteilte schon damals ihre neue Kapitulation in der Presse folgendermaßen:

„Anerkennt seine (Stalins) Genialität... und Sinowjew–Kamenew ‚anerkannten‘ sie, d.h. sanken endgültig bis an den Grund“... „Wie Gogols Held sammelt Stalin tote Seelen...“ (23. Mai 1933, Bulletin der Opposition, Nr.30.)

Wie weit sind diese Worte entfernt von „Blocks“ oder gemeinsamen „vereinigten Zentren“! Für einen politisch gutgewillten Menschen vernichtet schon dies Zitat allein alle stalinschen Verleumdungen vom Block Trotzkis mit Sinowjew, die dem Prozess zugrunde liegen.

Sinowjews und Kamenews Kapitulation war eng mit der Besserung der inneren Lage der USSR verknüpft. 1933 begann die Krise sich zu lindern, die oppositionellen Stimmungen begannen abzuflauen. Die Kapitulantengruppen, die wiedererwacht waren, sanken in Passivität zurück. 1934 waren diese Tendenzen noch ausgesprochener.

Im Prozess wird aber ein ganz anderes Bild gegeben. Solange die heftige Krise und Unzufriedenheit herrschte (1932–1933), legten die Terroristen keine besondere Aktivität an den Tag. Doch gerade „die Überwindung der Schwierigkeiten (1934), der Sieg der Politik des ZK der KPdSU(B) lösten in uns eine neue Aufwallung von Wut und Hass gegen die Führung der Partei... aus“. [5]

Diese ganze Geschichte ist eine recht stumpfsinnige Erfindung. Sie wird gebraucht, um die Beschuldigung in Bezug auf den Kirowmord (1934) belegen zu helfen.

Nach der Amnestie Sinowjews, Kamenews und anderer schenkte Stalin ihnen keinerlei Vertrauen. Er beauftragte sie nicht mit der geringsten verantwortlichen Arbeit; an die Politik ließ er sie nicht auf Kanonenschussweite heran. Von diesem Augenblick an, d.h. seit Frühling 1933, waren Sinowjew, Kamenew und alle anderen Kapitulanten endgültig ins politische Nichts eingegangen. Moralisch waren sie gebrochen. Leben war ihr Dasein nicht mehr zu nennen, nur dahinvegetieren. Diese Lage wurde durch Nikolajews Schuss verändert. Sinowjew, Kamenjew, usw. wurden von Stalin mit Gewalt wieder zum politischen Leben „erweckt“ – „nicht ihretwegen, sondern Stalins wegen“, als Opfer der bonapartistischen Spitze. Alte Marxisten, die ihr ganzes Leben der Partei der Arbeiterklasse und der Massenbewegung gewidmet hatten, wurden beschuldigt, dem „Terror“ gehuldigt zu haben.


Anmerkungen

1. Wenn ein „Block“ zwischen der Linken Opposition und den verschiedenen Gruppen. die vor Stalin kapituliert hatten, existierte, wie dann erklären, dass von einer solchen bedeutenden Tatsache nichts in die Presse drang, insbesondere nicht in die stalinistische? Die Linke Opposition war immer ein entschiedener Gegner von Kombinationen und Abmachungen hinter den Kulissen. Für sie wäre ein Block nur als offener, vor den Massen vollzogener politischer Akt in Frage gekommen, und zwar auf der Grundlage ihrer politischen Plattform. Die Geschichte des dreizehnjährigen Kampfes der Linken Opposition bürgt dafür.

Selbstverständlich schloss das unversöhnliche politische Verhalten zum Kapitulantentum vereinzelte persönliche Begegnungen oder Informationsaustausch nicht aus; aber nicht mehr.

2. Sinowjew und Kamenew zusammen mit Rechten auszuschließen, war bereits ein typisch stalinistisches, d.h. thermidorianisches Amalgam.

3. Gemeint sind Rjutin und seine Freunde.

4. Der Moskauer Korrespondent des Bulletins der Opposition, ein russischer Bolschewik-Leninist, beschrieb diese Ereignisse folgendermassen: „Die vielen Verhaftungen unter den von der Opposition Abtrünnigen (in Moskau allein wurden rund 150 Menschen verhaftet und verbannt) sind als prophylaktische Maßnahmen zu erklären. Wenn auch viele von den Abtrünnigen passiv waren, Vertrauen hatte man zu ihnen keins. Stalin aber ist der Ansicht, man muss den Menschen verbannen, noch bevor er nachzudenken beginnt“. (Bulletin der Opposition, Nr.35, Juli 1933).

5. Prozessbericht, S.18.




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009