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Die Anklageschrift sagt, dass „Ende 1932 die Vereinigung der trotzkistischen Gruppe mit der Sinowjew-Gruppe zustande kam, die ein vereinigtes Zentrum organisierten ...“ [1]
Ende 1932 organisiert, übte dies Zentrum nach den Worten der Anklage die Terrortätigkeit fast vier Jahre lang aus: „in der Periode 1932-1936“. [2] Gerade Ende 1932 gilt als der Zeitpunkt – und das wird während des Prozesses Dutzende von Malen wiederholt –, wo die Sinowjewisten einerseits und die sogenannten „Trotzkisten“ (Smirnow usw.) andererseits, angeblich auf Trotzkis Instruktionen hin das vereinigte Zentrum schufen, „das sich die Verübung einer Reihe von Terrorakten ... zur Aufgabe machte.“ [3]
Was geschah weiter? Von mehreren Angeklagten und darunter Bakajew wird ausgesagt: „Im Herbst 1932 wurden Sinowjew und Kamenew aus der Partei ausgeschlossen ... und es wurde beschlossen, die terroristische Tätigkeit vorübergehend einzustellen. Im Herbst 1934 wurde sie wiederaufgenommen.“ [4] Reingold sagt auch: „In unserer terroristischen Tätigkeit trat vom Herbst 1932 bis zum Sommer 1933 eine Pause ein, die durch das Hochgehen Sinowjews und Kamenews ... hervorgerufen wurde.“ [5] Die Meinungsverschiedenheiten beziehen sich lediglich auf den Zeitpunkt der Wiederaufnahme dieser Tätigkeit. Somit ergibt sich, dass das Zentrum, das Ende 1932 geschaffen wurde, seine Tätigkeit für gewisse Zeit bereits ... vor seiner Gründung, nämlich im Herbst 1932, eingestellt hatte. [6]
Eigentlich aber brauchen wir diese Aussagen gar nicht um nachzuweisen, dass das Zentrum (wenn es je existierte) nicht umhin konnte, seine Tätigkeit im Herbst 1932 einzustellen. Im Herbst 1932 (im Oktober) wurden nämlich Sinowjew und Kamenew aus Moskau verbannt und I.N. Smirnow im Winter (am 1. Januar 1933) verhaftet. Mratschkowski befand sich ebenfalls außerhalb Moskaus; er wurde, den damaligen Informationen gemäß, verbannt, desgleichen Ter-Waganjan und mehrere andere ehemalige Oppositionelle. Man sieht, von Herbst 1932 bis mindestens Sommer 1933 (Rückkehr Sinowjews und Kamenews aus der Verbannung) konnte das Zentrum faktisch gar nicht bestehen.
Das hindert Dreitzer nicht auszusagen, er habe gerade „im Frühjahr 1933“ „Weisungen des trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums über die forcierte Anwendung des Terrors gegen die Führung der KPdSU(B)“ erhalten. [7] Nach Dreitzer hätte das Zentrum also eben in der Periode, wo es „seine Tätigkeit einstellte“, von ihm die „Forcierung“ der Terroraktivität verlangt.
In diesem Haufen Sinnlosigkeiten ist es schwer, irgendetwas zu begreifen! Zu gleicher Zeit organisiert sich das Zentrum und löst es sich wieder auf, stellt es seine Tätigkeit ein und „forciert“ es sie.
Nicht weniger Drunterunddrüber herrscht in der Frage, wann denn das Zentrum schließlich seine mysteriöse Tätigkeit „wiederaufnahm“. Bakajew, der diese Frage am bestimmtesten beantwortet, sagt: im „Herbst 1934“, d.h. zwei Jahre später. Dies Datum wird nicht zufällig genannt. Es soll das „Geständnis“ betreffend den Kirowmord vorbereiten. Schenkt man Bakajews Aussagen Glauben, so war die einzige Periode, wo das Zentrum existierte und eine Terrortätigkeit ausübte, die zweite Hälfte und insbesondere Herbst 1934, d.h. ein paar Monate. Legt man die Version der übrigen Angeklagten (Pikel, Reingold, Sinowjew, Kamenew) zugrunde, so existierte und handelte das Zentrum vom Sommer oder Herbst 1933 bis Ende 1934, d.h. höchstens anderthalb Jahre. Indes, die Anklageschrift und das Urteil sprechen davon, dass das Zentrum von 1932 bis 1936 tätig war. Um zu beweisen, dass dies keine leere Behauptung sei, stellt Wyschinski Sinowjew folgende Frage: „Wie lange war es (das Zentrum) tätig? Sinowjew: Faktisch bis 1936.“ [8] Diese Aussage Sinowjews ist zumindest seltsam, denn er selbst saß ebenso wie Jewdokimow, Bakajew und Kamenew seit Dezember 1934 im Gefängnis. (Seit Ende 1934 war überhaupt keines der Zentrumsmitglieder mehr in Moskau). Offenbar betätigten sie ihren Terrorismus seit Ende 1934 im Gefängnis. Ein anderes Zentrumsmitglied, Mratschkowski, war während der ganzen vierjährigen „terroristischen Tätigkeit“ nur zweimal, 1932 und 1934, und zwar nur kurz, in Moskau. Wie er unter diesen Umständen aktiv im Zentrum arbeiten konnte, ist unverständlich.
Mehr noch, einer der Zentrumsführer, I.N. Smirnow, saß seit dem. 1. Januar 1933, d.h. über dreieinhalb Jahre ununterbrochen im Gefängnis. Man fragt sich, welche Rolle I.N. Smirnow hei der Tätigkeit des Zentrums spielen konnte, wo man ihn doch bereits in der Periode verhaftete, als das Zentrum erst gebildet wurde, und wie er insbesondere aktiv an der Ermordung Kirows teilnehmen konnte, wo er die zwei Jahre, die diesem Mordanschlag vorangingen, ausschließlich im Gefängnis zubrachte? Im Urteil steht aber schwarz auf weiß geschrieben – und Smirnow ist auf Grund dieses Urteils erschossen – worden dass er schuldig sei, „den ruchlosen Mord an… Kirow… organisiert und am 1. Dezember 1934 ausgeführt“ zu haben. [9] Ist das nicht ein „vorbildliches“ Gericht?
Wyschinski hat zwar auch dafür eine Antwort. Bezüglich der terroristischen Direktiven, die Dreitzer im Jahre 1934 erhalten haben soll, d.h. als Smirnow schon längst in Gefängnis saß, sagt Staatsanwalt Wyschinski: „Ich bin tief (!) überzeugt (!!), dass Sie davon (von der Terrordirektive) gewusst haben, obwohl Sie damals in Haft saßen“. [10] Die Tatsachenbeweise sind durch falsche „Geständnisse“ und Seelenforschung ersetzt.
* * *
Während des Prozesses werden mehrere Sitzungen erwähnt: im Landhaus bei Sinowjew und Kamenew in Iljinskoje, in Sinowjews Wohnung, in Kamenews Wohnung und in Mratschkowskis Eisenbahnwagen. Die ersten drei waren ausschließlich von Sinowjewisten besucht, an der letzteren, in Mratschkowskis Eisenbahnwagen, hingegen nahmen nur ehemalige Trotzkisten teil (mit Ausnahme Jewdokimows). Obendrein wird bereits die Tatsache dieser letzten Sitzung von I.N. Smirnow glatt bestritten. Diese Sitzungen waren wenn sie wirklich stattfanden – keine Sitzungen eines „vereinigten“ Zentrums und konnten es nicht sein, da sie Sitzungen nur einer Gruppe waren. Das Gericht versucht es übrigens nicht, diese Sitzungen als Sitzungen des Vereinigten Zentrums hinzustellen.
Zum Zweck, Smirnow zu belasten, fragt Wyschinski Sinowjew: „Und Sie haben von Smirnow persönlich eine Reihe von Vorschlägen (betreffs Terror) gehört? Sinowjew: Ich persönlich habe mit ihm zwei-, dreimal Verhandlungen geführt“. [11]
Dieser Dialog enthüllt nebenbei die ganze Lüge über das Zentrum. Im Verlaufe der ganzen terroristischen Tätigkeit führten zwei der hervorragendsten Mitglieder des Zentrums miteinander bloss „zwei-, dreimal Verhandlungen“. Und die Zusammenarbeit im Zentrum? Die gemeinsame Beteiligung an diesen Sitzungen? Davon kein Wort!
Im Prozess gab es somit keine Unterlagen dafür, dass das „vereinigte Zentrum“ sich auch nur ein einziges Mal versammelt und auch nur je irgendeinen Beschluss gefasst hätte.
I.N. Smirnow selber, der während der Voruntersuchung den Weg der „Geständnisse“ beschritten hatte, machte dagegen während des Verfahrens den Versuch, seine Aussagen zurückzunehmen. [12] Zur Frage des Zentrums spielte sich folgender Dialog mit dem Staatsanwalt ab:
„Wyschinski: Wann sind Sie denn aus dem Zentrum ausgetreten?
Smirnow: Ich habe nicht daran gedacht auszutreten, es war nichts da, woraus man hätte austreten können.
Wyschinski: Das Zentrum hat bestanden?
Smirnow: Aber was für ein Zentrum ...“ [13]
Der Prozessbericht ist sogar gezwungen mitzuteilen, dass Smirnow zur Bekräftigung seiner Worte sich „beruft.., darauf, dass es keine Sitzungen des Zentrums gab“. [14] Mit diesen Worten hat Smirnow der Legende vom „Vereinigten Zentrum“ den letzten Schlag versetzt.
Lohnt es sich, dabei zu verweilen, dass weder das Gericht, noch der Staatsanwalt den geringsten Versuch unternehmen, diese Widersprüche zu entwirren? In der begreiflichen Furcht, die „Vertiefung“ der Fragen könnten ihnen nur noch unangenehmere Widersprüche bescheren, ziehen sie klugerweise vor, nicht darauf zu bestehen.
Ein aufmerksamer, aber in die stalinistischen Amalgame nicht eingeweihter Leser der Prozessberichte kann nicht umhin zu bemerken: „Sonderbar, dies Zentrum! Weder seine Zusammensetzung konnte genau festgestellt werden, noch wann es entstand, wann es tätig war; nicht ein einziges Mal hat es sich versammelt: was es überhaupt tat, ist unbekannt“: Allerdings, dies Zentrum wäre wirklich seltsam, wenn es ... ja wenn es in Wirklichkeit überhaupt je bestanden hätte. [15]
1. Prozessbericht, S.11.
2. Ebendort, S.37.
3. Ebendort. S.37.
4. Ebendort: S.60.
5. Ebendort,. S.56.
6. Im Urteil wird der Versuch gemacht: dieses Ärgernis dahin zu korrigieren, dass das Zentrum nicht Ende, sondern im 1932 entstand. Das ändert an der Sache nichts. Demnach hätte sich des Zentrums organisiert und gleichzeitig seine Tätigkeit eingestellt. Offenbar organisierte es sich zu dem speziellen Zweck ... seine Tätigkeit einzustellen.
Um diese Konfusion zu vermelden, wäre es für die GPU einfacher gewesen, die Gründung des Zentrums in das Jahr 1933 oder sogar 1934 zu verlegen. In diesem Falle hätte sie jedoch unmöglich Smirnow zu einem Mitglied des Zentrums machen können. Aber gerade dies war für sie unbedingt erforderlich, und hierin liegt der Grund, weshalb sie die Entwicklung des Zentrums in das Jahr 1932 verlegen musste.
7. Ebendort, S.52.
8. Ebendort, S.44. – Als Wyschinski in seiner Anklagerede Sinowjews Worte: „bis 1936“ zitiert, setzt er 1934 an die Stelle von 1936, sichtlich befürchtend, dass sonst die Lüge allzu krass zum Vorschein kommt. (Siehe Prozessbericht, S.155).
9. Ebendort, S.181.
10. Ebendort, S.159.
11. Ebendort, S.54.
12. Dadurch erklärt sich auch, dass Smirnows Aussagen vor Gericht denen in der Voruntersuchung in gewissem Grade widersprechen. Ohne den Mut zu finden, offen sich von den von der GPU erpressten „Geständnisse“ loszusagen und die volle Wahrheit zu sagen, versuchte Smirnow immerhin im Prozess Widerstand zu leisten. Man muss Smirnow die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er sich etwas besser als die anderen Angeklagten betrag.
13. Ebendort, S.81.
14. Ebendort, S.81.
15. Neben dem „vereinigten“ Zentrum figuriert im Prozess noch ein Moskauer terroristisches Zentrum nicht zu verwechseln mit dem sinowjewistischen Moskauer Zentrum von 1934!). Die offizielle, Zusammensetzung dieses Zentrums ist: Dreitzer, Reinhold und Pikel. Es wäre ein leichtes nachzuweisen, dass alles, was wir vom Vereinigten Zentrum sagten, so oder so auch auf dieses „Zentrum“ zutrifft. Seine Zusammensetzung variiert je nach den verschiedenen Aussagen. Dies „Zentrum“, organisierte Mratschkowski vor seiner Abreise aus Moskau 1932. Bei seiner Rückkehr nach Moskau, fast zwei Jahre später, nimmt Mratschkowski einen Bericht des Führers dieses Zentrums, Dreitzer, entgegen, wo es heisst, ein Moskauer Zentrum sei ... organisiert worden, usw. – immer im selben Geiste.
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Zuletzt aktualisiert am 8.07.2009