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Achse des Prozesses und zugleich Grundlage der Anklage ist das sog. „Vereinigte Zentrum“. Dieses beschloss, den Weg des Terrors zu beschreiten, dieses organisierte und leitete die Attentate. Die Frage des „Zentrums“ ist darum von entscheidender Bedeutung für die Analyse des Prozesses. Wir sind gezwungen, dabei eingehend zu verweilen.
Wir haben bereits nachzuweisen versucht, mit welcher Willkür Stalin vier Sinowjewisten in den Prozess hineinzog und zu Mitgliedern des Zentrums ernannte. Es galt aber um jeden Preis Trotzki zu treffen sonst wäre der gesamte Prozess vergeblich gewesen. Der Misserfolg mit dem Konsul nötigte dazu, neue Wege zu suchen. Stalin begriff wohl, dass die Sinowjewisten, die im Januar 1928 mit der Linken Opposition gebrochen und vor dem bürokratischen Apparat kapituliert hatten, seitdem mit der Linken Opposition keinerlei Beziehungen mehr besaßen, und also für diesen Zweck wenig geeignet waren. Er musste sie, die seinerzeit schon die politische Verantwortung für den Kirowmord übernommen hatten, mit den Trotzkisten „vereinigen“. Dieser „Vereinigung“ sollte eben das „Vereinigte Zentrum“ dienen. Nach den missratenen Versuchen, wirkliche Trotzkisten in die Affäre zu verwickeln, – von ihrer Seite konnte Stalin mit seiner Erpressung nur scharfem Widerstand begegnen – beließ er es bei den ehemaligen linken Oppositionellen Smirnow, Mratschkowski und Ter-Waganjan. Diese hatten bereits 1929 offen mit der Opposition gebrochen, d.h. vor sieben Jahren! Und statt echter Trotzkisten (unter den Angeklagten – weisen wir nochmals darauf hin – befand sich kein einziger wirklicher Trotzkist) war Stalin gezwungen, sich mit Pseudotrotzkisten zu begnügen, umso mehr, als einer von ihnen, I.N. Smirnow, in Berlin zufällig Sedow begegnet war. Das gab wenigstens einen formalen Vorwand, von einer „Verbindung“ mit dem Ausland zu sprechen.
So entstand in Stalins Polizeischädel der Gedanke der Schaffung des „Vereinigten Zentrums“. Das übrige war Sache der Polizeitechnik.
Die Anklageschrift und das Urteil geben folgende Zusammensetzung des Vereinigten Zentrums an: Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow, Bakajew für die Sinowjewisten, und Smirnow, Ter-Waganjan, Mratschkowski für die „Trotzkisten“.
Aber sogar in der Frage der eigentlichen Zusammensetzung des Zentrums widersprechen die Angeklagten einander. Dabei handelt es sich doch nicht um irgendein breitangelegtes Komitee mit unbestimmter Zusammensetzung, wo es schwer wäre, sich an alle zu erinnern, sondern um ein dem eigentlichen Wesen der Sache gemäß enges konspiratives Kollegium, das sich mit Terroraktivität befasst. Die Zusammensetzung eines solchen konspirativen Zentrums sollte jedenfalls genau bestimmt sein. Das versucht die Anklageschrift auch zu tun, indem sie die obengenannten sieben Zentrumsmitglieder aufzählt. Der Angeklagte Reingold, einer der Hauptzeugen der Anklage, aber gibt bereits eine andere Zusammensetzung des Zentrums an. „Ich stand“, sagt er, „organisatorisch und persönlich mit einer Reihe von Mitgliedern des trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums, und zwar mit Sinowjew, Kamenew, Sokolnikow und anderen in Verbindung“ [1] Und später wiederholt Reingold noch einmal: „Ich kann bestätigen, dass dem trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrum Sinowjew, Kamenew, Bakajew, Jewdokimow, Smirnow, Mratschkowski, Ter-Waganjan und Sokolnikow angehörten.“ [2]
Dass Sokolnikow dem Zentrum angehörte, bestätigt auch Kamenew, und auf eine Frage des Staatsanwalts hin präzisiert er, dass Sokolnikow ein „Mitglied des Zentrums, aber von der strengsten Konspiration umgeben, war“, [3] damit er im Falle des Entdecktwerdens die Terroraktivität fortsetzen solle. Fragt sich, warum denn der Staatsanwalt nicht sofort Sokolnikow vor Gericht lud? Sehr einfach: Sokolnikow sofort vorzuladen, hieß das ganze falsche und daher zerbrechliche Gebäude des Prozesses zerstören. Sokolnikow muss in den Kammern der GPU präpariert werden, und das erfordert selbst im Falle des Gelingens Zeit. Sokolnikows Nennung durch Reingold – auf Stalins Auftrag – war aber nötig, um mit ihm ohne Verfahren leichter fertig zu werden.
Während Kamenew die Sokolnikow betreffenden Aussagen bestätigt, gibt er seinerseits eine neue Variante des Zentrums (der „Verschwörung“, wie er sich ausdrückt) zum Besten, wonach es „bestand aus folgenden Personen: seitens der Sinowjewisten aus mir (Kamenew ) , Sinowjew, Jewdokimow, Bakajew und Kuklin“. [4] Außer Sokolnikow wäre also auch Kuklin Mitglied des Zentrums gewesen. Ebensowenig wie Sokolnikow, hält es der Staatsanwalt für nötig, Kuklin zu belangen. Indes, Kuklin, einer der ältesten Arbeiterbolschewiki und leitender Sinowjewist, im Januar 1935 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, wird im Prozess mehrfach als einer der Leiter der Terroraktivität genannt!
Nach Smirnows Angaben gehörte zum Block (übers Zentrum sagt er gar nichts, und später bestreitet er, wie wir sehen werden, sogar dessen Existenz) auch die Lominadsegruppe. [5] Bemerken wir, dass niemand von dieser Gruppe vors Gericht gestellt wurde. Ter-Waganjan erwähnt, obgleich er „diese Aussagen des Angeklagten Smirnow bestätigt“, bei seiner Aufzählung die Lominadsegruppe nicht. Mratschkowski hingegen nennt nicht nur die Gruppe Lominadse-Schatzkin als Blockteilnehmer, sondern sagt auch direkt aus, dass Lominadse persönlich dem Zentrum angehörte. Bakajew nennt nicht nur Kuklin, sondern auch Scharow, ebenfalls ein alter, im ersten Prozess von 1935 verurteilter Bolschewik und Sinowjewist. Als Teilnehmer an einer terroristischen Leitungssitzung (des Zentrums?) wird wiederholt auch Karew genannt. Doch auch er sitzt nicht auf der Anklagebank, sein Fall ist aus irgendeinem Grunde „abgetrennt“.
Darüber hinaus sagt Kamenew aus, für den Fall des Entdecktwerdens seien außer Sokolnikow noch Serebrjakow und Radek als Ersatzmänner vorgesehen gewesen, die (nach Kamenew) „diese Rolle mit Erfolg spielen könnten“. [6] Erinnern wir daran, dass Serebrjakow die Opposition im Jahre 1928 verließ, und dass Radek 1928 gleichfalls davonging, und wie davonging! Seit 1929 trat Radek in der Presse wiederholt als einer der gehässigsten und wütendsten Gegner des Trotzkismus auf. Aber das hat ihm doch nichts geholfen!
Als „Zeugin“ wurde aus dem Gefängnis Safonowa vors Gericht geführt; ihr Verhör ruft einen besonders peinlichen und widerwärtigen Eindruck hervor. In der Hoffnung, sich zu retten, (in Wirklichkeit aber bewahrt Stalin sie sich bestenfalls für einen neuen Prozess auf, um sie dann ebenso zu erschießen wie alle die Berman-Jurin) belastet sie I.N. Smirnow wie eine Rasende. Und diese Safonowa war dem Prozessbericht zufolge selbst „Mitglied des trotzkistischen Zentrums ... und ... aktiv an der Arbeit dieses Zentrums beteiligt“. [7] Warum wurde sie dann nur als Zeugin vorgeladen?
Das Zentrum führte angeblich Verhandlungen über (d.h. terroristische) „Zusammenarbeit“ auch mit Schatzkin, Sten („Linkslern“), mit Rykow, Bucharin, Tomski (Rechten), mit Schljapnikow, Medwedjew („Arbeiteropposition“).. Selbstverständlich ist keiner von ihnen auch nur als Zeuge vorgeladen worden.
Wie man sieht, variiert die Zusammensetzung des Zentrums je nach den Aussagen der Angeklagten.
* * *
Fälschen ist keine so leichte Sache. Wie tief man auch die Lügen und Widersprüche versenken mag, hartnäckig kommen sie immer wieder an die Oberfläche zurück. Die Widersprüche betreffs der Zusammensetzung des Zentrums erklären sich zweifelsohne daraus, dass im Verlauf der Untersuchung die Zusammensetzung dieses Zentrums desöfteren wechselte.
Einige anfangs in Aussicht genommene „Kandidaten“ wollten sich nicht mürbe machen lassen, es hieß unterwegs Änderungen vornehmen, dem „Zentrum“ neue Opfer angliedern, die Daten und Aussagen von neuem in Übereinstimmung bringen.
Obendrein war die ganze Sache in so großer Eile vorbereitet worden, dass es nicht gelang, allen Angeklagten ihre Rolle einzuhämmern ...
1. Prozessbericht, S.54/55.
2. Ebendort, S.55.
3. Ebendort, S.67.
4. Ebendort, S.67.
5. Ebendort, S.17.
6. Ebendort, S.67.
7. Ebendort, S.77.
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Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009