L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Angeklagte, die nicht vor Gericht standen


Außer den sechzehn Erschossenen wurden auf dem Prozess noch eine gewaltige Anzahl Personen als Terroristen oder an der Terroraktivität Beteiligte erwähnt. Nicht eine davon erschien, unbekannt warum, und ganz im Widerspruch zu den Regeln der Rechtsprechung, vor Gericht, weder als Angeklagter noch als Zeuge. (Von Safonowa und Jakowlew, die nur Handlanger des Staatsanwalts Wyschinski waren, sprechen wir nicht). Die Anklageschrift vermeldet, dass die Strafsachen betreffend: 1) Gawen, J., 2) Gertik, 3) Karew, 4) Konstant, 5) Matorin, 6) Paul Olberg, 7) Radial, 8) Safonowa, 9) Faiwilowitsch, 10) Schmidt, 11) Esterman, D., 12) Kusmitschew, „abgetrennt“ seien. Warum? Aus purer Willkür. Gawen, z.B., von dem wir noch ausführlicher sprechen werden, ist nicht in diesem Prozess, obgleich er mehrfach als Übermittler der Terrorinstruktion Trotzkis an Smirnow genannt wurde. Gertik, Faiwilowitsch, Karew, Radin haben den Kirowmord „organisiert“; Schmidt, Esterman, Kusmitschew haben die Ermordung Woroschilows „organisiert“, usw. Von diesen 12 aber teilt die Anklageschrift wenigstens noch mit, dass ihre Sache abgetrennt wurde. Von den Uebrigen wird überhaupt nichts gemeldet, Hier ihre alphabetische Liste [1]:

1. Anischew, im ersten Sinowjewprozess zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

2. Arkus, altes Parteimitglied, leitender Funktionär im Finanzwesen.

3. Bogdan, altes Parteimitglied, ehemaliger Sekretär Sinowjews (beging Selbstmord).

4. Bucharin, Mitglied des Zentralkomitees der WKP, ehemaliges Mitglied des Politbüros, ehemaliger Führer der Komintern, Chefredakteur des Iswestija.

5. Dreitzer, die Schwester des Erschossenen.

6. Eismont, altes Parteimitglied; bereits 1932 verhaftet.

7. Fedotow.

8. Furtrichew, altes Parteimitglied

9. Friedhuld, junger Sowjettheoretiker.

10. Friedmann.

11. Gajewski, alter Kommunist, Held des Bürgerkriegs.

12. Grünstein, K., alter Bolschewik, ehemaliger Katorgasträfling, hoher Militärfunktionär.

13. Herzberg, altes Parteimitglied, während des ersten Sinowjewprozesses verurteilt.

14. Jakowlew.

15. Jazek, altes Parteimitglied.

16. Jelin.

17. Judin.

18. Kuklin, einer der ältesten bolschewistischen Arbeiter, einer der Leiter der Leningrader Parteiorganisation, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees, im ersten Sinowjewprozess zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt.

19. Kunt.

20. Lipschitz, P.

21. Lominadse, ehemaliger Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale, einer der Leiter der Jugendbewegung, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees (beging Selbstmord).

22. Medwedjew, alter Bolschewik, Führer der ehemaligen Arbeiteropposition.

23. Muchin.

24. Okudshawa, alter Bolschewik, Führer der Partei im Kaukasus.

25. Pjatakow, alter Bolschewik, Mitglied des Zentralkomitees, stellvertretender Volkskommissar für Schwerindustrie.

26. Putna, sehr bekannter Führer der Roten Armee, bis in die allerletzte Zeit Militärattaché in London.

27. Radek, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees, der bekannte Journalist.

28. Rjutin, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees und Leiter der Moskauer Parteiorganisation.

29. Rykow, Mitglied des Zentralkomitees, ehemaliger Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, dieser Tage erst vom Posten des Volkskommissars für Post- und Telegraphenwesen abgesetzt.

30. Saidel.

31. Scharow, alter Arbeiterbolschewik, Sinowjewist; im ersten Sinowjewprozess zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.

32. Schatzkin, einer der Leiter der Lominadsegruppe, altes Parteimitglied; ehemals Leiter der Kommunistischen Jugendinternationale.

33. Schljapnikow, alter Bolschewik, ehemals Mitglied des Zentralkomitees, Leiter der früheren Arbeiteropposition.

34. Serebrjakow, einer der ältesten Arbeiterbolschewiki, ehemaliger Sekretär des Zentralkomitees.

35. Smilga, L.T., ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees, einer der Leiter des Oktoberaufstandes, führender Militär- und Wirtschaftsfunktionär.

36. Sljepkow, junger Theoretiker der Rechten aus der „Bucharinschule“, Journalist.

37. Sokolnikow, alter Bolschewik, einer der Leiter des Bürgerkriegs, ehemaliger Volkskommissar für Finanzen, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees.

38. Sten, einer der Führer der Lominadsegruppe („Linksler“), altes Parteimitglied, ehemaliges Mitglied der Zentralen Kontroll-Kommission,

39. Stückgold, altes Parteimitglied, früher Sekretär Skljanskis, des Stellvertreters Trotzkis während des Bürgerkriegs.

40. Tomski, ehemaliger Gewerkschaftsführer, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros (beging Selbstmord).

41. Uglanow, ehemaliger Sekretär des Zentralkomitees und des Moskauer Komitees, einer der Leiter der Rechtsopposition.

All diese Männer sind entweder aktiver Terroraktivität angeklagt – die überwiegende Mehrzahl – oder der Sympathie für den Terrorismus und der Verbindung mit den Terroristen!

Zu dieser Liste müssen noch die Namen jener hinzugefügt werden, die mit Sinowjew im Januar 1935 verurteilt wurden und die in den vorstehenden Listen noch nicht enthalten sind. 1) Sachow, 2) Gorschenin, 3) Zarkow, 4) Fedorow, 5) Hessen, 6) Tarassow, 7) Perimow, Baschkirow, 9) Brawo. (die meisten davon sind alte Bolschewiki) Ferner die 78 alten Bolschewiki-Sinowjewisten (Salutzki, Wardin usw.), die im Zusammenhang mit dem ersten Sinowjewprozess ins Konzentrationslager gesperrt wurden. Des weiteren noch der Hauptangeklagte in diesem Prozess: Trotzki, und auch Sedow. [2] Wir bekommen auf diese Weise eine Liste von 142 Personen! Jede von ihnen ist schwerster Verbrechen angeklagt. Von einigen Ausnahmen abgesehen, besteht diese Liste aus den bekanntesten Vertretern des Bolschewismus.

Wenn jemand eine Liste der 20 oder 25 hervorragendsten Vertreter des Bolschewismus, die in der Partei- und Revolutionsgeschichte die größte Rolle spielten, aufstellen wollte, so kann man ihm ruhig empfehlen, diese Liste zu Grunde zu legen, plus den nach dem Moskauer Prozess hingerichteten alten Bolschewiki. Dieser Liste gehören sechs ehemalige Mitglieder der Politbüros und Parteiführer an: Bucharin, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Tomski und Trotski. Dem Politbüro zu Lenins Lebzeiten gehörten davon fünf an, plus Lenin und Stalin. Von den Mitgliedern des Leninschen Politbüros ist heute allein Stalin geblieben. Die übrigen sind entweder erschossen, oder des Terrorismus bezichtigt (Tomski beging Selbstmord).

In Lenins Testament sind sechs Menschen genannt: Trotzki, Stalin, Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Pjatakow. Die letzten zwei als die „hervorragendsten unter den Jungen“. Von den in Lenins Testament genannten sind zwei von Stalin erschossen; Trotzki ist eigentlich zum Tode verurteilt; Pjatakow sitzt im Gefängnis unter Anklage des Terrorismus. Nur Bucharin wurde soeben begnadigt, für wie lange ist unbekannt. Bleibt wiederum Stalin allein. Unter den Erschossenen und im Prozess als Mitteilnehmer am Terror Genannten befinden sich 19 ehemalige Zentralkomitee-Mitglieder: Bucharin, Fedorow, Jewdokimow, Kamenew. Kuklin, Lominadse, Pjatakow, Radek, Rykow, Rjutin, Schljapnikow, Serebrjakow, Sinowjew, Smilga, Smirnow, Sokolnikow, Tomski, Trotzki, Uglanow (Bucharin, Rykow und Pjatakow sind noch heute ZK-Mitglieder!) und drei ehemalige Mitglieder der Zentralen Kontrollkommission: Bakajew, Gawen, Sten. Die Blüte der bolschewistischen Partei, all ihre Führer und Führer der Oktoberrevolution sind nunmehr „tolle Hunde“, „Banditen“, „Agenten der Gestapo“ usw. Kann man sich eine schlimmere Verleumdung der Oktoberrevolution vorstellen als diese?

Rechnet man den oben aufgezählten 142 die 16, dann die 102 anlässlich des Kirowmords erschossenen angeblichen Weißgardisten, die 14 Todesopfer der Nikolajewaffäre und die 12 verurteilten GPU-Leute (das sind die eigentlichen Schuldigen!) hinzu, so erhalten wir im ganzen 286 ganz verschiedenartige Personen, die häufig gar nichts miteinander zu tun haben und die, mit Ausnahme Nikolajews, einiger seiner Freunde und der Leningrader GPU-Leute, auch nicht das Geringste mit der Ermordung Kirows zu schaffen haben. Nichtsdestoweniger hat Stalin sie wegen dieses Mordes belangt und man weiß nicht, wie oft noch Stalin Kirows Leichnam ausgraben wird, oder wieviele man noch der Verantwortung, bzw. Teilnahme an diesem Mord beschuldigen wird. Und wieviele sind im Geheimen erschossen, ohne dass es jemand weiß? Wieviel zehntausende sind verbannt oder ins Konzentrationslager gesperrt?

* * *

Wie wir bereits gesagt haben, war die Zusammensetzung der Angeklagten zufällig, nicht nur weil wir mit einem Amalgam zu tun haben, sondern auch, weil es Stalin nicht gelang, sämtliche in Aussicht genommene Angeklagten zu zerbrechen. Die Angeklagtenliste hat gewiss des öfteren gewechselt und wurde endgültig erst am Tage der Unterzeichnung der Anklageschrift durch den Staatsanwalt festgelegt. Die Tatsache, dass Stalin aus einer viel längeren Liste 16 Angeklagte herausgriff, ergibt sich nicht nur aus den von uns oben angestellten allgemeinen Erwägungen, sondern kann auch fast mathematisch bewiesen werden.

Die Akten der Angeklagten tragen jede eine Nummer (Diese Nummern wurden bei den Zitaten aus den Aussagen in Klammern angegeben). Ordnen wir die Angeklagten in der Reihenfolge des (russischen) Alphabets, so erhalten wir folgende Tabelle: [3]

Bakajew

1

Berman-Jurin

4

David, Fritz

8

Dreitzer

10

Sinowjew

12

Kamenew

15

Mratschkowski

18

Olberg, V.

21

Pikel

25

Reingold

27

Smirnow, I.N.

29

Die Aktennummern dieser 11 Angeklagten folgen genau der alphabetischen Reihenfolge. Golzmans Aussagen werden vor Gericht überhaupt nicht zitiert, sodass uns die Nummer seiner Akte verborgen bleibt. Die übrigen Angeklagten haben folgende Nummern [4]:

Lurie, M.

32

Lurie, N.

33

Jewdokimow

36

Ter-Waganjan

38

Aus dieser Tabelle ersehen wir, dass eine ganze Reihe Lücken vorhanden sind, d.h. zusammen mit den Nummern sind auch jene Angeklagten „übersprungen“, auf die sich die betreffenden Akten beziehen. Auf 19 Personen (plus Akte Nr.31, von der wir in der Anmerkung sprachen) entfallen 38 Nummern. Auf wen beziehen sich die übrigen achtzehn? Es erscheint uns sehr wahrscheinlich, dass, mit einzelnen Ausnahmen wie Safonowa, welche sich die GPU vielleicht für einen kommenden Prozess aufbewahrt, diese „fehlenden“ Angeklagten zu denen gehören, die Stalin nicht zu brechen vermochte und darum wahrscheinlich ohne Verfahren erschossen hat.


Anmerkungen

1. Wir nehmen nicht die auf, die den gerichtlichen Angaben zufolge sich im Ausland befinden: Wetz, Stornowitz, usw.

2. In diese Liste könnten auch Ruth Fischer und Maslow aufgenommen werden.

3. Im Prozess figuriert noch eine Akte Nr.31, in der die Aussagen Reingolds, Pikels, Safonowas und Dreitzers gesammelt sind. Das ist offenbar ein besonderer Fall. Es gibt auch eine Reihe Akten mit den Nummern 3 (Karew), 14 (Matorin), 24 (Paul Olberg). Diese fügen sich nicht in die alphabetische Reihenfolge, möglicherweise weil jede von ihnen sich speziell auf einen der Angeklagten bezieht: Karew auf Bakajew, Matorin auf Sinowjew und Kamenew, Olberg auf seinen Bruder. Wahrscheinlich folgen darum ihre Nummern den ihnen zugehörigen Angeklagten.

4. Dass Jewdokimow und Ter-Waganjan zu allerletzt kommen, erklärt sich offenbar daraus, dass Stalin sie anfänglich nicht in den Prozess aufzunehmen gedachte. Bemerken wir auch, dass Jewdokimow seine „Geständnisse“ erst am 10. August ablegte, d.h. einige Tage vor der Veröffentlichung der Anklageschrift, und Ter-Waganjan erst am 14. August, d.h. am Tage, als der Staatsanwalt die Anklageakte unterschrieb. Als diese Geständnisse vorlagen, beeilte sich der Staatsanwalt, die Anklageschrift zu verfassen und zu unterzeichnen. Die beiden Luries waren wahrscheinlich ursprünglich auch nicht für diesen Prozess vorgesehen und sind erst später hinzugezogen worden.




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009