W.I. Lenin

 

Was tun?

 

III
Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik

 

f) Noch einmal die „Verleumder“, noch einmal die „Mystifikatoren“

Diese liebenswürdigen Worte gebraucht, wie sich der Leser erinnert, das Rabotscheje Delo, das in dieser Weise auf unsere Beschuldigung antwortet, daß es „indirekt den Boden für die Verwandlung der Arbeiterbewegung in ein Werkzeug der bürgerlichen Demokratie vorbereitet“. Das Rabotscheje Delo ist in seiner Einfalt zu dem Schluß gekommen, dieser Vorwurf sei nichts anderes als ein polemischer Ausfall: da haben nun die bösen Dogmatiker beschlossen, uns alle möglichen unangenehmen Dinge zu sagen; nun, und was kann unangenehmer sein, als ein Werkzeug der bürgerlichen Demokratie zu sein? Und nun wird in Fettschrift eine „Widerlegung“ veröffentlicht: „unverhüllte Verleumdung“ (Zwei Konferenzen, S.30), „Mystifikation“ (31), „Mummenschanz“ (33). Wie Jupiter zürnt das Rabotscheje Delo (obgleich es Jupiter wenig ähnlich sieht), eben weil es unrecht hat, denn es beweist durch seine übereilte Schimpfkanonade die Unfähigkeit, sich in den Gedankengang seiner Gegner hineinzufinden. Dabei gehört doch nur ein wenig Überlegung dazu, um zu verstehen, warum jede Anbetung der Spontaneität der Massenbewegung, jede Degradierung der sozialdemokratischen Politik zur trade-unionistischen Politik eben bedeutet, den Boden für die Verwandlung der Arbeiterbewegung in ein Werkzeug der bürgerlichen Demokratie vorzubereiten. Die spontane Arbeiterbewegung ist an und für sich nur fähig, Trade-Unionismus hervorzubringen (und bringt ihn auch unvermeidlich hervor), die trade-unionistische Politik der Arbeiterklasse ist aber eben bürgerliche Politik der Arbeiterklasse. Die Teilnahme der Arbeiterklasse am politischen Kampf und selbst an der politischen Revolution macht ihre Politik noch keineswegs zur sozialdemokratischen Politik. Hat das Rabotscheje Delo etwa die Absicht, dies zu leugnen? Oder hat es jetzt endlich die Absicht, direkt und ohne Winkelzüge allen seine Auffassung über die brennenden Fragen der internationalen und der russischen Sozialdemokratie darzulegen? – O nein, das wird ihm niemals einfallen, denn es hält sich streng an die Methode, die man die Methode des „Nicht-dabei-gewesen-Seins“ nennen kann. Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Wir sind keine „Ökonomisten“, die Rabotschaja Mysl ist kein „Ökonomismus“, in Rußland gibt es überhaupt keinen „Ökonomismus“. Das ist eine überaus geschickte und „diplomatische“ Methode, die nur die kleine Unbequemlichkeit hat, daß man die Organe, die sie praktizieren, gewöhnlich mit dem Namen „Wetterfahne“ belegt.

Dem Rabotscheje Delo scheint, daß die bürgerliche Demokratie in Rußland überhaupt ein „Phantom“ sei (Zwei Konferenzen, S.32 [P]). Glückliche Menschen! Wie der Vogel Strauß stecken sie den Kopf in den Sand und bilden sich ein, daß damit die ganze Umgebung verschwinde. Eine Reihe liberaler Publizisten, die von Monat zu Monat ihren Triumph über den Zerfall und sogar das Verschwinden des Marxismus aller Welt verkünden; eine Reihe liberaler Zeitungen (S.-Peterburgskije Wedomosti, Russkije Wedomosti und viele andere), die jene Liberalen anspornen, die die Brentanosche Auffassung vom Klassenkampf und die trade-unionistische Auffassung von der Politik unter die Arbeiter tragen; eine Plejade von Kritikern des Marxismus, deren wahre Tendenzen das Credo so klar gezeigt hat und deren literarische Ware die einzige ist, die abgabe- und zollfrei in ei in Rußland zirkuliert; die Belebung der revolutionären nichtsozialdemokratischen Richtungen, insbesondere nach den Februar- und Märzereignissen – all das soll ein Phantom sein! All das soll absolut keine Beziehung zur bürgerlichen Demokratie haben!

Das Rabotscheje Delo wie auch die Verfasser des „ökonomistischen“ Briefes in Nr. 12 der Iskra sollten „darüber nachdenken, warum eigentlich die Frühjahrsereignisse eine solche Belebung der nichtsozialdemokratischen revolutionären Strömungen hervorgerufen haben, anstatt die Autorität und das Prestige der Sozialdemokratie zu heben“. – Weil es sich erwiesen hat, daß wir unserer Aufgabe nicht gewachsen waren, daß die Aktivität der Arbeitermassen größer war als unsere Aktivität, daß wir nicht über genügend geschulte revolutionäre Führer und Organisatoren verfügten, die die Stimmung in allen Oppositionellen Schichten gut gekannt und es verstanden hätten, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, die spontane Demonstration in eine politische umzuwandeln, ihren politischen Charakter zu erweitern usw. Unter diesen Umständen wird unsere Rückständigkeit unvermeidlich von beweglicheren, energischeren nichtsozialdemokratischen Revolutionären ausgenutzt werden, und wie aufopferungsvoll und energisch die Arbeiter sich mit Polizei und Militär auch schlagen mögen, wie revolutionär sie auch auftreten mögen, sie werden nur eine Kraft sein, die diese Revolutionäre unterstützt, sie werden die Nachhut der bürgerlichen Demokratie sein und nicht die sozialdemokratische Vorhut. Man nehme die deutsche Sozialdemokratie, von der unsere „Ökonomisten“ nur die schwachen Seiten übernehmen wollen. Warum geht in Deutschland kein einziges politisches Ereignis vorüber, ohne sich in einer weiteren Erhöhung der Autorität und des Prestiges der Sozialdemokratie auszuwirken? Weil die Sozialdemokratie in der ausgeprägt revolutionären Beurteilung dieses Ereignisses, in der Unterstützung eines jeden Protestes gegen die Willkür stets allen vorangeht. Sie läßt sich nicht durch Betrachtungen einlullen, daß der ökonomische Kampf die Arbeiter auf die trage ihrer Rechtlosigkeit stoßen wird und daß die konkreten Verhältnisse die Arbeiterbewegung unabwendbar auf den revolutionären Weg stoßen. Sie mischt sich in alle Gebiete und alle Fragen des öffentlichen und politischen Lebens ein, sei es, daß ein Bürgermeister, der der bürgerlichen Fortschrittspartei angehört, durch Wilhelm nicht bestätigt wurde (unseren „Ökonomisten“ ist es noch nicht gelungen, die Deutschen darüber aufzuklären, daß solch eine Einmischung eigentlich ein Kompromiß mit dem Liberalismus ist!), sei es der Erlaß eines Gesetzes gegen „unzüchtige“ Schriften und Abbildungen oder die Beeinflussung der Professorenwahlen durch die Regierung usw. usf. Überall sind sie allen voran, sie wecken die politische Unzufriedenheit in allen Klassen, rütteln die Schläfrigen auf, ermuntern die Zurückbleibenden, liefern vielseitiges Material zur Entwicklung des politischen Bewußtseins und der politischen Aktivität des Proletariats. Und das Ergebnis ist, daß selbst bewußte Feinde des Sozialismus von Achtung für den politischen Kämpfer erfüllt werden, und zuweilen geschieht es, daß ein wichtiges Dokument nicht nur aus bürgerlichen Kreisen, sondern sogar aus Beamten- und Hofkreisen wie durch ein Wunder auf den Redaktionstisch des Vorwärts geflogen kommt.

Da haben wir die Lösung des scheinbaren „Widerspruchs“, der das Auffassungsvermögen des Rabotscheje Delo so sehr übersteigt, daß es nur die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und „Mummenschanz!“ ruft. Man stelle sich in der Tat vor: Wir, das Rabotscheje Delo, betrachten die Massenbewegungen der Arbeiter als die Hauptsache (und drucken das in Fettschrift!), wir warnen alle Welt vor der Unterschätzung des spontanen Elements, wir wollen dem eigentlichen, eigentlichen, eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter verleihen, wir wollen in enger und organischer Verbindung mit dem proletarischen Kampf bleiben! Und da kommt man und sagt uns, daß wir den Boden für die Umwandlung der Arbeiterbewegung in ein Werkzeug der bürgerlichen Demokratie vorbereiten. Und wer sagt das? Leute, die ein „Kompromiß“ mit dem Liberalismus eingehen, die sich in jede „liberale“ Frage einmischen (welche Verständnislosigkeit für die „organische Verbindung mit dem proletarischen Kampf“!), die den Studenten und gar (o Schrecken!) den Semstwoleuten so viel Aufmerksamkeit schenken! Leute, die überhaupt einen (im Vergleich zu den „Ökonomisten“) größeren Teil ihrer Kräfte der Arbeit unter den nichtproletarischen Klassen der Bevölkerung zuteilen wollen! Ist das etwa kein „Mummenschanz“??

Armes Rabotscheje Delo! Wird es dieser verzwickten Mechanik jemals auf den Grund kommen?

 

Fußnote von Lenin

P. Hier finden wir auch die Berufung auf die „konkreten russischen Verhältnisse, die die Arbeiterbewegung unabwendbar auf den revolutionären Weg stoßen“. Die Leute wollen nicht begreifen, daß der revolutionäre Weg der Arbeiterbewegung auch noch ein nichtsozialdemokratischer Weg sein kann! Hat doch die gesamte westeuropäische Bourgeoisie unter dem Absolutismus die Arbeiter auf einen revolutionären Weg „gestoßen“, bewußt gestoßen. Wir Sozialdemokraten aber dürfen uns damit nicht zufriedengeben. Und wenn wir, gleichviel durch was, die sozialdemokratische Politik zur spontanen, trade-unionistischen Politik degradieren, so arbeiten wir eben damit der bürgerlichen Demokratie in die Hände.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004