W.I. Lenin

 

Was tun?

 

IV
Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre

Die oben von uns analysierten Behauptungen des Rabotscheje Delo, der ökonomische Kampf sei das weitest anwendbare Mittel der politischen Agitation und es sei jetzt unsere Aufgabe, dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen usw., bringen eine beschränkte Auffassung nicht nur von unseren politischen, sondern auch von unseren organisatorischen Aufgaben zum Ausdruck. Für den „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ ist eine gesamtrussische zentralisierte Organisation überhaupt nicht notwendig – und aus diesem Kampf kann daher eine derartige Organisation gar nicht hervorgehen, die sämtliche Erscheinungen der politischen Opposition, des Protestes und der Empörung zu einem gemeinsamen Ansturm vereinigt, eine Organisation, die aus Berufsrevolutionären besteht und von wirklichen politischen Führern des ganzen Volkes geleitet wird. Das ist auch begreiflich. Der Charakter der Organisation einer jeden Institution wird natürlich und unvermeidlich durch den Inhalt der Tätigkeit dieser Institution bestimmt. Darum sanktioniert und legalisiert das Rabotscheje Delo durch seine oben analysierten Behauptungen nicht nur den engen Rahmen der politischen Tätigkeit, sondern auch den der organisatorischen Arbeit. Auch in diesem Falle ist das Rabotscheje Delo, wie immer, ein Organ, dessen Bewußtheit vor der Spontaneität kapituliert. Doch die Anbetung der sich spontan herausbildenden Organisationsformen, die mangelnde Erkenntnis dessen, wie eng und primitiv unsere Organisationsarbeit ist, was für „Handwerkler“ wir auf diesem wichtigen Gebiet noch sind, das Fehlen dieser Erkenntnis, sage ich, ist die wahre Krankheit unserer Bewegung. Das ist selbstverständlich nicht eine Krankheit des Verfalls, sondern eine Wachstumskrankheit. Aber gerade jetzt, wo die Welle der spontanen Empörung uns, den Führern und Organisatoren der Bewegung, sozusagen über den Kopf schlägt, ist es besonders notwendig, den unversöhnlichsten Kampf gegen jede Verteidigung der Rückständigkeit, gegen jede Legalisierung des engen Rahmens auf diesem Gebiet zu führen, ist es besonders notwendig, in jedem, der an der praktischen Arbeit teilnimmt oder die Absicht hat, sich ihr zu widmen, Unzufriedenheit mit der bei uns herrschenden Handwerklerei zu wecken sowie die unbeugsame Entschlossenheit, sich von dieser frei zu machen.

 

 

a) Was ist Handwerklerei?

Wir wollen versuchen, auf diese Frage dadurch zu antworten, daß wir ein kleines Bild von der Tätigkeit eines typischen sozialdemokratischen Zirkels der Jahre 1894 bis 1901 entwerfen. Wir haben bereits auf die allgemeine Begeisterung der studierenden Jugend jener Zeit für den Marxismus hingewiesen. Diese Begeisterung galt natürlich nicht nur und sogar nicht so sehr dem Marxismus als Theorie als vielmehr dem Marxismus als Antwort auf die Frage „Was tun?“, als Appell zum Feldzug gegen den Feind. Und die neuen Streiter zogen mit erstaunlich primitiver Ausrüstung und Ausbildung ins Feld. In vielen Fällen hatten sie sogar fast gar keine Ausrüstung und nicht die geringste Ausbildung. Sie zogen in den Krieg wie richtige Bauern, nur mit einem Knüppel bewaffnet. Ein Studentenzirkel knüpft Beziehungen zu Arbeitern an und beginnt zu arbeiten, ohne jede Verbindung mit den alten Funktionären der Bewegung, ohne jede Verbindung mit Zirkeln an anderen Orten oder auch nur in anderen Stadtteilen (oder in anderen Lehranstalten), ohne jede Organisation der einzelnen Zweige der revolutionären Arbeit, ohne jeden systematischen Plan für eine Tätigkeit auf längere Zeit. Nach und nach entfaltet der Zirkel eine immer umfassendere Propaganda- und Agitationsarbeit, gewinnt schon allein durch sein Auftreten die Sympathien ziemlich breiter Arbeiterschichten sowie die Sympathien eines gewissen Teils der gebildeten Gesellschaft, die Gelder aufbringt und dem „Komitee“ immer neue und neue Gruppen der Jugend zuführt. Die Anziehungskraft des Komitees (oder des Kampfbundes) nimmt zu, es wächst das Ausmaß seiner Tätigkeit, und das Komitee erweitert diese Tätigkeit ganz spontan: dieselben Menschen, die vor einem Jahr oder einigen Monaten in Studentenzirkeln auftraten und die Frage „Wohin gehen?“ zu beantworten suchten, die Beziehungen zu den Arbeitern anknüpften und unterhielten, Flugblätter verfaßten und verbreiteten, knüpfen nun Beziehungen zu anderen Gruppen von Revolutionären an, schaffen Literatur herbei, machen sich daran, eine lokale Zeitung herauszugeben, beginnen von der Veranstaltung einer Demonstration zu reden und gehen schließlich zu offenen Kampfhandlungen über (wobei eine solche offene Kampfhandlung, je nach den Umständen, entweder schon das erste Agitationsflugblatt oder die erste Nummer einer Zeitung oder die erste Demonstration sein kann). Und gewöhnlich führt gleich der Beginn dieser Aktionen zum sofortigen und vollständigen Auffliegen. Sofort und vollständig, eben weil diese Kampfhandlungen nicht das Resultat eines systematischen, im voraus durchdachten und von langer Hand vorbereiteten Planes für einen langen und hartnäckigen Kampf waren, sondern sich einfach aus dem spontanen Wachstum der traditionell betriebenen Zirkelarbeit ergeben haben; weil die Polizei natürlicherweise fast immer sämtliche Hauptführer der lokalen Bewegung, die sich schon in ihrer Studentenzeit „mißliebig gemacht“ hatten, kannte und nur den günstigsten Augenblick für eine Razzia abwartete; dazu gab sie den Zirkeln absichtlich die Möglichkeit, sich auszubreiten und zu entfalten, um ein greifbares Corpus delicti zu haben, und ließ ein paar ihr wohlbekannte Leute stets absichtlich übrig – „zur Aufzucht“ (wie der Fachausdruck lautet, der, soweit mir bekannt ist, sowohl von den Unseren als auch von den Gendarmen gebraucht wird). Man kann nicht umhin, einen solchen Krieg einem Feldzug mit Knüppeln bewaffneter Bauernhaufen gegen eine moderne Armee gleichzusetzen. Und man kann nur staunen über die Lebensfähigkeit der Bewegung, die sich ausbreitete, wuchs und Siege davontrug, trotz dieses absoluten Mangels an Schulung bei den Kämpfenden. Geschichtlich gesehen war allerdings die Primitivität der Ausrüstung anfänglich nicht nur unvermeidlich, sondern sogar gerechtfertigt, als eine der Bedingungen für die Gewinnung einer großen Schar von Streitern. Aber sobald ernste Kampfhandlungen einsetzten (und sie setzten eigentlich schon mit den Streiks im Sommer 1896 ein), da machten sich die Mängel unserer militärischen Organisation immer stärker und stärker fühlbar. Die Regierung war zuerst verdutzt und machte eine Reihe von Fehlern (wie z.B. der Aufruf an die Öffentlichkeit, in dem die Missetaten der Sozialisten ausgemalt wurden, oder die Ausweisung von Arbeitern aus den Hauptstädten in die Industriezentren der Provinz), sehr bald paßte sie sich aber den neuen Kampfbedingungen an und verstand es, ihre auf das vollkommenste gerüsteten Trupps von Lockspitzeln, Spionen und Gendarmen an den nötigen Stellen einzusetzen. Das Auf fliegen von Organisationen wurde so häufig, zog eine so große Menge von Menschen in Mitleidenschaft, fegte die lokalen Zirkel so gründlich hinweg, daß die Arbeitermasse buchstäblich alle Führer verlor, die Bewegung einen unglaublich sprunghaften Charakter annahm und sich absolut keine Kontinuität und kein Zusammenhang in der Arbeit herausbilden konnten. Das unvermeidliche Ergebnis der geschilderten Verhältnisse waren außerordentliche Zersplitterung der örtlichen Funktionäre, zufällige Zusammensetzung der Zirkel, Mangel an Vorbereitung und ein enger Gesichtskreis in theoretischen, politischen und organisatorischen Fragen. Infolge unseres Mangels an Ausdauer und Konspiration ist es so weit gekommen, daß an manchen Orten die Arbeiter von Mißtrauen gegen die Intellektuellen erfaßt werden und sie meiden: die Intellektuellen, sagen sie, verursachen durch ihre Leichtfertigkeit Verhaftungen!

Daß diese Handwerklerei schließlich von allen denkenden Sozialdemokraten als Krankheit empfunden wurde, weiß jeder, der die Bewegung auch nur einigermaßen kennt. Damit aber der Leser, der mit der Bewegung nicht vertraut ist, nicht etwa glaubt, daß wir ein besonderes Stadium oder eine besondere Krankheit der Bewegung künstlich „konstruieren“, wollen wir uns auf einen bereits erwähnten Zeugen berufen. Man verzeihe uns das lange Zitat.

„Wenn der allmähliche Übergang zu einer umfassenderen praktischen Tätigkeit“, schreibt B-w in Nr.6 des Rabotscheje Delo, „ein Übergang, der in direkter Abhängigkeit von der allgemeinen Übergangszeit steht, die die russische Arbeiterbewegung durchmacht, ein charakteristischer Zug ist ..., so gibt es noch einen anderen, nicht minder interessanten Zug im allgemeinen Mechanismus der russischen Arbeiterrevolution. Wir meinen damit den allgemeinen Mangel an aktionsfähigen revolutionären Kräften [A], der sich nicht nur in Petersburg, sondern auch in ganz Rußland fühlbar macht. Mit der allgemeinen Belebung der Arbeiterbewegung, mit der allgemeinen Entwicklung der Arbeitermasse, mit den immer häufiger werdenden Streiks, mit dem immer offener werdenden Massenkampf der Arbeiter, der zu einer Zunahme der Verfolgungen, Verhaftungen, Verbannungen und Ausweisungen durch die Regierung führt, tritt dieser Mangel an qualitativ hochstehenden revolutionären Kräften immer deutlicher hervor und bleibt zweifellos nicht ohne Einfluß auf die Tiefe und den allgemeinen Charakter der Bewegung. Viele Streiks verlaufen ohne starke und unmittelbare Einwirkung der revolutionären Organisationen ... es macht sich der Mangel an Agitationsflugblättern und illegaler Literatur geltend ... die Arbeiterzirkel bleiben ohne Agitatoren... Gleichzeitig macht sich ein ständiger Mangel an Geld bemerkbar. Mit einem Wort, das Wachstum der Arbeiterbewegung überflügelt das Wachstum und die Entwicklung der revolutionären Organisationen. Der Bestand an aktiven Revolutionären ist zu unbedeutend, als daß sie den Einfluß auf die gesamte in Wallung gekommene Arbeitermasse in ihren Händen konzentrieren, als daß sie der ganzen Empörung auch nur einen Schein von Geschlossenheit und Organisiertheit verleihen könnten ... Die einzelnen Zirkel, die einzelnen Revolutionäre sind nicht zusammengefaßt, nicht vereinigt, stellen keine einheitliche, starke und disziplinierte Organisation mit planmäßig entwickelten Teilen dar ...“ Und nachdem der Verfasser weiter festgestellt hat, daß das sofortige Auftauchen neuer Zirkel an Stelle der zerschlagenen „nur die Lebensfähigkeit der Bewegung beweist, ... nicht aber das Vorhandensein einer genügenden Zahl von wirklich tauglichen revolutionären Funktionären“, kommt er zu der Schlußfolgerung: „Die mangelnde praktische Schulung der Petersburger Revolutionäre zeigt sich auch in den Ergebnissen ihrer Arbeit. Die letzten Prozesse, besonders die gegen die Gruppen ‚Selbstbefreiung‘ und ‚Kampf der Arbeit gegen das Kapital‘ [54] haben klar gezeigt, daß ein junger Agitator, der die Bedingungen der Arbeit und folglich auch der Agitation in einem bestimmten Betrieb nicht in ihren Einzelheiten kennt, der mit den Grundregeln der Konspiration nicht vertraut ist und sich nur die allgemeinen Ansichten der Sozialdemokratie zu eigen gemacht hat“ (hat er sie sich wirklich zu eigen gemacht?), „höchstens 4, 5 oder 6 Monate arbeiten kann. Dann erfolgt seine Verhaftung, die oft die Zerschlagung der gesamten oder zum mindesten eines Teils der Organisation zur Folge hat. Es fragt sich nun, ob eine erfolgreiche und fruchtbare Tätigkeit einer Gruppe möglich ist, wenn ihre Lebensdauer nach Monaten zu rechnen ist? ... Offensichtlich können die Mängel der vorhandenen Organisationen nicht gänzlich der Übergangszeit zur Last gelegt werden ... offensichtlich spielt hier die quantitative und vor allem die qualitative Zusammensetzung der tätigen Organisationen eine nicht geringe Rolle, und die erste Aufgabe unserer Sozialdemokraten ... muß eine wirkliche Vereinigung der Organisationen bei strenger Auslese der Mitglieder sein.“

 

Fußnote von Lenin

A. Alle Hervorhebungen von uns.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008