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Wir haben gesehen, daß die umfassendste politische Agitation und folglich auch die Organisierung allseitiger politischer Enthüllungen die unbedingt notwendige und allerdringendste Aufgabe der Arbeit ist, wenn sie eine wahrhaft sozialdemokratische Arbeit sein soll. Doch diese Schlußfolgerung haben wir gezogen, ausgehend allein von dem dringendsten Bedürfnis der Arbeiterklasse nach politischem Wissen und politischer Erziehung. Indes wäre diese Problemstellung allein zu eng, sie würde die allgemein demokratischen Aufgaben jeder Sozialdemokratie schlechthin und der heutigen russischen Sozialdemokratie insbesondere außer acht lassen. Um diesen Satz möglichst konkret zu erläutern, wollen wir versuchen, an die Frage von der Seite heranzugehen, die dem „Ökonomisten“ „am nächsten“ liegt, nämlich der praktischen Seite. „Alle sind damit einverstanden“, daß es notwendig ist, das politische Bewußtsein der Arbeiterklasse zu entwickeln. Es fragt sich, wie das getan werden muß und was erforderlich ist, um es zu tun. Der ökonomische Kampf „stößt“ die Arbeiter nur auf Fragen, die das Verhältnis der Regierung zur Arbeiterklasse betreffen, und wie sehr wir uns auch abmühen mögen mit der Aufgabe, „dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“, wir würden es nie zustande bringen, im Rahmen dieser Aufgabe das politische Bewußtsein der Arbeiter (bis zur Höhe des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins) zu entwickeln, denn dieser Rahmen selbst ist zu eng. Die Martynowsche Formel ist für uns keineswegs deshalb von Wert, weil sie Martynows Fähigkeit, die Dinge durcheinanderzubringen, illustriert, sondern weil sie den Grundirrtum aller „Ökonomisten“ plastisch zum Ausdruck bringt, nämlich die Überzeugung, daß man das politische Klassenbewußtsein der Arbeiter aus ihrem ökonomischen Kampf sozusagen von innen heraus entwickeln könne, d.h. ausgehend allein (oder zumindest hauptsächlich) von diesem Kampf, basierend allein (oder zumindest hauptsächlich) auf diesem Kampf. Eine solche Auffassung ist grundfalsch – und eben weil die „Ökonomisten“, die uns wegen der gegen sie geführten Polemik zürnen, über den Ursprung der Meinungsverschiedenheiten nicht ordentlich nachdenken wollen, ergibt es sich, daß wir einander buchstäblich nicht verstehen, daß wir verschiedene Sprachen sprechen.
Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen. Deshalb darf man auf die Frage: Was ist zu tun, um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln? – nicht allein die Antwort geben, mit der sich in den meisten Fällen die Praktiker begnügen – von den Praktikern, die zum „Ökonomismus“ neigen, ganz zu schweigen –, nämlich die Antwort: „Zu den Arbeitern gehen“. Um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, müssen die Sozialdemokraten in alle Klassen der Bevölkerung gehen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.
Wir wählen absichtlich eine so schroffe Formulierung, drücken uns absichtlich vereinfacht kraß aus, nicht etwa aus dem Wunsch heraus, Paradoxa zu sagen, sondern um die „Ökonomisten“ gehörig auf die Aufgaben „zu stoßen“, die sie in unverzeihlicher Weise vernachlässigen, auf den Unterschied zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik, den sie nicht verstehen wollen. Darum bitten wir den Leser, sich nicht zu ereifern und uns aufmerksam bis zu Ende anzuhören.
Man nehme einen sozialdemokratischen Zirkel von dem Typus, wie er in den letzten Jahren am meisten verbreitet war, und betrachte seine Arbeit. Er hat „Verbindungen mit Arbeitern“ und gibt sich damit zufrieden, er gibt Flugblätter heraus, in denen die Mißstände in den Fabriken, die Begünstigung der Kapitalisten durch die Regierung und die Gewalttaten der Polizei gegeißelt werden; gewöhnlich geht in den Versammlungen die Unterhaltung mit den Arbeitern nie oder fast nie über den Rahmen der gleichen Themen hinaus; Referate und Aussprachen über die Geschichte der revolutionären Bewegung, über die Innen- und Außenpolitik unserer Regierung, über Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands und Europas und über die Stellung der verschiedenen Klassen in der modernen Gesellschaft usw. sind eine überaus große Seltenheit; niemand denkt daran, systematisch Verbindungen in anderen Gesellschaftsklassen anzuknüpfen und sie auszubauen. Im Grunde genommen schwebt den Mitgliedern eines solchen Zirkels in den meisten Fällen als Ideal eines Funktionärs viel eher so etwas wie der Sekretär einer Trade-Union vor als der sozialistische politische Führer. Denn der Sekretär einer beliebigen, beispielsweise englischen Trade-Union hilft den Arbeitern stets, den ökonomischen Kampf zu führen, organisiert Fabrikenthüllungen, erläutert die Ungerechtigkeit von Gesetzen und Maßnahmen, die die Streikfreiheit und die Aufstellung von Streikposten (um jedermann zur Kenntnis zu bringen, daß in dem betreffenden Betrieb gestreikt wird) behindern, klärt über die Voreingenommenheit der Schiedsrichter auf, die den bürgerlichen Klassen des Volkes angehören usw. usf. Mit einem Wort, jeder Sekretär einer Trade-Union führt „den ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ und hilft ihn führen. Man kann nicht genug betonen, daß das noch nicht Sozialdemokratismus ist, daß das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muß, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen. Man vergleiche zum Beispiel solche Männer wie Robert Knight (bekannter Sekretär und Führer des Verbandes der Kesselschmiede, einer der mächtigsten englischen Trade-Unions) und Wilhelm Liebknecht, und man versuche auf sie jene Gegenüberstellung anzuwenden, in die Martynow seine Meinungsverschiedenheit mit der Iskra faßt. Man wird sehen – ich beginne Martynows Artikel durchzublättern –, daß R. Knight viel mehr „an die Massen den Appell zu gewissen konkreten Aktionen“ richtete (39), während W. Liebknecht sich viel mehr „mit der revolutionären Beleuchtung des ganzen bestehenden Regimes oder seiner Teilerscheinungen“ befaßte (38/39); daß R. Knight „die nächsten Forderungen des Proletariats formulierte und auf die Mittel zu ihrer Verwirklichung hinwies“ (41), während W. Liebknecht, der dies auch tat, nicht darauf verzichtete, „gleichzeitig die aktive Tätigkeit der verschiedenen oppositionellen Schichten zu leiten“ und „ihnen ein positives Aktionsprogramm zu diktieren“ [M] (41); daß R. Knight bestrebt war, eben „nach Möglichkeit dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“ (42), und es ausgezeichnet verstand, „an die Regierung konkrete Forderungen zu stellen, die gewisse greifbare Resultate verheißen“ (43), während W. Liebknecht sich viel mehr mit „einseitigen“ „Enthüllungen“ (40) befaßte; daß R. Knight der „Vorwärtsbewegung des unscheinbaren Tageskampf es“ (61), W. Liebknecht aber „der Propaganda glänzender und vollendeter Ideen“ mehr Bedeutung beimaß (61); daß W. Liebknecht aus der von ihm geleiteten Zeitung gerade „das Organ der revolutionären Opposition“ machte, „das unsere Zustände enthüllt, vor allem die politischen Zustände, soweit sie mit den Interessen der verschiedensten Bevölkerungsschichten kollidieren“ (63), während R. Knight „für die Arbeitersache in enger organischer Verbindung mit dem proletarischen Kampf arbeitete“ (63) – wenn man „die enge und organische Verbindung“ im Sinne jener Anbetung der Spontaneität versteht, wie wir sie oben an den Beispielen Kritschewskis und Martynows untersucht haben – und „die Sphäre seiner Einwirkung einengte“, weil er natürlich ebenso wie Martynow davon überzeugt war, daß er „dadurch die Einwirkung selber komplizierte“ (63). Kurz und gut, man wird sehen, daß Martynow. de facto die Sozialdemokratie zum Trade-Unionismus degradiert, obgleich er das natürlich keineswegs deshalb tut, weil er etwa der Sozialdemokratie nicht das Beste wünscht, sondern einfach, weil er sich ein wenig beeilt hat, Plechanow zu vertiefen, anstatt sich die Mühe zu machen, Plechanow zu verstehen.
Doch kehren wir zu unserer Darstellung zurück. Wir haben gesagt, daß ein Sozialdemokrat, der nicht nur in Worten für die Notwendigkeit einer allseitigen Entwicklung des politischen Bewußtseins des Proletariats eintritt, „in alle Klassen der Bevölkerung gehen“ muß. Es entstehen die Fragen: Wie ist das zu machen? Haben wir die Kräfte dazu? Ist der Boden für eine solche Arbeit in allen übrigen Klassen vorhanden? Wird das nicht eine Preisgabe des Klassenstandpunkts bedeuten oder zu einer Preisgabe des Klassenstandpunkts führen? Gehen wir auf diese Fragen ein.
„In alle Klassen der Bevölkerung gehen“ müssen wir sowohl als Theoretiker und als Propagandisten wie auch als Agitatoren und als Organisatoren. Daß die theoretische Arbeit der Sozialdemokraten auf das Studium aller Besonderheiten der sozialen und der politischen Lage der einzelnen Klassen gerichtet sein muß, daran zweifelt niemand. Doch wird in dieser Hinsicht herzlich wenig getan, unverhältnismäßig wenig im Vergleich zu der Arbeit, die auf das Studium der Besonderheiten des Fabriklebens verwendet wird. In den Komitees und Zirkeln kann man Leute antreffen, die sich sogar in das Spezialstudium irgendeines Zweiges der Eisenproduktion vertiefen, aber man kann fast keine Beispiele anführen, daß Mitglieder der Organisationen (die, wie es oft der Fall ist, gezwungen sind, aus diesem oder jenem Grunde die praktische Arbeit aufzugeben) sich speziell mit dem Sammeln von Material über irgendeine aktuelle Frage unseres sozialen und politischen Lebens befaßten, die zu einer sozialdemokratischen Arbeit in anderen Schichten der Bevölkerung Anlaß geben könnte. Wenn man von der geringen Schulung der meisten heutigen Führer der Arbeiterbewegung spricht, so muß man auch die Schulung in dieser Hinsicht erwähnen, denn auch das hängt mit der „ökonomistischen“ Auffassung von der „engen organischen Verbindung mit dem proletarischen Kampf“ zusammen. Die Hauptsache aber ist natürlich Propaganda und Agitation unter allen Schichten des Volkes. Dem westeuropäischen Sozialdemokraten wird diese Aufgabe durch Volksversammlungen und Zusammenkünfte erleichtert, die jeder, der dazu Lust hat, besuchen kann, sie wird ihm durch das Parlament erleichtert, wo er vor Abgeordneten aller Klassen spricht. Wir haben weder ein Parlament noch Versammlungsfreiheit, aber wir verstehen es dennoch, Versammlungen von Arbeitern zu veranstalten, die einen Sozialdemokraten hören wollen. Wir müssen es auch verstehen, Versammlungen von Vertretern aller Bevölkerungsklassen zu veranstalten, die nur einen Demokraten hören wollen. Denn der ist kein Sozialdemokrat, der in der Praxis vergißt, daß „die Kommunisten überall jede revolutionäre Bewegung unterstützen“ [44], daß wir daher verpflichtet sind, vor dem ganzen Volke die allgemein demokratischen Aufgaben darzulegen und hervorzuheben, ohne auch nur einen Augenblick unsere sozialistischen Überzeugungen zu verheimlichen. Der ist kein Sozialdemokrat, der in der Praxis seine Pflicht vergißt, bei der Aufrollung, Zuspitzung und Lösung jeder allgemein demokratischen Frage allen voranzugehen.
„Damit sind entschieden alle einverstanden!“ – unterbricht uns der ungeduldige Leser, und die neue Instruktion für die Redaktion des Rabotscheje Delo, die von der letzten Konferenz des Auslandsbundes angenommen worden ist, sagt direkt: „Als Anlässe zur politischen Propaganda und Agitation müssen alle Erscheinungen und Geschehnisse des sozialen und politischen Lebens dienen, die das Proletariat entweder unmittelbar als besondere Klasse oder als Avantgarde aller revolutionären Kräfte im Kampfe für die Freiheit betreffen.“ (Zwei Konferenzen, S.17, hervorgehoben von uns.) Ja, das sind sehr richtige und sehr schöne Worte, und wir wären völlig zufrieden, wenn das Rabotscheje Delo sie begriffen hätte, wenn es nicht zugleich mit diesen Worten Dinge redete, die ihnen widersprechen. Es genügt nicht, sich „Avantgarde“, Vortrupp zu nennen – man muß auch so handeln, daß alle übrigen Trupps erkennen und gezwungen sind anzuerkennen, daß wir an der Spitze marschieren. Und wir fragen den Leser: Sind denn die Vertreter der übrigen „Trupps“ solche Dummköpfe, daß sie uns die „Avantgarde“ aufs Wort glauben? Man stelle sich nur einmal konkret folgendes vor: Zu dem „Trupp“ der gebildeten russischen Radikalen oder liberalen Konstitutionalisten kommt ein Sozialdemokrat und erklärt: Wir sind die Avantgarde, „jetzt steht vor uns die Aufgabe, nach Möglichkeit dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“. Jeder einigermaßen gescheite Radikale oder Konstitutionalist (und unter den russischen Radikalen und Konstitutionalisten gibt es viele gescheite Leute) wird, wenn er eine solche Rede hört, nur spöttisch lächeln und sagen (natürlich im stillen, denn er ist in den meisten Fällen ein erfahrener Diplomat): „Wie einfältig ist doch diese ‚Avantgarde‘! Sie versteht nicht einmal, daß es ja unsere Aufgabe ist, die Aufgabe der fortgeschrittenen Vertreter der bürgerlichen Demokratie, dem eigentlichen ökonomischen Kampf der Arbeiter politischen Charakter zu verleihen. Auch wir wollen, ebenso wie alle westeuropäischen Bourgeois, die Arbeiter in die Politik hineinziehen, aber eben nur in eine trade-unionistische und nicht in eine sozialdemokratische Politik. Die trade-unionistische Politik der Arbeiterklasse ist eben die bürgerliche Politik der Arbeiterklasse. Wenn diese ‚Avantgarde‘ ihre Aufgaben so formuliert, so ist das eben die Formulierung der trade-unionistischen Politik! Mögen sie sich daher Sozialdemokraten nennen, soviel sie wollen. Ich bin doch wahrlich kein Kind, daß ich mich wegen der Etiketten aufregen könnte! Wenn sie nur nicht dem Einfluß dieser schädlichen orthodoxen Dogmatiker verfallen, wenn sie nur die ‚Freiheit der Kritik‘ denen überlassen, die unbewußt die Sozialdemokratie in das trade-unionistische Fahrwasser schleppen!“
Das spöttische Lächeln unseres Konstitutionalisten wird aber zum homerischen Gelächter werden, wenn er erfährt, daß jene Sozialdemokraten, die von der Sozialdemokratie als Avantgarde sprechen, heute, in einer Zeit fast absoluter Herrschaft der Spontaneität in unserer Bewegung, nichts mehr fürchten als die „Unterschätzung des spontanen Elements“, daß sie Angst haben, „die Bedeutung der Vorwärtsbewegung des unscheinbaren Tageskampfes im Vergleich zur Propaganda glänzender und vollendeter Ideen zu unterschätzen“ usw. usw.! Eine „Vorhut“, die befürchtet, das Bewußtsein könne der Spontaneität voraneilen, die sich scheut, einen kühnen „Plan“ aufzustellen, der auch die allgemeine Anerkennung der Andersdenkenden erzwingen würde! Verwechseln sie nicht am Ende das Wort Vorhut mit dem Wort Nachhut?
In der Tat, man überlege sich einmal gründlich folgende Betrachtung Martynows. Er spricht auf S.40 davon, daß die Enthüllungstaktik der Iskra einseitig sei, daß wir, „wieviel Mißtrauen und Haß gegen die Regierung wir auch säen mögen, das Ziel nicht erreichen werden, solange es uns nicht gelingt, eine genügend aktive soziale Kraft zum Sturz der Regierung zu entwickeln“. Das ist, in Parenthese bemerkt, die uns bereits bekannte Sorge um die Steigerung der Aktivität der Masse neben dem Bestreben, die eigene Aktivität zu vermindern. Aber nicht darum handelt es sich jetzt. Martynow spricht hier also von einer revolutionären Kraft („zum Sturz“). Und zu welchem Schluß gelangt er? Da in normalen Zeiten die verschiedenen sozialen Schichten unvermeidlich getrennt auftreten, so „ist angesichts dieser Tatsache klar, daß wir Sozialdemokraten nicht imstande sind, gleichzeitig die aktive Tätigkeit der verschiedenen oppositionellen Schichten zu leiten, daß wir nicht imstande sind, ihnen ein positives Aktionsprogramm zu diktieren, ihnen nicht zeigen können, mit welchen Mitteln sie tagein, tagaus für ihre Interessen zu kämpfen haben ... Die liberalen Schichten werden sich schon selber um den aktiven Kampf für ihre nächsten Interessen kümmern, der sie Auge in Auge unserem politischen Regime gegenüberstellen wird.“ (41.) Kaum hat also Martynow begonnen, von der revolutionären Kraft, vom aktiven Kampf zum Sturz der Selbstherrschaft zu sprechen, da gleitet er sofort zur gewerkschaftlichen Kraft, zum aktiven Kampf für die nächsten Interessen ab! Es versteht sich von selbst, daß wir den Kampf der Studenten, der Liberalen usw. für ihre „nächsten Interessen“ nicht leiten können, aber nicht davon war ja die Rede, verehrtester „Ökonomist“! Die Rede war von der möglichen und notwendigen Teilnahme. der verschiedenen Gesellschaftsschichten am Sturz der Selbstherrschaft, und diese „aktive Tätigkeit der verschiedenen oppositionellen Schichten“ können wir nicht nur, sondern müssen wir unbedingt leiten, wenn wir die „Avantgarde“ sein wollen. Daß unsere Studenten, unsere Liberalen usw. „Auge in Auge unserem politischen Regime gegenüberstehen“, dafür werden nicht nur sie selber sorgen, wer dafür sorgen wird, das werden vor allem und in erster Linie die Polizei und die Beamten der absolutistischen Regierung sein. Aber „wir“ müssen, wenn wir fortgeschrittene Demokraten sein wollen, dafür sorgen, daß die Leute, die eigentlich nur mit den Zuständen an der Universität oder in den Semstwos usw. unzufrieden sind, auf den Gedanken von der Untauglichkeit des gesamten politischen Regimes gestoßen werden. Wir müssen die Aufgabe auf uns nehmen, einen solchen allseitigen politischen Kampf unter Leitung unserer Partei zu organisieren, damit alle oppositionellen Schichten diesen Kampf und diese Partei nach Maßgabe ihrer Kräfte unterstützen können und es auch wirklich tun. Wir müssen aus den Praktikern der Sozialdemokratie politische Führer heranbilden, die imstande sind, diesen allseitigen Kampf in all seinen Erscheinungsformen zu leiten, die imstande sind, im gegebenen Moment sowohl den rebellierenden Studenten und unzufriedenen Semstwoleuten als auch den empörten Sektierern, den benachteiligten Volksschullehrern usw. usf. „ein positives Aktionsprogramm zu diktieren“. Darum ist Martynows Behauptung vollkommen falsch, daß „wir ihnen gegenüber nur in der negativen Rolle der Entlarver des Regimes auftreten können ... Wir können nur die Hoffnungen, die sie auf verschiedene Regierungskommissionen setzen, zerstreuen“ (hervorgehoben von uns). Mit diesen Worten zeigt Martynow, daß er von der wirklichen Rolle der revolutionären „Avantgarde“ rein gar nichts versteht. Zieht der Leser dies in Betracht, so wird ihm der wahre Sinn folgender abschließenden Worte Martynows klar: „Die Iskra ist das Organ der revolutionären Opposition, das unsere Zustände, und vor allem die politischen Zustände, enthüllt, soweit sie mit den Interessen der verschiedensten Bevölkerungsschichten kollidieren. Wir aber arbeiten für die Arbeitersache in enger organischer Verbindung mit dem proletarischen Kampf und werden weiter für sie arbeiten. Wenn wir die Sphäre unserer Einwirkung einengen, so komplizieren wir damit die Einwirkung selber.“ (63.) Der wahre Sinn dieser Schlußfolgerung ist folgender: Die Iskra will die trade-unionistische Politik der Arbeiterklasse (auf die sich bei uns die Praktiker aus Mißverständnis, mangelnder Schulung oder aus Überzeugung so oft beschränken) zur sozialdemokratischen Politik emporheben. Das Rabotscheje Delo aber will die sozialdemokratische Politik zur trade-unionistischen degradieren. Dabei versichert es allen und jedem, dies seien „durchaus vereinbare Positionen in der gemeinsamen Sache“ (63). 0 sancta simplicitas!
Gehen wir weiter. Haben wir die Kraft, unsere Propaganda und Agitation in alle Klassen der Bevölkerung zu tragen? Gewiß. Unsere „Ökonomisten“, die oft geneigt sind, das zu verneinen, übersehen jenen gewaltigen Schritt vorwärts, den unsere Bewegung von (ungefähr) 1894 bis 1901 getan hat. Als echte „Nachtrabpolitiker“ leben sie oft noch in den Vorstellungen der längst vergangenen Anfangsperiode der Bewegung. Damals verfügten wir tatsächlich über erstaunlich geringe Kräfte, damals war die Entschlossenheit, sich restlos der Tätigkeit unter den Arbeitern zu widmen und jedes Abweichen von ihr scharf zu verurteilen, natürlich und gerechtfertigt, damals bestand die ganze Aufgabe darin, in der Arbeiterklasse festen Fuß zu fassen. Jetzt sind gigantische Kräfte in die Bewegung hineingezogen worden, zu uns stoßen die besten Vertreter der jungen Generation der gebildeten Klassen, überall in der Provinz sitzen gezwungenerweise Leute, die an der Bewegung bereits teilgenommen haben oder an ihr teilnehmen möchten, Leute, die sich zur Sozialdemokratie hingezogen fühlen (während man im Jahre 1894 die Zahl der russischen Sozialdemokraten noch an den Fingern abzählen konnte). Einer der grundlegenden politischen und organisatorischen Mängel unserer Bewegung ist, daß wir es nicht verstehen, alle diese Kräfte zu beschäftigen, allen die passende Arbeit zu geben (ausführlicher werden wir im nächsten Kapitel darauf eingehen). Die überwiegende Mehrheit dieser Kräfte hat absolut keine Möglichkeit, „zu den Arbeitern zu gehen“, so daß von einer Gefahr, es könnten Kräfte von unserer Hauptarbeit abgezogen werden, nicht die Rede sein kann. Um aber den Arbeitern wirkliches, allseitiges und lebendiges politisches Wissen zu vermitteln, brauchen wir unsere „eigenen Leute“, Sozialdemokraten, überall, in allen Gesellschaftsschichten, in allen Positionen, wo sie die Möglichkeit haben, die inneren Triebfedern unseres Staatsmechanismus kennenzulernen. Und solche Leute braucht man nicht nur für die Propaganda und Agitation, sondern noch viel mehr für die organisatorische Arbeit.
Gibt es einen Boden für die Tätigkeit in allen Klassen der Bevölkerung? Wer das nicht sieht, der bleibt wiederum in seiner Bewußtheit hinter dem spontanen Aufschwung der Massen zurück. Die Arbeiterbewegung hat Unzufriedenheit bei den einen, Hoffnung auf Unterstützung der Opposition bei den anderen, die Erkenntnis, daß die Selbstherrschaft unhaltbar und ihr Zusammenbruch unvermeidlich ist, bei den dritten hervorgerufen und ruft sie weiterhin hervor. Wir wären nur in Worten „Politiker“ und Sozialdemokraten (wie es sehr, sehr oft in Wirklichkeit der Fall ist), wenn wir uns nicht der Aufgabe bewußt wären, alle Erscheinungen der Unzufriedenheit auszunutzen, alle Körnchen eines wenn auch erst aufkeimenden Protestes zu sammeln und zu bearbeiten. Wir sprechen dabei schon gar nicht davon, daß all die vielen Millionen der werktätigen Bauernschaft, der Hausarbeiter, der kleinen Handwerker usw. stets die Rede eines einigermaßen geschickt auftretenden Sozialdemokraten begierig anhören würden. Aber kann auch nur eine Klasse der Bevölkerung genannt werden, in der es nicht Personen, Gruppen und Kreise gäbe, die mit der Rechtlosigkeit und Willkür unzufrieden und daher für die Agitation des Sozialdemokraten, als des Wortführers der dringendsten allgemein demokratischen Forderungen, zugänglich sind? Wer sich aber diese politische Agitation des Sozialdemokraten in allen Klassen und Schichten der Bevölkerung konkret vorstellen will, der sei auf die politischen Enthüllungen im weiten Sinne dieses Wortes hingewiesen, als auf das wichtigste (aber natürlich nicht einzige) Mittel dieser Agitation.
Wir müssen ... – schrieb ich im Artikel Womit beginnen? (Iskra Nr.4, Mai 1901), auf den wir weiter unten noch ausführlich eingehen werden – in allen einigermaßen bewußten Volksschichten die Leidenschaft für politische Enthüllungen wecken. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß Stimmen der politischen Enthüllung heute so schwach, selten und zaghaft sind. Der Grund hierfür liegt durchaus nicht darin, daß man sich allgemein mit der Polizeiwillkür abgefunden hätte. Der Grund ist der, daß die Leute, die fähig und bereit sind, Mißstände zu enthüllen, keine Tribüne haben, von der sie sprechen könnten, daß sie kein Auditorium haben, das den Rednern leidenschaftlich zuhören und sie ermutigen würde, daß sie nirgends im Volke die Kraft sehen, bei der es der Mühe wert wäre, eine Beschwerde gegen die „allmächtige“ russische Regierung vorzubringen ... Wir sind jetzt imstande, und wir sind verpflichtet, eine Tribüne zu schaffen für eine vom ganzen Volk ausgehende Entlarvung der zaristischen Regierung – eine solche Tribüne soll die sozialdemokratische Zeitung sein. [45]
Eben ein solches ideales Auditorium für politische Enthüllungen ist die Arbeiterklasse, die vor allem und am meisten ein allseitiges und lebendiges politisches Wissen braucht; die am meisten fähig ist, dieses Wissen in aktiven Kampf umzusetzen, auch wenn dieser keine „greifbaren Resultate“ verheißt. Eine Tribüne aber für Enthüllungen, die vom ganzen Volk ausgehen, kann nur eine gesamtrussische Zeitung sein. „Ohne ein politisches Organ ist im heutigen Europa eine Bewegung, die die Bezeichnung politisch verdient, undenkbar“, zweifellos aber gehört Rußland in dieser Hinsicht ebenfalls zum heutigen Europa. Die Presse ist bei uns schon längst eine Macht geworden – sonst würde ja die Regierung nicht Zehntausende von Rubeln ausgeben, um die Presse zu bestechen und die verschiedenen Katkow und Meschtscherski zu subsidieren. Und es ist im Rußland der Selbstherrschaft nichts Neues, daß die illegale Presse die Zensurschranken durchbricht und die legalen und konservativen Organe zwingt, offen von ihr zu reden. So war es in den siebziger und sogar in den fünfziger Jahren. Um wieviel breiter und tiefer aber sind jetzt die Volksschichten, die bereit sind, die illegale Presse zu lesen und aus ihr zu lernen, „wie man leben und wie man sterben“ soll, um mit den Worten eines Arbeiters zu reden, der einen Brief an die Iskra schrieb (Nr.7). [46] Die politischen Enthüllungen sind ebenso eine Kriegserklärung an die Regierung, wie die ökonomischen Enthüllungen eine Kriegserklärung an den Fabrikbesitzer sind. Und diese Kriegserklärung ist von um so größerer moralischer Bedeutung, je umfassender und wuchtiger diese Enthüllungskampagne ist, je stärker an Zahl und entschlossener die gesellschaftliche Klasse ist, die den Krieg erklärt, um den Krieg zu beginnen. Die politischen Enthüllungen sind darum an und für sich schon eines der wirksamsten Mittel zur Zersetzung der feindlichen Reihen, ein Mittel, dem Feinde seine zufälligen oder zeitweiligen Verbündeten abtrünnig zu machen, ein Mittel, zwischen den ständigen Trägern der absolutistischen Macht Feindschaft und Mißtrauen zu säen.
In unserer Zeit kann nur die Partei zur Avantgarde der revolutionären Kräfte werden, die wirklich vom ganzen Volk ausgehende Enthüllungen organisiert. Diese Werte „vom ganzen Volk ausgehend“ haben aber einen sehr reichen Inhalt. Die übergroße Mehrheit der Entlarver, die nicht der Arbeiterklasse angehören (um aber zur Avantgarde zu werden, muß man eben die anderen Klassen heranziehen), sind nüchterne Politiker und kaltblütige, sachliche Leute. Sie wissen sehr gut, daß es nicht ungefährlich ist, sich sogar über einen unteren Beamten „zu beschweren“, geschweige denn über die „allmächtige“ russische Regierung. Und sie werden sich mit einer Beschwerde erst dann an uns wenden, wenn sie sehen, daß diese Beschwerde tatsächlich geeignet ist, eine Wirkung auszuüben, wenn sie sehen, daß wir eine politische Kraft darstellen. Damit wir in den Augen Außenstehender zu einer solchen Kraft werden, müssen wir viel und beharrlich an der Hebung unserer Bewußtheit, Initiative und Tatkraft arbeiten; dazu genügt es nicht, der Theorie und Praxis einer Nachhut das Etikett „Vorhut“ aufzukleben.
Müssen wir es aber übernehmen, eine wirklich vom ganzen Volk ausgehende Entlarvung der Regierung zu organisieren, worin drückt sich dann der Klassencharakter unserer Bewegung aus? – wird uns der mehr eifrige als kluge Anbeter der „engen organischen Verbindung mit dem proletarischen Kampf“ fragen und fragt es uns bereits. – Eben darin, daß wir, die Sozialdemokraten, diese vom ganzen Volk ausgehende Entlarvung organisieren; darin, daß alle durch die Agitation aufgerollten Fragen in streng sozialdemokratischem Geiste, ohne die geringste Nachsicht gegen beabsichtigte und unbeabsichtigte Entstellungen des Marxismus erläutert werden; darin, daß diese allseitige politische Agitation von einer Partei geführt wird, die zu einem untrennbaren Ganzen vereinigt: sowohl den Ansturm gegen die Regierung im Namen des ganzen Volkes als auch die revolutionäre Erziehung des Proletariats bei gleichzeitiger Wahrung seiner politischen Selbständigkeit, sowohl die Leitung des ökonomischen Kampfes der Arbeiterklasse als auch die Ausnutzung jener spontanen Zusammenstöße des Proletariats mit seinen Ausbeutern, die immer neue Schichten des Proletariats auf rütteln und für uns gewinnen!
Aber eines der charakteristischen Merkmale des „Ökonomismus“ besteht eben darin, daß er diesen Zusammenhang, ja mehr, diese Übereinstimmung des dringendsten Bedürfnisses des Proletariats (der allseitigen politischen Erziehung durch politische Agitation und politische Enthüllungen) mit den Bedürfnissen der gesamtdemokratischen Bewegung nicht versteht. Dieses Nichtverstehen kommt nicht nur in den „Martynowschen“ Phrasen zum Ausdruck, sondern auch in der Berufung auf den angeblichen Klassenstandpunkt, die ihrem Inhalt nach mit diesen Phrasen identisch ist. So äußern sich darüber z.B. die Verfasser des „ökonomistischen“ Briefes in Nr.12 der Iskra [N]: „Der gleiche grundlegende Fehler der Iskra„ (die Überschätzung der Ideologie) „ist die Ursache ihrer Inkonsequenz in der Frage, welche Stellung die Sozialdemokratie zu den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Richtungen einzunehmen hat. Nachdem die Iskra mit Hilfe theoretischer Berechnungen ...“ (nicht aber durch das „Wachsen der Parteiaufgaben, die zusammen mit der Partei wachsen ...“) „die Aufgabe des sofortigen Übergangs zum Kampf gegen den Absolutismus gelöst hat, wobei sie wahrscheinlich die ganze Schwierigkeit dieser Aufgabe für die Arbeiter beim jetzigen Stand der Dinge empfindet ...“ (nicht nur empfindet, sondern auch sehr wohl weiß, daß den Arbeitern diese Aufgabe weniger schwierig erscheint als den „ökonomistischen“ Intellektuellen mit ihren Ammensorgen, denn die Arbeiter sind bereit, auch für Forderungen zu kämpfen, die, um mit den Worten des unvergeßlichen Martynow zu reden, keine „greifbaren Resultate“ verheißen) „... aber keine Geduld hat abzuwarten, bis die Arbeiter weitere Kräfte für diesen Kampf gesammelt haben, sucht nun die Iskra in den Reihen der Liberalen und Intellektuellen Verbündete ...“
Ja, ja, wir haben tatsächlich bereits jede „Geduld“ verloren, auf die selige, uns seit langem von allen möglichen „Versöhnern“ in Aussicht gestellte Zeit „zu warten“, in der unsere „Ökonomisten“ aufgehört haben werden, ihre eigene Rückständigkeit den Arbeitern in die Schuhe zu schieben, ihren eigenen Mangel an Tatkraft mit dem angeblichen Mangel an Kräften bei den Arbeitern zu rechtfertigen. Wir fragen unsere „Ökonomisten“: Worin soll „die Sammlung von Kräften für diesen Kampf durch die Arbeiter“ bestehen? Doch wohl in der politischen Erziehung der Arbeiter und darin, daß alle Seiten unserer niederträchtigen Selbstherrschaft vor ihnen entlarvt werden? Und ist es denn nicht klar, daß wir gerade für diese Arbeit „in den Reihen der Liberalen und Intellektuellen Verbündete“ brauchen, die bereit sind, uns Enthüllungen über den politischen Feldzug gegen die Semstwoleute, die Lehrer, die Statistiker, die Studenten usw. zu machen? Ist es denn wirklich so schwer, diese erstaunlich „verzwickte Mechanik“ zu begreifen? Wiederholt denn nicht P.B. Axelrod schon seit 1897 ständig: „Die Aufgabe der russischen Sozialdemokraten, Anhänger und direkte oder indirekte Verbündete in den nichtproletarischen Klassen zu gewinnen, wird vor allem und hauptsächlich durch den Charakter der propagandistischen Arbeit im Proletariat gelber gelöst“? Aber die Martynow und die übrigen „Ökonomisten“ stellen sich trotzdem die Sache weiterhin so vor, als müßten die Arbeiter zunächst „im ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ Kräfte (für eine trade-unionistische Politik) sammeln und erst dann – wohl von der trade-unionistischen „Erziehung zur Aktivität“ zur sozialdemokratischen Aktivität „übergehen“!
Die Iskra, so schreiben die „Ökonomisten“ weiter, „verläßt bei diesem Suchen oft den Klassenstandpunkt, vertuscht die Klassengegensätze und stellt die gemeinsame Unzufriedenheit mit der Regierung in den Vordergrund, obgleich Ursachen und Grad dieser Unzufriedenheit bei den ‚Verbündeten‘ sehr verschieden sind. So z.B. die Haltung der Iskra zum Semstwo ...“ Die Iskra verspricht angeblich „den Adligen, die durch die Almosen der Regierung nicht befriedigt sind, die Hilfe der Arbeiterklasse, ohne mit einem Wort auf die Klassenfeindschaft zwischen diesen Bevölkerungsschichten einzugehen“. Würde sich der Leser die Artikel Selbstherrschaft und Semstwo (Nr.2 und 4 der Iskra) [47] ansehen, von denen die Verfasser des Briefes wahrscheinlich reden, so würde er sich davon überzeugen, daß sich diese Artikel [O] mit dem Verhalten der Regierung zu der „sanften Agitation des ständisch-bürokratischen Semstwos“ und zur „Selbsttätigkeit sogar der besitzenden Klassen“ befassen. In dem Artikel wird gesagt, daß der Arbeiter dem Kampf der Regierung gegen das Semstwo nicht gleichgültig zusehen darf, und die Semstwoleute werden aufgefordert, mit ihren sanften Reden aufzuhören und ein resolutes und scharfes Wort zu sagen, sobald sich die revolutionäre Sozialdemokratie in ihrer ganzen Größe vor der Regierung aufrichten wird. Womit die Verfasser des Briefes hier nicht einverstanden sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Glauben sie, daß der Arbeiter die Worte „besitzende Klassen“ und „ständisch-bürokratisches Semstwo“ „nicht verstehen“ werde, daß die Aufmunterung der Semstwoleute, von sanften zu scharfen Worten überzugehen, eine „Überschätzung der Ideologie“ sei? Bilden sie sich denn ein, daß die Arbeiter zum Kampf gegen den Absolutismus „Kräfte sammeln“ können, wenn sie sich nicht auch über das Verhältnis des Absolutismus zum Semstwo klar sind? All das entzieht sich wiederum unserer Kenntnis. Klar ist nur das eine: daß die Verfasser von den politischen Aufgaben der Sozialdemokratie eine sehr verschwommene Vorstellung haben. Noch deutlicher geht das aus dem Satz hervor: „Genauso ist auch die Haltung der Iskra zur Studentenbewegung“ (d.h., auch hier werden „die Klassengegensätze verdunkelt“). Anstatt die Arbeiter aufzufordern, in öffentlicher Kundgebung zu erklären, daß nicht die Studentenschaft, sondern die russische Regierung die wirkliche Brutstätte der Gewalttätigkeit, der Ausschreitungen und der Zügellosigkeit ist (Nr.2 der Iskra [49]), hätten wir wohl lieber Betrachtungen im Geiste der Rabotschaja Mysl anstellen sollen! Und solche Gedanken verzapfen Sozialdemokraten im Herbst 1901, nach den Februar- und Märzereignissen, am Vorabend eines neuen Aufschwungs der Studentenbewegung, der Zutage bringt, daß auch auf diesem Gebiet die „Spontaneität“ des Protestes gegen die Selbstherrschaft der bewußten Leitung der Bewegung durch die Sozialdemokratie vorauseilt. Der elementare Drang der Arbeiter, für die von Polizei und Kosaken mißhandelten Studenten einzutreten, eilt der zielbewußten Tätigkeit der sozialdemokratischen Organisation voraus!
„Doch gleichzeitig verurteilt die Iskra in anderen Artikeln“, fahren die Verfasser des Briefes fort, „sehr scharf jegliche Kompromisse und verteidigt zum Beispiel das unduldsame Verhalten der Guesdisten.“ Wir raten den Leuten, die angesichts der Meinungsverschiedenheiten im Lager der heutigen Sozialdemokraten gewöhnlich so selbstsicher und so leichtfertig erklären, diese Meinungsverschiedenheiten seien unwesentlich und rechtfertigten keine Spaltung, über diese Worte einmal ordentlich nachzudenken. Ist es denn möglich, daß mit Erfolg in ein und derselben Organisation einerseits Leute arbeiten, die sagen; wir hätten außerordentlich wenig getan, um die Feindseligkeit der Selbstherrschaft gegen die verschiedensten Klassen aufzuzeigen und die Arbeiter über das oppositionelle verhalten der verschiedensten Schichten gegenüber der Selbstherrschaft aufzuklären, und anderseits Leute, die in dieser Aufklärung ein „Kompromiß“ erblicken, offenbar wohl ein Kompromiß mit der Theorie des „ökonomischen Kampfes gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“?
Wir haben aus Anlaß des vierzigsten Jahrestags der Bauernbefreiung (Nr.3 [50]) davon gesprochen, daß es notwendig ist, den Klassenkampf ins Dorf zu tragen, und anläßlich der geheimen Denkschrift Wittes (Nr.4) davon, daß Selbstverwaltung und Selbstherrschaft unvereinbar sind; wir haben anläßlich des neuen Gesetzes das Fronherrentum der Gutsbesitzer und der in ihrem Dienste stehenden Regierung angegriffen (Nr.8 [51]) und die illegale Semstwotagung begrüßt, wobei wir die Semstwoleute anspornten, von den knechtseligen Petitionen zum Kampf überzugehen (Nr.8 [52]); wir haben die Studenten ermuntert, die begonnen haben, sich über die Notwendigkeit des politischen Kampfes klarzuwerden, und die diesen Kampf aufgenommen haben (Nr.3), und haben gleichzeitig den „grenzenlosen Unverstand“ der Anhänger der „Nur-Studenten“bewegung gegeißelt, die die Studenten aufforderten, den Straßendemonstrationen fernzubleiben (Nr.3, anläßlich des Aufrufs des Exekutivkomitees der Moskauer Studentenschaft vom 25. Februar); wir haben die „sinnlosen Träumereien“ und die „verlogene Heuchelei“ der liberalen Schlaumeier aus der Zeitung Rossija entlarvt (Nr.5) und zugleich das Wüten des Regierungsterrors festgenagelt, der sich „an friedlichen Literaten, an alten Professoren und Gelehrten, an bekannten liberalen Semstwoleuten austobte“ (Nr.5: Die Polizeirazzia auf die Literatur); wir haben die wahre Bedeutung des Programms der „staatlichen Fürsorge für das Wohlergehen der Arbeiter“ enthüllt und das „wertvolle Geständnis“ begrüßt, daß es „besser ist, durch Reformen von oben der Forderung nach Reformen von unten zuvorzukommen, als abzuwarten, bis diese Forderung erhoben wird“ (Nr.6 [53]); wir haben die protestierenden Statistiker ermuntert (Nr.7) und die Streikbrecher unter den Statistikern angeprangert (Nr.9). Wer in dieser Taktik eine Verdunkelung des Klassenbewußtseins des Proletariats und ein Kompromiß mit dem Liberalismus erblickt, der beweist damit nur, daß er den wahren Sinn des Programms des Credo absolut nicht versteht und de facto gerade dieses Programm durchführt, wie sehr er sich von ihm auch lossagen mag! Denn er zerrt damit die Sozialdemokratie zum „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ und kapituliert vor dem Liberalismus, denn er verzichtet darauf, sich aktiv in jede „liberale“ Frage einzumischen und seine, die sozialdemokratische, Stellung zu dieser Frage zu bestimmen.
M. Zum Beispiel diktierte Liebknecht während des Deutsch-Französischen Krieges der gesamten Demokratie ein Aktionsprogramm – und noch mehr taten es Marx und Engels im Jahre 1848.
N. Raummangel erlaubte uns nicht, in der Iskra in aller Ausführlichkeit auf diesen für die „Ökonomisten“ äußerst charakteristischen Brief zu antworten. Wir waren über sein Erscheinen sehr froh, denn das Gerede, daß die Iskra nicht konsequent den Klassenstandpunkt vertrete, war uns schon längst, und zwar von den verschiedensten Seiten her zu Ohren gekommen, und wir warteten nur auf eine passende Gelegenheit oder auf einen formulierten Ausdruck dieser trivialen Anschuldigung, um auf sie zu antworten. Wir sind aber gewohnt, Angriffe nicht mit einer Verteidigung, sondern mit einem Gegenangriff zu beantworten.
O. Zwischen diesen beiden Artikeln wurde (in Nr.3 der Iskra) ein speziell dem Klassenantagonismus in unserem Dorf gewidmeter Artikel veröffentlicht. [48]
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008