Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Wieder und immer wieder über den Charakter der UdSSR


Veröffentlicht 1942 in der Sammlung In Defense of Marxism.
Transkription: Tim Vanhoof.
HTML-Markierung: Tim Vanhoof u. Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Psychoanalyse und Marxismus

Gewisse Genossen oder ehemalige Genossen, wie zum Beispiel Bruno R., die die vergangenen Diskussionen und Entscheidungen der Vierten Internationale vergessen haben, versuchen, meine persönliche Beurteilung des Sowjetstaates psychoanalytisch zu erklären. „Da Trotzki an der russischen Revolution teilgenommen hat, ist es für ihn schwierig, die Idee des Arbeiterstaates zu verwerfen, da er den Sinn seines ganzen Lebens aufgeben müßte“ usw. Ich glaube, der alte Freud, der recht scharfsinnig war, hätte Psychoanalytiker dieser Art kurzerhand geohrfeigt. Natürlich würde ich es niemals wagen, dies selbst zu tun; dennoch wage ich zu versichern, daß Subjektivität und Gefühlsduselei nicht bei mir, sondern bei ihnen liegen.

Moskaus Verhalten, das alle Grenzen der Niedertracht und des Zynismus überschritten hat, ruft einen leichten Widerwillen in jedem proletarischen Revolutionär hervor. Der Widerwille macht die Ablehnung notwendig. Wenn die Kräfte für eine sofortige Aktion fehlen, neigen ungeduldige Revolutionäre dazu, zu kunstreichen Methoden zu greifen. So entsteht beispielsweise die Taktik des individuellen Terrors. Häufiger wird Zuflucht zu groben Ausdrücken, zu Beschimpfungen und Verwünschungen genommen. In dem Fall, der uns betrifft, sind gewisse Genossen offensichtlich dazu geneigt, Ausgleich durch „terminologischen“ Terror zu suchen. Jedoch selbst von diesem Standpunkt ist es wertlos, die Bürokratie als Klasse zu bezeichnen. Wenn das bonapartistische Gesindel eine Klasse ist, bedeutet das, daß es keine Fehlgeburt, sondern ein lebendes Kind der Geschichte ist. Wenn sein plünderndes Parasitentum „Ausbeutung“ im wissenschaftlichen Sinne des Wortes ist, bedeutet dies, daß die Bürokratie eine historische Zukunft als herrschende Klasse besitzt, die für das gegebene Wirtschaftssystem unerläßlich ist. Dazu führt ungeduldige Empörung, wenn sie sich selbst von der marxistischen Disziplin befreit!

Wenn ein Mechaniker, der sich von Gefühlen leiten läßt, ein Auto betrachtet, mit dem, sagen wir, Gangster der Polizei nach einer Jagd über eine schlechte Straße entkommen sind, und den Rahmen verbogen findet, die Räder kaputt und den Motor teilweise beschädigt, kann er mit ziemlichem Recht sagen: „ Das ist kein Auto – sondern der Teufel weiß was!“ Eine solche Einschätzung würde jeden technischen und wissenschaftlichen Wertes entbehren, aber sie würde die berechtigte Reaktion des Mechanikers auf die Arbeit der Gangster ausdrücken. Nehmen wir jedoch an, daß derselbe Mechaniker das Ding instand setzen muß, das er „Der-Teufel-weiß-Was“ genannt hat. In diesem Fall wird er damit beginnen zu erkennen, daß er ein beschädigtes Auto vor sich hat. Er wird feststellen, welche Teile noch gut sind und welche schrottreif sind, um zu entscheiden, wie er die Arbeit beginnt. Der klassenbewußte Arbeiter wird eine ähnliche Haltung gegenüber der UdSSR einnehmen. Er hat volles Recht zu sagen, daß die Gangster der Bürokratie den Arbeiterstaat zu „Der-Teufel-weiß-Was“ gemacht haben. Aber wenn er von dieser explosiven Reaktion zur Lösung des politischen Problems übergeht, so muß er anerkennen, daß er einen beschädigten Arbeiterstaat vor sich hat, in dem der Motor der Wirtschaft beschädigt ist, der aber immer noch läuft und der durch die Ersetzung einiger Teile wieder gänzlich instand gesetzt werden kann. Selbstverständlich ist das nur eine Analogie. Trotzdem sollte man darüber nachdenken.

 

 

„Ein konterrevolutionärer Arbeiterstaat“

Es werden Stimmen laut, die sagen: „ Wenn wir die UdSSR weiterhin als Arbeiterstaat anerkennen, müssen wir eine neue Kategorie einrichten: den konterrevolutionären Arbeiterstaat.“ Dieses Argument versucht, unsere Vorstellungen zu erschüttern, indem es eine gute programmatische Richtschnur einer jämmerlichen, armseligen, sogar abstoßenden Wirklichkeit gegenüberstellt. Aber haben wir nicht Tag für Tag seit 1923 beobachtet, wie der Sowjetstaat eine immer stärker konterrevolutionäre Rolle auf internationalem Schauplatz spielte? Haben wir die Erfahrungen der chinesischen Revolution vergessen? Es gibt zwei gänzlich konterrevolutionäre Arbeiterinternationalen. Diese Kritiker haben offensichtlich diese „Kategorie“ vergessen. Die Gewerkschaften Frankreichs, Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und anderer Länder unterstützen voll und ganz die konterrevolutionäre Politik ihrer Bourgeoisien. Das hindert uns nicht daran, sie als Gewerkschaften zu bezeichnen, ihre fortschrittlichen Schritte zu unterstützen und sie gegen die Bourgeoisie zu verteidigen. Warum kann man nicht die gleiche Methode auf den konterrevolutionären Arbeiterstaat anwenden? Letzten Endes ist ein Arbeiterstaat eine Gewerkschaft, die die Macht erobert hat. Die unterschiedliche Haltung in diesen beiden Fällen erklärt sich durch die einfache Tatsache, daß die Gewerkschaften eine lange Geschichte haben und daß wir uns daran gewöhnt haben, sie als Realitäten zu betrachten und nicht einfach als „Kategorien“ in unserem Programm. Aber wir können uns absolut nicht dazu entschließen, den ersten Arbeiterstaat als eine wirkliche historische Tatsache anzusehen, die sich nicht unserem Programm unterordnet.

 

 

„Imperialismus“?

Kann man die gegenwärtige Expansion des Kremls Imperialismus nennen? Zuerst müssen wir feststellen, welchen sozialen Inhalt dieser Ausdruck enthält. Die Geschichte kennt den „Imperialismus“ des römischen Staates, der auf Sklavenarbeit gegründet war, den Imperialismus des feudalen Grundbesitzes, den Imperialismus des Handels- und Industriekapitals, den Imperialismus der zaristischen Monarchie usw. Die treibende Kraft hinter der Moskauer Bürokratie ist zweifellos die Neigung, ihre Macht, ihr Ansehen und ihre Einkünfte auszudehnen. Das ist der Bestandteil des „Imperialismus“ im weitesten Sinne des Wortes, den in der Vergangenheit alle Monarchien Oligarchien, herrschenden Kasten, mittelalterlichen Stände und Klassen besaßen. Jedoch versteht man in der zeitgenössischen Literatur, zumindest in der marxistischen Literatur, unter Imperialismus die expansionistische Politik des Finanzkapitals, die einen sehr scharf abgegrenzten wirtschaftlichen Inhalt hat. Den Begriff „Imperialismus“ auf die Außenpolitik des Kremls anzuwenden – ohne zu erklären, was er genau bedeutet –, heißt einfach, die Politik der bonapartistischen Bürokratie mit der Politik des Monopolkapitalismus auf der Grundlage gleichzusetzen, daß beide ohne Unterschied militärische Gewalt zur Expansion benutzen. Solch eine Gleichsetzung, die nur Verwirrung wecken kann, schickt sich eher für kleinbürgerliche Demokraten als für Marxisten.

 

 

Fortsetzung der Politik des zaristischen Imperialismus

Der Kreml nimmt an einer neuen Spaltung Polens teil, der Kreml legt Hand an die baltischen Staaten, der Kreml orientiert sich zum Balkan, nach Persien und Afghanistan hin. Mit anderen Worten, der Kreml setzt die Politik des zaristischen Imperialismus fort. Haben wir in diesem Fall nicht das Recht, die Politik des Kremls selbst imperialistisch zu nennen? Dieses historisch-geographische Argument ist nicht überzeugender als irgendein anderes. Die proletarische Revolution, die sich auf dem Gebiet des Zarenreiches ereignete, versuchte gleich von Anfang an die baltischen Staaten zu erobern und eroberte sie auch für eine gewisse Zeit, sie versuchte nach Rumänien und Persien vorzudringen und führte einmal ihre Armeen nach Warschau (1920). Die Richtungen der revolutionären Expansion waren die gleichen wie die des Zarismus, da die Revolution keine geographischen Bedingungen verändert. Gerade deswegen sprachen bereits damals die Menschewiki vom bolschewistischen Imperialismus, der aus den Traditionen der zaristischen Diplomatie entlehnt worden sei. Die kleinbürgerliche Demokratie greift gerade jetzt mit Vergnügen zu diesem Argument. Ich wiederhole, wir haben keinen Grund, sie hierin nachzuahmen.

 

 

Agentur des Imperialismus

Jedoch abgesehen von der Weise, in der man die expansionistische Politik der UdSSR selbst einschätzt, bleibt die Frage der Hilfe, die Moskau der imperialistischen Politik Berlins gewährte. Hier muß man zuallererst feststellen, daß unter gewissen Bedingungen – bis zu einem gewissen Grad und in gewisser Form – die Unterstützung dieses oder jenes Imperialismus unvermeidlich wäre, selbst für einen völlig gesunden Arbeiterstaat, dem es unmöglich ist, aus der Kette der weltimperialistischen Beziehungen auszubrechen. Der Friede von Brest-Litowsk stärkte zweifellos zeitweilig den deutschen Imperialismus gegen Frankreich und England. Ein isolierter Arbeiterstaat muß unbedingt zwischen den feindlichen imperialistischen Lagern manövrieren. Manövrieren bedeutet einstweilige Unterstützung des einen Lagers gegen das andere. Genau zu wissen, welches oder welche zwei Lager in einem bestimmten Augenblick zu unterstützen vorteilhafter oder ungefährlicher ist, ist keine grundsätzliche Frage, sondern eine Frage der praktischen Berechnung und Voraussicht. Der unvermeidliche Nachteil, der als Folge dieser erzwungenen Unterstützung eines bürgerlichen Staates gegen einen anderen hervorgebracht wird, ist dadurch mehr als ausgeglichen, daß der isolierte Arbeiterstaat weiter existieren kann.

Aber es gibt Manövrieren und Manövrieren. In Brest-Litowsk opferte die Sowjetregierung die nationale Unabhängigkeit der Ukraine, um den Arbeiterstaat zu retten. Niemand konnte von Verrat an der Ukraine sprechen, da alle klassenbewußten Arbeiter den erzwungenen Charakter dieses Opfers verstanden. Es ist gänzlich anders mit Polen. Der Kreml hat niemals und nirgends die Frage so dargestellt, als sei er gezwungen gewesen, Polen zu opfern. Im Gegenteil, er prahlt zynisch mit seinem Bündnis, das die elementarsten demokratischen Gefühle der unterdrückten Klassen und Völker überall auf der Welt regelrecht beleidigt und auf diese Weise die internationale Lage der Sowjetunion sehr schwächt. Die wirtschaftlichen Veränderungen in den besetzten Gebieten gleichen dies nicht einmal zu einem Zehntel aus!

Die ganze Außenpolitik des Kremls beruht auf der schurkischen Verschönerung des „freundlichen“ Imperialismus, und sie führt so zur Aufgabe der wesentlichen Interessen der Weltarbeiterbewegung für zweitrangige und unsichere Vorteile. Nachdem die Arbeiter fünf Jahre lang mit Losungen für die „Verteidigung der Demokratien“ betrogen wurden, beschäftigt sich jetzt Moskau damit, Hitlers Raubpolitik zu decken. Dies allein verwandelt die UdSSR noch nicht in einen imperialistischen Staat. Aber Stalin und die Komintern sind jetzt zweifellos die wertvollste Agentur des Imperialismus.

Wenn wir die Außenpolitik des Kremls genau abgrenzen wollen, müssen wir sagen, daß sie die Politik der bonapartistischen Bürokratie eines degenerierten Arbeiterstaates in imperialistischer Umzingelung ist. Diese Definition ist nicht so kurz oder wohlklingend wie „imperialistische Politik“, dafür aber genauer.

 

 

„Das kleinere Übel“

Die Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee ist sicherlich das „kleinere Übel“ im Vergleich mit der Besetzung des gleichen Gebietes durch die Nazitruppen. Aber dieses kleinere Übel wurde erzielt, indem man Hitler die Durchführung eines größeren Übels sicherte. Wenn jemand ein Haus in Brand setzt oder dabei mithilft und danach fünf von zehn Hausbewohnern rettet, um sie in seine Halbsklaven zu verwandeln, so ist das sicherlich ein kleineres Übel als alle zehn verbrennen zu lassen. Aber es ist zweifelhaft, ob diese Brandstiftung eine Rettungsmedaille verdient. Wenn er trotzdem eine Medaille erhält, sollte er sofort danach erschossen werden wie der Held in einer von Viktor Hugos Novellen.

 

 

„Bewaffnete Missionare“

Robespierre sagte einmal, daß die Leute keinen Missionar mit Bajonetten lieben. Damit wollte er sagen, daß es unmöglich ist, revolutionäre Ideen und Einrichtungen anderen Völkern mit militärischer Gewalt aufzudrängen. Dieser richtige Gedanke bedeutet selbstverständlich nicht die Unzulässigkeit militärischer Intervention in anderen Ländern, um in einer Revolution zusammenzuarbeiten. Aber solch eine Intervention als Teil einer internationalen revolutionären Politik muß vom internationalen Proletariat verstanden werden, muß den Bedürfnissen der Arbeitermassen des Landes entsprechen, dessen Gebiet die revolutionären Truppen betreten. Die Theorie vom Sozialismus in einem Lande kann diese aktive internationale Solidarität selbstverständlich nicht schaffen, die allein eine bewaffnete Intervention vorbereiten und rechtfertigen kann. Der Kreml stellt und löst die Frage der militärischen Intervention, wie alle anderen Fragen seiner Politik, völlig unabhängig von den Gedanken und Gefühlen der internationalen Arbeiterklasse. Deswegen stellen die letzten diplomatischen „Erfolge“ des Kremls die UdSSR ungeheuerlich bloß und bringen äußerste Verwirrung in die Reihen des Weltproletariats.

 

 

Aufstand an zwei Fronten

Aber wenn die Frage sich so stellt – sagen einige Genossen –, ist es nicht richtiger von der Verteidigung der UdSSR und der besetzten Gebiete zu sprechen? Ist es nicht richtiger, die Arbeiter und Bauern in beiden Teilen des früheren Polens aufzurufen, sich gegen Hitler genauso wie gegen Stalin zu erheben? Natürlich, das ist sehr verführerisch. Wenn die Revolution in Deutschland und der UdSSR gleichzeitig ausbricht, die kürzlich besetzten Gebiete eingeschlossen, würde dies auf einen Schlag viele Fragen lösen. Aber unsere Politik kann sich nicht nur auf das günstigste, das glücklichste Zusammentreffen von Umständen stützen. Die Frage stellt sich folgendermaßen: Was tun, wenn Hitler die Ukraine angreift, bevor er durch die Revolution niedergeworfen wird, bevor die Revolution Stalin zerschmettert hat? Werden die Anhänger der Vierten Internationale in diesem Fall gegen die Truppen Hitlers kämpfen, wie sie in Spanien in den Reihen der republikanischen Truppen gegen Franco gekämpft haben? Wir sind vollkommen und aus ganzem Herzen für eine unabhängige Sowjet-Ukraine (unabhängig von Hitler genauso wie von Stalin). Aber was tun, wenn Hitler versucht, die Ukraine zu besetzen, die unter der Herrschaft der stalinistischen Bürokratie steht, bevor sie ihre Unabhängigkeit erlangt hat? Die Vierte Internationale antwortet: Gegen Hitler werden wir diese Ukraine verteidigen, die von Stalin unterjocht ist.

 

 

„Bedingungslose Verteidigung der UdSSR“

Was bedeutet „bedingungslose“ Verteidigung der UdSSR? Es bedeutet, daß wir der Bürokratie keinerlei Bedingungen auferlegen. Es bedeutet, daß wir unabhängig von den Kriegsgründen und -motiven die soziale Grundlage der UdSSR verteidigen, wenn sie von Gefahr seitens des Imperialismus bedroht wird.

Einige Genossen sagen: Und wenn die Rote Armee morgen nach Indien einmarschiert und anfängt, dort eine revolutionäre Bewegung niederzuschlagen, sollen wir sie in diesem Fall unterstützen? So eine Frage zu stellen, ist durchaus nicht folgerichtig. Es ist vor allem nicht klar, warum Indien hineingezogen wird. Ist es nicht einfacher zu fragen: Wenn die Rote Armee Arbeiterstreiks oder Proteste von Bauern gegen die Bürokratie bedroht, werden wir sie unterstützen oder nicht? Die Außenpolitik ist die Fortsetzung der Innenpolitik. Wir haben niemals versprochen, alle Handlungen der Roten Armee zu unterstützen, die ein Werkzeug in den Händen der bonapartistischen Bürokratie ist. Wir haben versprochen, die UdSSR nur als Arbeiterstaat und ausschließlich jene Dinge darin zu verteidigen, die zu einem Arbeiterstaat gehören.

Ein geschickter Haarspalter kann sagen: Wenn die Rote Armee, unabhängig vom Charakter der „Arbeit“, die sie erfüllt, von den aufständischen Massen in Indien geschlagen wird, so wird dies die UdSSR schwächen. Darauf werden wir antworten: Die Niederwerfung einer revolutionären Bewegung in Indien unter Mithilfe der Roten Armee würde eine unvergleichlich größere Gefahr für die soziale Basis der UdSSR bedeuten als ein vorübergehende Niederlage konterrevolutionärer Abteilungen der Roten Armee in Indien. Jedenfalls wird die Vierte Internationale zu unterscheiden wissen, wo und wann die Rote Armee ausschließlich als ein Werkzeug der bonapartistischen Reaktion handelt und wo sie die soziale Grundlage der UdSSR verteidigt.

Eine Gewerkschaft, die von reaktionären Schwindlern geführt wird, organisiert einen Streik gegen die Zulassung von schwarzen Arbeitern in einem bestimmten Industriezweig. Sollen wir so einen schmachvollen Streik unterstützen? Selbstverständlich nicht. Aber stellen wir uns vor, daß die Gewerkschaftsführer diesen Streik ausnutzen wollen, um die Gewerkschaft niederzuschmettern und überhaupt die organisierte Selbstverteidigung der Arbeiter unmöglich zu machen. In diesem Fall werden wir die Gewerkschaft selbstverständlich trotz der reaktionären Führung verteidigen. Warum die gleiche Politik nicht auf die UdSSR anwenden?

 

 

Die Grundregel

Die Vierte Internationale hat unabänderlich festgelegt, daß die proletarischen Parteien in allen imperialistischen Ländern, unabhängig davon, ob sie mit der UdSSR verbündet sind oder sich in einem ihr feindlichen Lager befinden, während des Krieges den Klassenkampf mit dem Ziel entwickeln müssen, die Macht an sich zu reißen. Gleichzeitig darf das Proletariat der imperialistischen Länder die Interessen der Verteidigung der UdSSR (oder die der kolonialen Revolution) nicht aus den Augen verlieren und muß, wenn es wirklich notwendig ist, zu den entschlossensten Aktionen greifen, beispielsweise zu Streiks, zu Sabotageakten usw. Die Mächtekonstellation hat sich seit der Zeit, als die Vierte Internationale diese Regel aufgestellt hat, radikal verändert. Aber die Regel selbst behält all ihre Gültigkeit. Wenn England und Frankreich morgen Leningrad oder Moskau bedrohen, sollten die britischen und französischen Arbeiter die entschlossensten Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, daß Soldaten und militärische Ausrüstung dorthin geschickt werden. Wenn Hitler sich durch die Logik der Situation gezwungen sieht, Stalin militärische Ausrüstung zu schicken, hätten die deutschen Arbeiter dagegen keinen Grund, in diesem konkreten Fall zu Streiks oder Sabotage zu greifen. Niemand wird hoffentlich eine andere Lösung vorschlagen.

 

 

„Revision des Marxismus“?

Einige Genossen waren offensichtlich überrascht, daß ich in meinem Artikel (Die UdSSR im Krieg) vom System des „bürokratischen Kollektivismus“ als einer theoretischen Möglichkeit gesprochen habe. Sie entdeckten darin sogar eine völlige Revision des Marxismus. Dies ist ein augenscheinliches Mißverständnis. Das marxistische Verständnis der historischen Notwendigkeit hat nichts mit Fatalismus zu tun. Sozialismus ist nicht „durch sich selbst“ zu verwirklichen, sondern als Ergebnis des Kampfes der lebendigen Kräfte, Klassen und ihrer Parteien. Der entscheidende Vorteil des Proletariats in diesem Kampf beruht darauf, daß es den historischen Fortschritt darstellt, während die Bourgeoisie die Reaktion und den Niedergang verkörpert. Genau darin liegt die Quelle unserer Überzeugung vom Sieg. Aber wir fragen uns völlig zu Recht: Welchen Charakter wird die Gesellschaft annehmen, wenn die Kräfte der Reaktion siegen?

Marxisten haben unglaublich oft formuliert: entweder Sozialismus oder Rückkehr in die Barbarei. Nach der italienischen „Erfahrung“ wiederholten wir Tausende von Malen: entweder Kommunismus oder Faschismus. Der wirkliche Übergang zum Sozialismus muß unbedingt unvergleichlich verwickelter, heterogener, widersprüchlicher erscheinen, als er im allgemeinen historischen Schema vorhergesehen wurde. Marx sprach über die Diktatur des Proletariats und ihr zukünftiges Absterben, sagte aber nichts über bürokratische Degenerierung der Diktatur. Wir haben zum ersten Male so eine Degenerierung in der Praxis beobachtet und untersucht. Ist dies eine Revision des Marxismus?

Der Gang der Ereignisse hat gezeigt, daß die Verzögerung der sozialistischen Revolution die eindeutigen Erscheinungsmerkmale der Barbarei erzeugt – chronische Arbeitslosigkeit, Verarmung der Kleinbourgeoisie, Faschismus und schließlich Ausrottungskriege, die keinen neuen Weg eröffnen. Welche sozialen und politischen Formen kann die neue „Barbarei“ annehmen, wenn wir theoretisch zugestehen, daß die Menschheit sich nicht zum Sozialismus erheben kann? Wir haben die Möglichkeit, uns zu diesem Thema konkreter als Marx zu äußern: Faschismus auf der einen, Degenerierung des Sowjetstaates auf der anderen Seite unterstreichen die sozialen und politischen Formen einer Neobarbarei. Eine Alternative dieser Art – Sozialismus oder totalitäre Knechtschaft ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern auch von ungeheurer Bedeutung bei der Agitation, weil in ihrem Licht die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution äußerst anschaulich erscheint.

Wenn wir über eine Revision von Marx sprechen sollen, ist es in Wirklichkeit die Revision solcher Genossen, die einen neuen Staatstyp entwerfen, „kein bürgerlicher“ und „kein Arbeiterstaat“. Weil die von mir entwickelte Alternative sie dazu bringt, ihre eigenen Gedanken bis zu ihren logischen Schlußfolgerungen weiterzuführen, beschuldigen mich einige dieser Kritiker, durch die Schlußfolgerungen ihrer eigenen Theorie erschreckt,... der Revision des Marxismus. Ich halte das lieber einfach für einen freundschaftlichen Scherz.

 

 

Das Recht auf revolutionären Optimismus

Ich versuchte in meinem Artikel „Die UdSSR im Krieg“ zu zeigen, daß die Perspektive einer Nicht-Arbeiter- und nichtbürgerlichen Ausbeutungsgesellschaft oder des „bürokratischen Kollektivismus“ die Perspektive der völligen Niederlage und des Verfalls des internationalen Proletariats ist, die Perspektive des tiefreichendsten historischen Pessimismus. Gibt es irgendwelche treffenden Gründe für eine derartige Perspektive? Es ist nicht überflüssig, sich bei unseren Klassenfeinden hierüber zu erkundigen.

In der Wochenausgabe der sehr bekannten Zeitung Paris Soir vom 31. August 1939 wird eine äußerst lehrreiche Unterhaltung zwischen dem französischen Botschafter Coulondre und Hitler am 25. August, zur Zeit ihrer letzten Zusammenkunft, berichtet. (Die Quelle dieser Information ist zweifellos Coulondre selbst.) Hitler erzählt, prahlt mit dem Pakt, den er mit Stalin geschlossen hat („ein realistischer Pakt!“) und „bedauert“, daß deutsches und französisches Blut vergossen werden wird.

„Aber“, wirft Coulondre ein, „Stalin spielte falsch. Der wirkliche Sieger [im Kriegsfall] wird Trotzki sein. Haben Sie darüber nachgedacht? „

„Ich weiß“, antwortet der Führer, „aber warum gaben Frankreich und England Polen völlige Handlungsfreiheit? usw.“

Diese Herren geben dem Gespenst der Revolution gern einen persönlichen Namen. Aber dies ist selbstverständlich nicht das Wesentliche an dieser spannenden Unterhaltung, die gerade stattfand, als die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden. „Krieg wird unausweichlich Revolution hervor rufen,“ erschreckt der Vertreter der imperialistischen Demokratie, selbst bis ins Innerste entmutigt, seinen Gegner.

„Ich weiß“, antwortet Hitler, als ob diese Frage schon lange entschieden wäre. „Ich weiß. „ Verblüffender Dialog!

Beide, Coulondre und Hitler, vertreten die Barbarei, die über Europa fortschreitet. Gleichzeitig zweifelt keiner von ihnen, daß diese Barbarei von der sozialistischen Revolution bezwungen wird. So ist jetzt das Bewußtsein der herrschenden Klassen aller kapitalistischen Länder auf der Erde. Ihre völlige Demoralisierung ist eines der wichtigsten Elemente im Verhältnis der Klassenkräfte. Das Proletariat hat eine junge und noch schwache revolutionäre Führung. Aber die Führung der Bourgeoisie verfault an ihren Wurzeln. Gleich zu Beginn des Krieges, den sie nicht abwenden konnten, sind diese Herren im voraus vom Zusammenbruch ihres Regimes überzeugt. Diese Tatsache allein muß für uns die Quelle für unbesiegbaren revolutionären Optimismus sein!

Oktober 1939

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008