Leo Trotzki

 

Stalins Verbrechen


Vor dem neuen Prozess


21. Januar, Coyoacan. Am 19. Januar berichtete die TASS, in vier Tagen, am 23., beginne ein neuer „Trotzkisten“-Prozess (Radek, Pjatakow u. a.). Von der Vorbereitung dieses Prozesses wusste man schon lange, doch zweifelte man, ob sich Moskau nach dem äußerst ungünstigen Eindruck, den der Sinowjew-Kamenew-Prozess hinterlassen hatte, noch tatsächlich entschließen würde, einen neuen Prozess zu inszenieren. Die Moskauer Regierung wiederholt jetzt das gleiche Manöver wie bei dem Prozess der 16: in vier Tagen können sich die internationalen Arbeiterorganisationen nicht einmischen, gefährliche Zeugen aus dem Auslande sich nicht melden, unerwünschte Ausländer nicht einmal einen Versuch machen, nach Moskau zu gelangen. Was die erprobten und bezahlten „Freunde“ betrifft, so wurden sie selbstverständlich auch diesmal rechtzeitig nach der Sowjethauptstadt eingeladen, um dann der Stalin-Wyschinski-Justiz das gebührende Lob zu singen. Wenn diese Zeilen gedruckt sein werden, wird der neue Prozess Vergangenheit sein, die Urteile gesprochen und vielleicht auch vollstreckt. Die Absicht der Regisseure ist, was diese Seite der Sache betrifft, klar: die öffentliche Meinung zu überraschen und zu vergewaltigen. Um so wichtiger ist es, noch vor der unheilvollen Inszenierung ihren Sinn, ihre Methoden und ihre Zwecke aufzudecken. Man darf nur nicht vergessen, dass in dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden, die Anklageschrift und sogar die volle Liste der Angeklagten noch unbekannt sind. Der Prozess der 16 hat in der zweiten Augusthälfte stattgefunden. Ende November fand ganz unerwartet im fernen Sibirien ein zweiter „Trotzkisten“-Prozess statt, der eine Ergänzung des Prozesses Sinowjew-Kamenew und die Vorbereitung des Prozesses Radek-Pjatakow war. Der schwächste Punkt des Prozesses der 16 (starke Punkte hat es darin überhaupt nicht gegeben, wenn man den Mauser des Henkers nicht mitzählt) war die ungeheuerliche Beschuldigung der Verbindung mit der Gestapo. Diese Beschuldigung stützte sich ausschließlich auf so problematische Unbekannte, wie Olberg, David usw., die sich selbst auf nichts stützten. Zur Befestigung des ersten Prozesses war ein zweiter Prozess vonnöten. Bevor man jedoch eine zweite große Schau in Moskau riskieren konnte, wurde beschlossen, eine Generalprobe in der Provinz zu veranstalten. Man versetzte diesmal das Tribunal nach Nowosibirsk, weiter von Europa, von Korrespondenten, von unerwünschten Augen überhaupt. Der Nowosibirsker Prozess erwies sich dadurch als bedeutungsvoll, dass er auf die Bühne einen deutschen Ingenieur brachte, einen wirklichen oder angeblichen Gestapo-Agenten, und vermittels der rituellen „Reuebekenntnisse“ dessen Verbindung mit sibirischen, wirklichen oder angeblichen, mir persönlich jedenfalls unbekannten „Trotzkisten“ feststellte. Hauptpunkt der Anklage war diesmal nicht Terror, sondern „Industriesabotage“.

Wer aber sind diese deutschen Ingenieure und Techniker, die in verschiedenen Landesteilen verhaftet wurden und offenbar die Bestimmung hatten, die Verbindung der Trotzkisten mit der Gestapo zu personifizieren? Ich kann mich darüber nur hypothetisch äußern. Deutsche, die unter den heutigen Beziehungen der UdSSR mit Deutschland sich entschließen, im Dienste der Sowjetregierung zu bleiben, muss man a priori in zwei Gruppen teilen: Agenten der Gestapo und Agenten der GPU. Ein gewisser Prozentsatz der Verhafteten wird, wie anzunehmen ist, zu beiden Apparaten gehören: die Agenten der Gestapo maskieren sich als Kommunisten und dringen in die GPU ein; Kommunisten maskieren sich, auf Anweisung der GPU, als Faschisten, um in die Geheimnisse der Gestapo einzudringen. Jeder dieser Agenten bewegt sich auf einem schmalen Pfad zwischen zwei Abgründen. Kann man sich ein dankbareres Material für allerhand Fälschungen und Amalgame ausdenken?

Viel schwieriger ist, auf den ersten Blick, die Sache Pjatakow, Radek, Sokolnikow und Serebrjakow zu begreifen. Während der letzten 8–9 Jahre haben diese Menschen, besonders die zwei ersteren, auf Ehr und Gewissen der Bürokratie gedient, gegen die Opposition gehetzt, den Führern Lob gesungen, kurz, sie waren nicht nur Diener, sondern auch Zierden des Regimes gewesen. „Wozu hatte Stalin dann ihre Köpfe nötig? Sohn eines bedeutenden ukrainischen Zuckerfabrikanten, hatte Pjatakow eine solide Bildung erhalten, auch eine musikalische Ausbildung, beherrscht mehrere Sprachen, studierte fleißig Nationalökonomie und erwarb sich ernste Kenntnisse im Bankwesen. Im Vergleich zu Sinowjew und Kamenew gehört Pjatakow zur jüngeren Generation: er ist jetzt etwa 46 Jahre alt. Innerhalb der Opposition, richtiger der Oppositionen, nahm Pjatakow einen sichtbaren Platz ein. Während des Weltkrieges kämpfte er gemeinsam mit Bucharin, damals einem äußersten Linken, gegen Lenin, besonders in der Frage des „nationalen Selbstbestimmungsrechts“. In der Epoche des Brest-Litowsker Friedens gehörte Pjatakow, zusammen mit dem gleichen Bucharin, Radek, Jaroslawski, dem verstorbenen Kuibyschew und anderen zur oppositionellen Fraktion der „linken Kommunisten“. In der ersten Periode des Bürgerkrieges trat er in der Ukraine als leidenschaftlicher Gegner der von mir verfolgten Kriegspolitik auf. 1923 schloss er sich den „Trotzkisten“ an und gehörte zu unserem leitenden Kern. Pjatakow zählt zu jenen sechs Personen, die Lenin in seinem Testament nennt (Trotzki, Stalin, Sinowjew, Kamenews Bucharin, Pjatakow). Jedoch seine hervorragenden Fähigkeiten betonend, erwähnte Lenin gleich, dass man sich in politischer Hinsicht auf Pjatakow nicht verlassen könne, da er, wie Bucharin, von formalistischem Verstand sei, ohne dialektische Elastizität. Zum Unterschiede jedoch von Bucharin hat Pjatakow außerordentliche Eigenschaften als Administrator, die er in den Jahren des Sowjetregimes ausreichend gezeigt hat. Im Jahre 1925 wurde. Pjatakow der Opposition und der Politik überhaupt müde. Die wirtschaftliche Arbeit befriedigte ihn vollständig. Aus Trägheit und auf Grund persönlicher Beziehungen blieb er noch bis Ende 1927 „Trotzkist“, brach jedoch bei der ersten Verfolgungswelle entschieden mit der Vergangenheit, legte das Oppositionsrüstzeug ab und wurde häuslich bei der Bürokratie. Während Sinowjew und Kamenew, trotz all ihren Reuebekenntnissen im Hinterhof bleiben mussten, wurde Pjatakow sofort in das Zentralkomitee aufgenommen und bekleidete dauernd den verantwortlichen Posten des stellvertretenden Volkskommissars für die Schwerindustrie. Nach Bildung, Fähigkeit zu systematischem Denken und administrativem Horizont überragte Pjatakow weit den offiziellen Chef der Schwerindustrie, Ordschonikidse, der hauptsächlich durch seine Autorität als Mitglied des Politbüro, durch Druckausübung und Geschrei wirkte ... Und nun stellt sich im Jahre 1936 plötzlich heraus, dass der Mensch, der vor den Augen der Regierung etwa zwölf Jahre die Industrie leitete, in Wirklichkeit nicht nur „Terrorist“, sondern auch Saboteur und Gestapo-Agent war. Was bedeutet das?

Radek – er ist jetzt an die 54 – ist nur Journalist. Er hat die glänzenden Eigenschaften dieser Kategorie, aber auch alle ihre Fehler. Radeks Bildung lässt sich eher als große Belesenheit bezeichnen. Seine nahe Kenntnis der polnischen Bewegung, seine lange Zugehörigkeit zur deutschen Sozialdemokratie, sein aufmerksames Verfolgen der Weltpresse, besonders der englischen und amerikanischen, haben seinen-Horizont erweitert, seinen Gedanken große Beweglichkeit verliehen und ihn mit zahllosen Beispielen, Gegenüberstellungen und nicht zuletzt mit Anekdoten ausgerüstet. Radek fehlt aber jene Eigenschaft, die Ferdinand Lassalle „physische Kraft des Denkens“ genannt hat. In allerhand politischen Gruppierungen war Radek eher Gast als verwurzelter Teilnehmer. Sein Denken ist zu impulsiv und beweglich für systematische Arbeit. Aus seinen Artikeln kann man vieles erfahren, seine Paradoxe beleuchten mitunter eine Frage von einer neuen Seite, aber selbständiger Politiker war Radek nie. Legenden, Radek sei zu gewissen Perioden Herr im Kommissariat des Auswärtigen gewesen und habe gar die Außenpolitik der Sowjetregierung bestimmt, sind völlig unbegründet. Das Politbüro schätzte Radeks Talente, nahm ihn aber niemals sehr ernst. Im Jahre 1929 kapitulierte er, nicht mit irgendwelchen geheimen Absichten, o nein! – schrankenlos, endgültig, alle Brücken hinter sich verbrennend, um ein hervorragender publizistischer Lautsprecher der Bürokratie zu werden. Seitdem hat es keine Beschuldigung gegeben, die Radek der Opposition nicht entgegen geschleudert, und es hat kein Lob gegeben, das Radek Stalin nicht gespendet hätte. Warum ist dann aber Radek auf die Angeklagtenbank geraten?

Zwei andere, nicht weniger bedeutende Angeklagte, Serebrjakow und Sokolnikow, gehören zur selben Generation wie Pjatakow. Serebrjakow ist einer der hervorragendsten Bolschewiken, die dem Arbeitermilieu entstammen. Er gehört zu dem verhältnismäßig engen Kreise derer, die die bolschewistische Partei in den schweren Jahren zwischen den zwei Revolutionen (1905–1917) aufgebaut haben. Zu Lenins Zeiten war er Mitglied des Zentralkomitees, bekleidete sogar einige Zeit den Posten des Sekretärs und spielte, dank seinem psychologischen Scharfsinn und Takt, eine merkliche Rolle bei der Schlichtung jeglicher Art von innerparteilichen Konflikten. Ausgeglichen, ruhig, bar jeder Eitelkeit, genoss Serebrjakow in der Partei die größten Sympathien. Bis Ende 1927 leitete er, neben dem im Prozess der 16 erschossenen J. N. Smirnow, an hervorragender Stelle die linke Opposition. Serebrjakow spielte zweifellos die erste Rolle bei der Annäherung der beiden Gruppen, der linken Opposition und der Gruppe Sinowjews („Opposition 1926“) wie auch bei der Milderung der inneren Reibungen im oppositionellen Block. Der Druck der thermidorianischen Stimmungen hat jedoch auch diesen Menschen, wie viele andere, gebrochen. Er machte ein für allemal Schluss mit den politischen Prätentionen, kapitulierte vor der regierenden Spitze, zwar in würdigerer Form als die anderen, aber nicht weniger entschieden, kehrte aus der Verbannung nach Moskau zurück, reiste mit wichtigen wirtschaftlichen Aufträgen in die Vereinigten Staaten und leistete friedlich seine Arbeit im Kommissariat für Eisenbahnwesen. Wie viele andere Kapitulanten hatte er seine oppositionelle Vergangenheit bereits halb vergessen. Auf Bestellung der GPU haben jedoch die Angeklagten im Prozess der 16 Serebrjakows Namen im Zusammenhang mit dem „Terror“ genannt, zu dem sie selbst auch keine Beziehung hatten.

Im Jahre 1917 kommt Sokolnikow, der vierte Angeklagte, zusammen mit Lenin aus der Schweiz nach Russland, in dem sogenannten „plombierten Wagen“ und nimmt sofort eine hervorragende Stelle in der bolschewistischen Partei ein. In den verantwortlichen Monaten des Revolutionsjahres bildet Sokolnikow zusammen mit Stalin die Redaktion des Zentralorgans der Partei. Aber während Stalin, entgegen der später fabrizierten Legende, in allen kritischen Momenten eine abwartende oder schwankende Position einnahm, was in den später veröffentlichten Protokollen des Zentralkomitees festgelegt ist, führte Sokolnikow im Gegensatz dazu energisch jene Linie durch, die in den Parteidiskussionen jener Zeit „die Linie Lenin-Trotzki“ genannt wurde. In den Bürgerkriegsjahren stand Sokolnikow auf sehr verantwortlichen Posten und führte eine Zeitlang an der Südfront das Kommando der 8. Armee. In der Periode der NEP hatte er als Volkskommissar für Finanzwesen den Tscherwonez mehr oder weniger stabilisiert, und war später Sowjetgesandter in London. Ein Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten, umfassender Bildung und internationalem Horizont, neigt jedoch Sokolnikow, wie Radek, stark zu politischen Schwankungen. In den wichtigsten ökonomischen Fragen sympathisierte er mehr mit dem rechten als mit dem linken Flügel der Partei. Er hat dem Vereinigten Oppositionszentrum, das in den Jahren 1926 bis 1927 existierte, nie angehört. Sein Bekenntnis zur offiziellen Politik hat er unter allgemeinem Beifall der Delegierten auf dem gleichen XV. Kongress (Ende 1927) abgelegt, der die linke Opposition aus der Partei ausschloss. Sokolnikow wurde damals sofort in das Zentralkomitee hinein gewählt. Wie alle Kapitulanten, hörte er auf, eine politische Rolle zu spielen. Zum Unterschiede jedoch von Sinowjew und Kamenew, die Stalin als zu bedeutende Figuren auch noch in ihrer Erniedrigung fürchtete, wurde Sokolnikow, wie Pjatakow und Radek, als sowjetischer Würdenträger sofort von der Bürokratie assimiliert. Ist es nicht erstaunlich, dass dieser Mensch nach zehn Jahren friedlicher politischer Arbeit, heute der schwersten Staatsverbrechen beschuldigt wird? [1]

Im August haben sechzehn Angeklagte um die Wette mit dem Staatsanwalt und miteinander ihrer Hinrichtung nachgejagt. Schreckliche Terroristen verwandelten sich plötzlich in Flagellanten und Streber nach dem Märtyrerkranz. Pjatakow und Radek veröffentlichten in jenen Tagen in der Prawda wütende Artikel gegen die Angeklagten und forderten für jeden von ihnen mehrere Todesurteile. Und in dem Augenblick, wo diese Zeilen erscheinen werden, wird die TASS, wie man annehmen kann, der ganzen Welt mitgeteilt haben, dass Radek und Pjatakow aufrichtig ihre eigenen phantastischen und unmöglichen Verbrechen bereuen und für sich die Todesstrafe fordern. Um den Inquisitionsprozessen auch nur eine äußere Wahrscheinlichkeit zu verleihen, braucht Stalin möglichst bekannte und autoritäre Gestalten der alten Bolschewiki. „Es ist nicht möglich, dass diese erprobten Revolutionäre sich so ungeheuerlich verleumden“, sagt der Durchschnittsspießer. „Es ist anderseits nicht möglich, dass Stalin seine alten Genossen, die keine Verbrechen begangen haben, erschießen lässt.“ Auf der Uninformiertheit, Naivität und Vertrauensseligkeit dieser Durchschnittsbürger beruhen eben die Spekulationen des Hauptorganisators dieser Prozesse, des Cäsar Borgia unserer Tage.

Im Prozess der 16 hat Stalin seine größten Trümpfe: Sinowjew und Kamenew, verbraucht. In seiner psychologischen Beschränktheit, die die Basis seiner primitiven Schlauheit bildet, hatte er fest damit gerechnet, dass die Geständnisse Sinowjews und Kamenews, durch die Erschießung bekräftigt, die Welt ein für allemal überzeugen würden. Es kam anders. Die Welt war nicht überzeugt. Die Scharfsinnigeren glaubten nicht. Ihr Misstrauen, von der Kritik gestützt, ergreift immer weitere Kreise. Dies kann die regierende Sowjetspitze keinesfalls ertragen: ihre nationale und internationale Reputation steht und fällt mit dem Moskauer Prozess.

Schon am 15. September des vergangenen Jahres, zwei Wochen nach meiner Internierung in Norwegen, schrieb ich in einer für die Presse bestimmten Erklärung: „Der Moskauer Prozess erscheint im Spiegel der öffentlichen Weltmeinung als ein schreckliches Fiasko ... Die regierende Clique kann das nicht ertragen. Wie nach dem Zusammenbruch des ersten Kirow-Prozesses (Januar 1935) sie gezwungen war, einen zweiten vorzubereiten (August 1936), so muss sie auch jetzt, um ihre Anklagen gegen mich zu stützen, neue Attentate, Verschwörungen usw. entdecken.“ Die norwegische Regierung hat diese meine Erklärung konfisziert, die Ereignisse jedoch haben sie bestätigt. Ein neuer Prozess ist vor allem nötig, um den alten zu stützen, um die Löcher zuzuschmieren und die Widersprüche, die die Kritik bereits aufgedeckt hat, zu verschleiern.

Radek, Pjatakow, Serebrjakow, Sokolnikow sind, wenn man von Rakowski absieht, den man vorläufig in Ruhe lässt, die autoritärsten Kapitulanten von den noch lebenden. Stalin hat offenbar beschlossen, auch sie „aufzubrauchen“. Aber nicht nur zu diesem Zwecke. Im Prozess der 16 hat es sich nur um Terrorismus gehandelt, doch der langjährige Terrorismus lief auf die Ermordung des einen Kirow, einer politisch zweitrangigen Figur, hinaus, durch den völlig unbekannten Nikolajew (unter engster Beteiligung der GPU, was ich schon im Jahre 1934 nachgewiesen habe). Für die Ermordung Kirows sind auf Grund verschiedener Prozesse und ohne Prozesse mindestens zweihundert Menschen erschossen worden! Man kann aber nicht endlos die Leiche Kirows benutzen zur Ausrottung der gesamten Opposition, um so weniger, als wirkliche alte Oppositionelle, die weder bereuten noch kapitulierten, seit 1928 die Gefängnisse und Verbannungsorte nicht verlassen haben. Der neue Prozess hebt darum neue Anklagen hervor: ökonomische Sabotage, militärische Spionage, Beihilfe zur Restaurierung des Kapitalismus, sogar Attentate „zur Massenausrottung von Arbeitern“! Unter diese Formeln kann man alles bringen, was man will. Wenn Pjatakow, der faktische Leiter der Industrie während der zwei Fünfjahrespläne, sich als Hauptorganisator der Sabotage erweist, was soll man da von einfachen Sterblichen sagen? Nebenbei wird die Bürokratie versuchen, ihre ökonomischen Misserfolge, Fehler, Unterschlagungen und andere Missbräuche auf ... Trotzkisten abzuwägen, die jetzt in der UdSSR Punkt für Punkt die gleiche Rolle spielen, wie Juden und Kommunisten in Deutschland. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welch gemeine Beschuldigungen und Insinuationen man dabei gegen mich persönlich fabrizieren wird!

Der neue Prozess muss offensichtlich noch eine andere Aufgabe lösen. Die Geschichte des „trotzkistischen Terrors“ beginnt, laut dem Prozess der 16, mit dem Jahre 1932; es bleiben damit für den Henker jene Trotzkisten unerreichbar, die seit dem Jahre 1928 in den Gefängnissen sitzen. Vieles lässt darauf schließen, dass die Angeklagten des neuen Prozesses berufen sind, Verbrechen und Pläne einzugestehen, die sich auf die Zeit vor ihrer Reueablegung beziehen. In diesem Falle müssen Hunderte alter Oppositioneller automatisch vor den Lauf des Revolvers geraten.

Kann man aber glauben, dass Radek, Pjatakow, Sokolnikow, Serebrjakow und die anderen nach der tragischen Erfahrung der 16 den Weg der Selbstbezichtigungen beschreiten werden? Sinowjew, Kamenew und die anderen hatten Hoffnung auf Rettung. Sie wurden betrogen. Für die Geständnisse, die ihren moralischen Tod bedeuteten, hat man ihnen mit dem physischen Tode bezahlt. Ist diese Lektion tatsächlich an Radek und den anderen spurlos vorbeigegangen? Darüber werden wir in den nächsten Tagen alles erfahren. Es ist falsch, sich die Sache so vorzustellen, als habe die neue Gruppe der Opfer freie Wahl. Diese Menschen sehen während der monatelangen Untersuchung, wie sich über ihren Köpfen langsam, aber erbarmungslos der Todespendel senkt. Wer sich beharrlich weigert, unter Diktat des Staatsanwalts Reuebekenntnisse abzulegen, wird ohne Gericht erschossen.

Radek, Pjatakow und den anderen lässt die GPU den Schein einer Hoffnung. „Aber ihr habt doch Sinowjew und Kamenew erschossen?“ „Ja, die haben wir erschossen, weil es notwendig war; weil sie geheime Feinde waren, weil sie sich geweigert haben, die Verbindung mit der Gestapo einzugestehen, weil ... usw. usw. Aber euch brauchen wir nicht zu erschießen. Ihr müsst uns helfen, die Opposition mit der Wurzel auszurotten und Trotzki restlos zu kompromittieren. Für diesen Dienst schenken wir euch das Leben. Nach einiger Zeit werden wir euch sogar wieder Arbeit geben usw. usw.“ Gewiss, nach allem, was geschehen ist, können Radek, Pjatakow und die anderen diesen Versprechungen keinen großen Wert beimessen. Aber auf der einen Seite steht vor ihnen der sichere, unvermeidliche und sofortige Tod, auf der anderen ... auf der anderen ebenfalls der Tod, jedoch von einigen Funken der Hoffnung bestrahlt. In solchen Fällen wählen Menschen, besonders gehetzte, zerquälte, zerrüttete, erniedrigte, die Seite der Frist und der Hoffnung.


Anmerkung

1. Die letzten Telegramme nennen in der Liste der Angeklagten: Muralow, einen Helden der Revolution von 1905, einen der Organisatoren der Roten Armee und späteren Stellvertreter des Volkskommissars für Ackerbau; Boguslawski, den ehemaligen Vorsitzenden des Woronescher Sowjets und späteren Vorsitzenden des „Kleinen Rats der Volkskommissare“, der wichtigsten Kommission des Sowjets der Volkskommissare in Moskau; Drobnis,den Vorsitzenden des Sowjets in Poltawa, den die Weißen an die Wand gestellt, aber in der Eile nicht tödlich getroffen hatten. Wenn die Sowjetmacht in den Jahren 1918–1921 widerstand, so zum großen Teil dank den Menschen dieser Art.

 


Zuletzt aktualisiert am 10. Juni 2018