Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Kindheit und Schuljahre

Im Laufe von vierzehn Jahren (1864 bis 1878) wurden den Uljanows sieben Kinder geboren. Wenn man den Fünftgeborenen, Nikolaj, der nur einige Tage lebte, ausschließt, so kann man auf Grund aller uns bekannten Angaben zu folgendem lehrreichen Schluß kommen: die nach Charakter und Begabung hervorragendsten Kinder der Familie – Alexander, Wladimir und Olga – sind die mittlere Altersgruppe, wobei Wladimir der zentrale Platz zukommt. Die ältere Tochter, Anna, und die beiden jüngsten Mitglieder der Familie, Dmitrij und Maria, erheben sich trotz vieler achtenswerter Eigenschaften nicht oder fast nicht über das Mittelmaß. Zur Zeit der Geburt Wladimirs war der Vater neununddreißig, die Mutter fünfunddreißig Jahre alt – das Alter der vollen Entfaltung der physischen und geistigen Kräfte. Die übrigen Kinder, mit Ausnahme der jüngsten Tochter, Maria, wurden im Abstand von je ein bis zwei Jahren geboren, während vor der Geburt Wladimirs der Organismus der Mutter vier Jahre ausrasten konnte.

Es wäre natürlich äußerst aufschlußreich, die Vorfahren Lenins durch einige Generationen zu verfolgen. Bisher wurde hinsichtlich der Genealogie jedoch fast nichts getan. Höchstwahrscheinlich ist die Feststellung der Ahnen väterlicherseits angesichts der plebejischen Herkunft des Großvaters, eines unbekannten Archangelsker Kleinbürgers, schwer, vielleicht überhaupt nicht möglich: Die standesamtlichen Eintragungen wurden bei den Kleinbürgern und Bauern sehr schlampig durchgeführt, und überdies fielen die Geburtsregister und sonstigen Bücher im Königreich der Holzbauten periodisch Bränden zum Opfer. Eine genealogische Besonderheit kann man aber mit weit größerer Sicherheit als nach den einwandfreiesten Dokumenten feststellen: die Gesichtszüge von Ilja Nikolajewitsch, besonders die vorspringenden Backenknochen und der Schnitt der Augen, zeugten ohne jeden Zweifel von einer Beimischung mongolischen Blutes. Das Aussehen Lenins sprach ebenfalls dafür. Kein Wunder: Seit jeher stellten die Tataren einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung Astrachans, und nach den Beobachtungen der biologischen Schule Mendels dominieren in der Vererbung die mongolischen Augen gegenüber den europäischen. Weniger erklärlich ist, daß bis heute fast nichts über die Vorfahren Lenins mütterlicherseits publiziert wurde. Es ist bekannt, daß Maria Alexandrowna die Tochter des Arztes Blank war, der mit einer Deutschen verheiratet war. Hinsichtlich dieser Großmutter Lenins kann man mit Sicherheit annehmen, daß sie ihrer Herkunft nach aus einer der wolgadeutschen Kolonien stammte, aus denen nicht wenige wohlhabende und relativ kultivierte Familien hervorgingen. Doch Blank selbst? Maria Uljanowa berichtet, daß der Großvater kleinbürgerlicher Herkunft war, ein fortschrittlicher und unabhängiger Mensch, dar gerade aus diesem Grund früh in Pension ging und sich mit der Landwirtscbaft befaßte. Über seine Nationalität wird aus irgendeinem Grund nichts mitgeteilt. Doch zeugt der Familienname Blank, vor allem bei einem Kleinbürger, von nichtrussischer Herkunft. Ist nicht auf diesen Umstand das merkwürdige Verschweigen zurückzuführen? Sind doch die offiziellen Memoirenschreiber imstande zu denken, daß die eine oder andere Einzelheit der Abstammung die Gestalt Lenins kleiner oder größer machen könnte. Aber wenn wir auch die nationale Herkunft Blanks beiseite lassen, können wir feststellen, daß in den Adern Lenins das Blut von mindestens drei „Rassen“ floß: großrussisches, deutsches und tatarisches. Wenn durch diesen Umstand irgend etwas zu Schaden kommt, so nur der Kult der „Rassenreinheit“.

Über die Kindheit Wladimirs wissen wir weniger als über die Alexanders. Das hängt mit der Altersstruktur der Familie zusammen. Anna, die aufmerksamste und fruchtbarste Lebensbeschreiberin der Familie, die das Wachstum und die Entwicklung Alexanders aus nächster Nähe beobachtete, war um ganze sechs Jahre älter als Wladimir. Maria war fast acht Jahre jünger als er. Der Unterschied ist in beiden Fällen zu groß für nahe Beobachtungen und genaue Erinnerungen. Die nächste Gefährtin von Wladimirs Kinderjahren, die Schwester Olga, starb mit neunzehn Jahren. Die Gestalt des Knaben und des Halbwüchsigen wird für uns nur durch einige Episoden erhellt, die der älteren Schwester in Erinnerung geblieben waren; näher interessierte sie sich für Wladimir, als dieser bereits begann, ein junger Mann zu werden. Irgendwelche Briefe aus den Kinderjahren Wladimirs sind nicht erhalten geblieben, und wahrscheinlich hat er auch gar keine geschrieben: die Familie lebte zusammen. Auch Tagebücher sind keine erhalten; und wahrscheinlich hat er auch nie welche geführt: von Kindheit an lebte er zu intensiv, um seine Erlebnisse zu registrieren.

Wolodja (Koseform von Wladimir) lernte spät gehen, fast gleichzeitig mit der um anderthalb Jahre jüngeren Schwester Olga. Und seine ersten Heldentaten auf dem Gebiet der Peripatetik waren nicht sehr glücklich: Der Knabe fiel oft und schwer, dabei immer auf den Kopf, so daß die einen Stock tiefer Wohnenden mit voller Sicherheit seine Laufbahn verfolgen konnten. „Wahrscheinlich hatte sein Kopf Übergewicht“, schreibt die Schwester. Nach jedem Sturz konnte man Wolod-jas Gebrüll im ganzen Haus hören: überhaupt versäumte er in frühen Jahren keine Gelegenheit, die Stimmbänder zu entwickeln. „Die Leidenschaft der Zerstörung“, sagte Bakunin, der in der Verbannung starb, als der künftige Lenin sechs Jahre alt war, „ist eine schöpferische Leidenschaft.“ Wolodja war ein unbedingter Anhänger dieser Formel; Er zerstörte das Spielzeug, bevor er damit zu spielen begann. Als ihm das Kindermädchen einen Schlitten mit drei Pferden aus Papiermaché schenkte, versteckte er sich zunächst hinter der Tür vor der zudringlichen Kontrolle der Erwachsenen und drehte an den Beinen der Pferde so lange, bis sie herunterfielen.

Die Selbständigkeit und Leidenschaftlichkeit des Charakters zeigten sich offenbar sehr früh. Oft mußten die Älteren den stürmischen und lärmenden Knaben zur Ordnung rufen. Auch in aller Öffentlichkeit erlegte er sich keinen Zwang auf. „Auf dem Dampfer darf man nicht so laut schreien“, sagte die Mutter zu ihm, als sie die Schiffsreise zum Sommeraufenthalt im Kasaner Gouvernement antraten. „Aber der Dampfer schreit doch selbst laut“, antwortete Wolodja, ohne die Stimme zu senken. Die Mutter wirkte auf die Kinder vor allem durch Ermahnungen und Beharrlichkeit ein. Wenn aber diese erzieherischen Hilfsmittel sich als unzureichend erwiesen, wurde Wolodja ins leerstehende Kabinett des Vaters geführt und in den „schwarzen Sessel“ gesetzt. Wolodja fand sich damit ab und verstummte; manchmal schlief er sogar unter der Schwere des Schlages, der ihn getroffen hatte, vielleicht aber auch infolge des Ledergeruchs friedlich ein.

Obwohl er spät gehen gelernt hatte, war der Knabe sehr beweglich. Wegen seines stämmigen Wuchses bei geringer Körpergröße erhielt er in der Familie den Spitznamen „Kubyschka“ (Fäßchen). Spielzeug interessierte ihn sehr wenig; dafür bemühte er sich nicht ohne Erfolg, bei Spielen, die Agilität, Geschicklichkeit und Kraft erforderten, an erster Stelle zu stehen. Versteckenspiel, Blindekuh, Rodelfahren, später Kricketspiel und Eislaufen beschäftigten ihn abwechselnd oder gleichzeitig leidenschaftlich.

Sascha war bei den Spielen erfinderisch, aber selbst im eifrigsten Spiel beherrscht. Wolodja wollte immer „einholen und überholen“, wobei er nicht davor zurückschreckte, dazu die Ellbogen zu gebrauchen. Auch in vielen anderen Zügen unterschied sich Wolodja schon in früher Kindheit vom älteren Bruder. Sascha war ausdauernd, liebte das Sammeln und Laubsägearbeit: so schärfte er die Aufmerksamkeit und Geduld des künftigen Naturforschers. Wolodja hatte für langweilige Kleinarbeit nichts übrig. Einmal sammelte Sascha Theateranzeigen und breitete sie sorgfältig auf dem Boden aus. Der kleine Wolodja sprang auf die wertvollen farbigen Blätter, zerstampfte und zerknüllte sie und zerriß auch einige. Diese Barbarei war für Sascha unfaßbar; seine Augen verdüsterten sich, aber er schlug den Übeltäter nicht und beschimpfte ihn nicht einmal; das entsprach nicht seinem Charakter: seine großen und kleinen Kränkungen verschloß er in seinem Inneren und wurde allein damit fertig. Aber wie sehr sich Wolodja dem Temperament nach auch von Sascha unterschied, versuchte er es ihm doch in allem gleichzutun. Auf die Frage „Kascha mit Butter oder mit Milch?“ antwortete er: „Wie Sascha.“ Und genauso wie Sascha fuhr er später auf Schlittschuhen den steilen Berg hinunter. Der starke und ausgeglichene Charakter des Bruders imponierte „Kubyschka“. Und gleichzeitig feuerte ihn der Geist des Wettbewerbs an, es dem Älteren gleichzutun. Die Formel „wie Sascha“, über die man sich in der Familie nicht selten lustig machte, hatte einen doppelten Inhalt: Anerkennung der Überlegenheit eines anderen und das Bestreben, „einzuholen und zu überholen“.

Sascha war ordentlich und, fast krankhaft wahrheitsliebend: jede List und jede Lüge lagen ihm genauso fern wie Schimpfen oder Verhöhnen; in schwierigen Situationen schwieg er. In der gesunden Wahrheitsliebe Wolodjas war ein Element der Verschmitztheit. Bei der über die Stränge schlagenden Extensivität seiner Natur war es ihm ganz unmöglich, ohne Notlügen auszukommen: es war unmöglich, sich an Apfelschalen gütlich zu tun, wenn man sie nicht in Abwesenheit der wachsamen Mutter heimlich in der Küche stibitzte; man konnte den Papierpferden nicht die Füße ausreißen, wenn man sich nicht hinter der Tür versteckte; und es war natürlich unvorstellbar, einer wenig bekannten Tante zu gestehen, daß gerade er, Wolodja, der bei ihr zu Gast war, beim Laufen die Wasserkaraffe zerbrochen hatte. Dafür begann der Knabe drei Monate später vor dem Einschlafen im Bett zu weinen und gestand der Mutter, daß er nicht nur die Karaffe zerbrochen, sondern auch die Tante belogen hatte. Daraus können wir ersehen, daß „Kubyschka“ der kategorische Imperativ der Moral durchaus nicht so fremd war, wie später die zahlreichen Feinde Lenins behaupteten.

Vielleicht muß man noch besonders vermerken, daß Wolodja auf keinen Fall ein „Wunderkind“ war; diese Bezeichnung trifft schon eher auf die jüngere Schwester, Olga, zu. Er wuchs als normales, gesundes Kind heran, in den allerersten Jahren war er vielleicht sogar etwas zurückgeblieben. Nach der Erzählung von Jelisarowa lernte Wolodja bei der Mutter mit fünf Jahren lesen, wieder gleichzeitig mit der jüngeren Schwester Olga. Demnach hätte das Mädchen allerdings schon allzufrüh lesen gelernt. Vielleicht muß man hier ein halbes oder ganzes Jahr zugeben. Als Pädagoge bekam Ilja Nikolajewitsch viel Kinderliteratur. Für das Lesen und Auswendiglernen von Gedichten zeigte jedoch Olga mehr Neigung, die mit Wolodja im Entwicklungsgang eng verbunden, aber ihrem Charakter nach Sascha ähnlicher war. Wolodja las schnell, ließ aber gern die Kinderbücher liegen, um umherzulaufen und Unfug zu treiben. Er liebte das Leben vor allem als Bewegung. Im Kabinett des Vaters tauchten von Zeit zu Zeit neue physikalische und sonstige Geräte auf, mit deren Hilfe die Kinder in freien Minuten mit den Geheimnissen der Wissenschaft bekannt wurden. Wolodja verstand es, mit absoluter Sicherheit das Allerwichtigste schon bei einer Andeutung zu erfassen. Er wurde gewissermaßen im Vorübergehen reifer und gescheiter.

Im Gegensatz zu Sascha, der sich zu den jüngeren Familienmitgliedern sehr aufmerksam verhielt, liebte es Wolodja, bei jeder Gelegenheit an ihnen seine Überlegenheit zu erproben. Wenn die Kinder, von der Mutter begleitet, das Lied vom Zicklein sangen, über das die grauen Wölfe herfielen, vergoß Mitja, der besonders empfindsam war, gewöhnlich Tränen. Man versuchte, ihn zu überzeugen, daß es nicht notwendig sei, sich das Schicksal eines unbekannten Zickleins so zu Herzen zu nehmen, Mitja versuchte sich zusammenzunehmen. Aber was half es: der graue Wolf ging ja auf Mitja selbst los. Sowie das Lied zur kritischen Stelle kam, sang Wolodja die Schlußstrophe, „Sie ließen der Großmutter nur die Hörnlein und die Füßlein zurück“, mit so schrecklicher Stimme und illustrierte sie mit solch finsteren Grimassen, daß der arme Mitja von Schluchzen geschüttelt wurde.

Dank der Mutter spielte die Musik im Leben der Familie eine beträchtliche Rolle. Die Kinder sangen – oder, wie das Kindermädchen sagte, „schrien“ – gerne, und die Mutter begleitete sie. Es wird behauptet, daß Wolodja dabei nicht nur großen Eifer, sondern auch ein recht gutes Gehör zeigte. Die musikalischen Fähigkeiten des Knaben erfuhren aber, wenn es sie überhaupt gab, auf jeden Fall keine weitere Entwicklung. Die Liebe zur Musik blieb ihm aber das ganze Leben lang.

Der Hauslehrer Kalaschnikow und dann die Lehrerin Kaschkadamowa bereiteten Wolodja auf das Gymnasium vor. Kalaschnikow erinnert sich an ihn als einen Knaben von kräftiger Statur und rötlichen, über der Stirn gekräuselten Haaren, die dem Äußeren nach den anderen Kindern der Familie wenig ähnlich war, lebhafter, von rascher Auffassung und spottlustig. Kalaschnikow, der es in der städtischen Schule vor allem mit Kindern von Fremdstämmigen zu tun hatte, hatte sich angewöhnt, die Wörter langsam und halb singend auszusprechen; der ungeduldige Wolodja, bei dem dieses System nicht am Platze war, äffte seinen Lehrer ungeniert nach. Dieses interessante Detail zeigt, daß das Pflänzchen der Ehrerbietung bei dem Knaben nicht Wurzeln geschlagen hatte und daß er früh damit anfing, seine Krallen nicht nur an den Jüngeren zu erproben.

Im Jahre 1878, als Wolodja acht Jahre alt war, übersiedelten die Uljanows ins eigene Haus, ein sehr bescheidenes Holzhaus, das dafür einen Obstgarten hatte, dem die ganze Familie viel Sorgfalt und Pflege angedeihen ließ. Wolodja rannte zur Zeit der Gartenarbeit wohl noch emsiger und eifriger als die anderen mit der Gießkanne; auch bei der Verwertung der Früchte war er, wie man wohl annehmen kann, nicht der letzte. Interessant ist die genaue Ordnung, die in dieser Beziehung in der Familie eingeführt war: den Kindern wurde genau gezeigt, welche Sträucher und Bäume für sie bestimmt waren und welche für den Wintervorrat oder für den Namenstag des Vaters, und alle beobachteten streng die Disziplin des Genusses. Ein Mädchen, das zu Gast war, biß im Laufen übermütig in einen Apfel, der noch auf dem Baum hing, und eilte weiter. Ein halbes Jahrhundert nach dieser „Katastrophe“ erinnert sich A. Jelisarowa: „Uns war ein solches Rowdytum fremd und unverständlich (!).“ Dieses in seiner Pedanterie sonderbar berührende Urteil zeigt nicht schlecht den patriarchalischen Geist der Familie, wo die Disziplin von Mutter und Vater auf verschiedene Weise, aber mit großem Erfolg aufrechterhalten wurde. Sparsamkeit, Ordnungsliebe, Achtung vor der Arbeit und ihren Früchten hat sich der künftige große Zerstörer schon in früher Kindheit angeeignet. Wenn er selbst auch unschuldigen kindlichen Übermut natürlich nicht „Rowdytum“ genannt hätte, so war ihm doch bei den Erwachsenen jede Schlamperei und Verschwendungssucht zutiefst unsympathisch.

Mit dreizehn Jahren verfiel Sascha auf den Gedanken, eine Familienzeitschrift herauszugeben; da er selbst keine Neigung zur Schriftstellerei verspürte, übernahm er die Rolle des Redakteurs und verfaßte außerdem Scharaden und Rebusse und besorgte die Illustrationen. Der neunjährige Wolodja wurde unter dem eindrucksvollen Pseudonym „Kubyschkin“ sein engster Mitarbeiter. Selbst die siebenjährige Olga bereicherte die Zeitschrift mit ihren Kritzeleien. Das Journal kam jeden Samstag heraus und hieß Subbotnik. Die fünfzehnjährige Anna, die schon mit den Artikeln des berühmten Kritikers Belinskij Bekanntschaft gemacht hatte, zog mit ätzenden Artikeln gegen eine Erzählung des jungen Literaten Kubyschkin los. Wolodja hörte sich die kritische Abrechnung mit größter Aufmerksamkeit an und zeigte sich nicht im geringsten verletzt: er lernte und merkte sich die Lektion. An den literarischen Diskussionen beteiligten sich auch der Vater und die Mutter. Ihre Gesichter strahlten vor Freude über die Kinder. „Diese Abende“, schreibt Jelisarowa, „waren der Gipfelpunkt der engen Verbundenheit zwischen uns vier Ältesten und den Eltern. Sie hinterließen eine so helle und freudige Erinnerung!“

Mit neuneinhaib Jahren trat Wolodja in die erste Klasse des Gymnasiums ein. Jetzt trug er die gleiche Uniform „wie Sascha“ und stand unter der Herrschaft derselben Lehrer in den Uniformen mit den zweiköpfigen Adlern auf den Messingknöpfen. Aber seinem ganzen Charakter nach ertrug Wladimir leichter als Alexander das Gymnasialregime mit seiner Vergewaltigung und Verlogenheit. Selbst der Klassizismus bereitete ihm kein Ungemach: Der künftige Schriftsteller und Redner fand früh Geschmick an den alten Meistern des Wortes. Wladimir lernte ungewöhnlich leicht. Dieser unruhige und lärmende Knabe mit seinem weiten geistigen Gesichtsfeld besaß in unerhört hohem Maß die Gabe konzentrierter Aufmerksamkeit. Unbeweglich auf seiner Bank sitzend, nahm er gierig alle Erklärungen der Vortragenden auf: so war für ihn jede Aufgabe schon gelöst, sobald sie gegeben wurde. Wenn er nach Hause kam, machte er rasch die Arbeiten für den nächsten Tag. Und während die beiden älteren Geschwister bei ihren Aufgaben am großen Tisch im Speisezimmer saßen, begann Wolodja schon sein extensives Leben: Er lärmte, schwätzte, neckte die jüngeren. Die älteren protestierten. Die Autorität der Mutter war manchmal unzureichend. Wolodja war nicht zu bändigen. Manchmal nahm der Vater, wenn er zu Hause war, den unruhigen Geist zu sich ins Kabinett, um sich zu überzeugen, ob er wirklich seine Aufgabe gelernt hatte. Doch Wolodja antwortete einwandfrei. Der Vater nahm die alten Hefte und prüfte ihn den Stoff des ganzen Kurses. Wolodja erwies sich auch hier als unverwundbar, die lateinischen Worte saßen fest in seinem Gedächtnis. Der Vater wußte nicht, ob er sich über ihn freuen oder ärgern sollte: allzu leicht wird der Knabe mit dem Lernstoff fertig; wie soll er da richtige Arbeitsamkeit lernen ...

Wenn Wolodja aus dem Gymnasium heimkam, berichtete er den Eltern über die Ereignisse des Tages, vor allem darüber, in welchen Gegenständen er aufgerufen wurde und wie er geantwortet hatte. Da seine Erfolge immer wieder dieselben waren, ging er rasch am Kabinett des Vaters vorbei und rapportierte, ohne stehenzubleiben: „In Griechisch Fünf, in Deutsch Fünf.“ Am nächsten und übernächsten Tag dasselbe: „In Latein Fünf, in Algebra Fünf.“ Vater und Mutter lächelten einander heimlich und zufrieden zu. Ilja Nikolajewitsch lobte die Kinder nicht gern laut, besonders diesen schlagfertigen Knaben, dem alles allzu leichtfiel. Aber die Erfolge der Kinder brachten natürlich eine frohe Note in das Leben der Familie. An den Abenden fanden sich alle zufrieden beim großen Teetisch ein. Ilja Nikolajewitsch verlor nicht den Geschmack an Scherzen und Schulanekdoten. Es wurde viel gelacht, und als erster legte nicht selten der Direktor der Volksschulen selbst los. „In dieser harmonischen Familie fühlte man sich warm und behaglich“, erzählte die Hauslehrerin Kaschkadamowa ... „Am lebhaftesten von allen sprechen Wolodja und seine zweite Schwester Olga. Ihre fröhlichen Stimmen und ihr ansteckendes Lachen klingen nur so.“

Die Stimme Wolodjas, das mußte man zugeben, klang manchmal allzu laut. Da sich der Knabe zwischen den Wänden des Gymnasiums sehr diszipliniert verhielt, brachte er notwendigerweise die aufgestauten Nervenladungen nach Hause, nicht immer zum Vorteil der häuslichen Ruhe. Sein Benehmen in der Familie war übrigens sehr unterschiedlich, je nachdem, ob der Vater zu Hause war oder nicht. Offenbar fürchtete Wolodja den Vater, der nicht nur wie ein Kind mit den Kindern spielen, sondern mitunter auch sehr hart sein konnte. Jelisarowa ist der Ansicht, daß der mit Arbeit überlastete Vater die Individualität seiner Kinder, besonders die Alexanders, nicht genügend berücksichtigte, aber daß sein pädagogisches System trotzdem „vollständig richtig“ war in bezug auf Wladimir, als Gegengewicht gegen seine „große Selbstsicherheit und Überheblichkeit“. Wir sind dankbar für diese wertvollen Andeutungen und bedauern nur, daß sie so dürftig sind. Gehörte es zum System Ilja Nikolajewitschs, daß er sich nicht nur des Lobes, sondern auch der Bestrafung enthielt? Noch als Inspektor der Volksschulen schrieb er 1878: „Bei Lehrern, die ihrer Sache ergeben sind, besteht nie die Notwendigkeit, den Schülern gegenüber irgendwelche Strafmaßnahmen anzuwenden...“ Hielt sich jedoch der Familienvater an die eigenen pädagogischen Regeln? In dieser Hinsicht liegen keinen direkten Zeugnisse vor. In den Familienerinnerungen wird wie immer ohne Abschwächung oder Verschweigung auf jede Weise die Ausgeglichenheit und Geduld der Mutter unterstrichen; um so näher liegt der Gedanke, daß es beim Vater anders bestellt war. Die Herrschsucht Ilja Nikolajewitschs in Verbindung mit seinem Jähzorn können diese Annahme nur unterstützen. Jede Familie hat ihre Schattenseite. Und kann das auch anders sein, der Familie Verpflichtungen aufgehalst sind, denen sie ganz offenbar nicht gewachsen ist? Eine gute Familie – das heißt nicht eine untadelige Familie, sondern nur eine solche, die besser ist als andere Familien unter denselben Bedingungen. Die Familie Uljanow war eine gute, konservative Provinzfamilie mit ernsthaften Interessen und einer sauberen Atmosphäre. Die Eltern lebten sehr gut zusammen, und die Kinder blieben stets verschont von demoralisierenden Streitereien und Auseinandersetzungen zwischen Vater und Mutter. Das Vorhandensein von älteren Geschwistern, besonders Alexanders, beschleunigte die Entwicklung des jüngeren. Wenn Wladimir in den Schuljahren auch gelegentlich krank war, so war sein Organismus doch recht kräftig und entwickelte sich gut. Bei seinen Fähigkeiten konnte von einer Überbeanspruchung keine Rede sein. Er wuchs wie ein junges Eichenbäumchen, schlug tief Wurzeln und war reichlich versorgt mit Luft und Feuchtigkeit. Wie soll man da nicht sagen: eine glückliche Kindheit!

Der Sommer in Kokuschkino, in der Heimat der Mutter, war, wie bei allen mehr oder weniger privilegierten Kindern auf der Welt, die schönste Zeit des Jahres. Dort trafen sich nach langer Trennung die Geschwisterkinder, gab es endlose Spiele, wurden große Ausflüge unternommen, dort befreundeten sich die Kinder oder verliebten sich ineinander. Wolodja war der größte Draufgänger von allen, besonders bei Wettbewerben. In Kokuschkino kam er auch gelegentlich mit der Welt der Bauern in Berührung, ein- oder zweimal gelang es ihm sogar, mit den Bauernkindern in der Nacht Pferde hüten zu gehen. Dem Literaten Kubyschkin lag der Gedanke fern, daß dieses Ins-Volk-Gehen ein halbes Jahrhundert später so ausgelegt wurde, als sei daraus der Gedanke des Bündnisses der Arbeiter und Bauern entsprungen. Aber zweifellos wurden in diesem geräumigen Knabenkopf auch die flüchtigen Eindrücke der Ferialbegegnungen als wertvoller Vorrat deponiert, der ihm später zustatten kam.

Als Alexander II. ermordet wurde, ging Wladimir in die zweite Klasse; er war noch keine elf Jahre alt. In diesem Alter las Sascha allerdings schon Nekrassow und machte sich seine Gedanken über das Schicksal der Unterdrückten. Aber die jüngeren Kinder ermunterte der Vater nicht zur Lektüre radikaler Literatur. Die Reaktion lag schon in der Luft, und ihren Atem spürte man nicht nur im Gymnasium, sondern auch in der Familie. Man kann mit Sicherheit sagen, daß die politischen Interessen bei Wladimir fast bis zum Ende der Gymnasialzeit nicht geweckt wurden. Die Ereignisse des 1. März 1881 und die nachfolgenden Totenmessen und Reden mußten ihn nur aufregen wie ein Brand oder ein Zugzusammenstoß. Der Sohn des Direktors der Volksschulen, erzogen im Geist der Disziplin und des orthodoxen Glaubens, hatte an der Richtigkeit dessen, was ist, noch nicht einmal zu zweifeln begonnen. Es ist nicht uninteressant, daß sein späterer engster Kampfgenosse, der dann Führer der Menschewiken und sein unversöhnlicher Gegner wurde, der damals achtjährige Julij Zederbaum (Martow) der in einer liberalen jüdischen Familie in Odessa aufwuchs, das Ereignis des 1. März zweifellos weit schärfer erfaßte als Wladimir: In der Küche hörte er von Adeligen, die den „Befreier“ ermordet hatten, in der guten Stube von den Narren, die davon träumten, mit Bomben die Freiheit zu erobern. Die Judenpogrome zu Beginn der Herrschaft des neuen Zaren bestimmten früh den politischen Weg des empfindsamen und begabten Julij. Der lebensfrohe und aktive Wladimir hingegen muß bald den Eindruck des ungewöhnlichen Ereignisses abgeschüttelt haben, das sich in unerreichbaren Höhen abgespielt hatte, ohne jede Beziehung zu ihm selbst und zu seinen Angehörigen. Einfach Übergang zu den alltäglichen Dingen: „In Arithmetik Fünf, in Latein Fünf ...“

Die Befürchtungen des Vaters waren unbegründet, Wolodja wurde nicht überheblich, im Gegenteil, er nahm sich selbst mit jedem Tag fester in die Hand. Eine Zeitlang war er Feuer und Flamme fürs Schlittschuhlaufen; aber da er nach dem Sport in der kalten Luft verschlafen wurde, hörte er damit auf, um besser lernen zu können. Krupskaja, die diese Episode nach Lenins eigener Erzählung wiedergibt, fügt hinzu: „Wladimir Iljitsch konnte seit früher Jugend auf das verzichten, was hinderlich war.“ Seine vielseitige Aufmerksamkeit befähigte ihn, wie wir wissen, zur Konzentration und war letztlich utilitaristisch bestimmt. Er bemerkte bei den anderen nicht nur die Schwächen und lächerlichen Seiten, sondern auch die starker Züge, die bei ihm selbst nicht genügend ausgeprägt waren Vielleicht sprach er seine Bewunderung nicht immer aus: Wolodja hatte vom Vater früh gelernt, sich mit dem Lob nicht zu übereilen; desto mehr war er bestrebt, sich die Vorzüge des anderen anzueignen. In der eigenen Familie arbeiteten andere ausdauernder und systematischer als er, vor allem Sascha. Das Beispiel des älteren Bruders hatte er immer vor Augen. Seit Ilja Nikolajewitsch ein eigenes Haus gekauft hatte, bewohnten die beiden Brüder zwei nebeneinanderliegende Zimmer im Halbstock, die abgesondert von den anderen waren. Der in Gedanken versunkene Sascha ging wohl oft, ohne stehenzubleiben, am allzu lauten und ausgelassenen jüngeren Bruder vorbei. Wolodja aber beobachtete Sascha aufmerksam: lernte von ihm, versuchte es ihm gleichzutun. So ging es bis zur Abreise des älteren Bruders zur Universität, während der jüngere in die fünfte Klasse des Gymnasiums aufstieg. Diese Nachbarschaft hat bei Wolodja zweifellos wertvolle Spuren hinterlassen: er ergänzte seine Fähigkeiten mit Ausdauer. Aber nicht nur das. Im Gegensatz zu Sascha, der alle durch seine sanfte Selbstbeherrschung für sich einnahm, war Wolodja wie der Vater sehr jähzornig, was ihm nicht wenig Unannehmlichkeiten bereiten sollte. Als er heranwuchs, bemühte er sich, auch in dieser Hinsicht „wie Sascha“ zu werden. Das war nicht leicht, denn sein unbändiges Temperament brach sich in Zornausbrüchen Bahn. Wenn die ältere Schwester schreibt: „In den reiferen Jahren konnten wir überhaupt oder fast überhaupt keinen Jähzorn bei ihm feststellen“, so übertreibt sie dabei wohl ein wenig. Doch zweifellos lernte Wladimir erfolgreich, sich zu disziplinieren.

Im Haus gab es ein Schachspiel, das der Vater noch in Nishnij-Nowgorod geschnitzt hatte und das langsam zu einer Art Reliquie geworden war. Die männlichen Angehörigen der Familie, angefangen mit dem Vater, widmeten sich gerne der uneigennützigen Kasuistik dieses alten Spiels, bei dem die Überlegenheit gewisser, wenn auch nicht gerade der höchsten geistigen Fähigkeiten am unmittelbarsten Ausdruck und Befriedigung findet. Die Söhne folgten jedesmal freudig der Aufforderung des Vaters, mit ihm eine Partie Schach zu spielen. Doch das Kräfteverhältnis änderte sich immer mehr zugunsten der jungen Generation. Alexander kaufte ein Schachlehrbuch und vertiefte sich mit der ihm eigenen ruhigen Hartnäckigkeit in die Theorie des Spiels. Einige Züge später folgte ihm auch Wladimir. Offenbar errangen die Brüder bedrohliche Erfolge, denn eines Abends, als Wolodja die Treppe hinaufstieg, stieß er auf den Vater, der aus dem Halbstock das Schachlehrbuch geholt hatte, sichtlich mit der Absicht, sich für die künftigen Zweikämpfer besser zu rüsten. Doch kurz ist das Vergnügen, lang der Alltag. Auf den Stufen der Gymnasialkurse stieg Wladimir unentwegt höher, und immer mit Auszeichnung. Nur in der siebenten Klasse kam es zu einem Zusammenstoß mit dem Französischlehrer, einem ungebildeten und hinterhältigen Subjekt, den er als Zielscheibe seines Spottes ausersehen hatte. Diese Unvorsichtigkeit blieb nicht ungestraft: der Franzose setzte durch, daß der beste Schüler für das Quartal in Betragen eine Vier bekam. Ilja Nikolajewitsch regte sich auf, und Wladimir versprach dem Vater fest, das riskante Experiment einzustellen, Der Zwischenfall hatte keine Folgen. Die pädagogische Leitung betrachtete die Frechheit gegenüber einem Lehrer, der keine Achtung genoß, nicht als Ausdruck einer schädlichen Geistesrichtung. Und für die damalige Zeit traf das auch zu.

In den Annalen des Simbirsker Gymnasiums stellte Wladimir Uljanow seinen Bruder Alexander eindeutig in den Schatten. Auf dem Gebiet der intellektuellen Geschmäcker und Neigungen bestanden zwischen den Brüdern auffallende und interessante Unterschiede. Die Schulaufsätze waren nicht die starke Seite Alexanders. Im Gegenteil: sie gerieten bei ihm kurz und trocken. Jene inneren Hemmungen, die seinen Charakter so anziehend machten, hinderten ihn, aus sich herauszugehen. Er haßte Phrasen und Unaufrichtigkeit, und alles, was im Gespräch die Grenzen des Notwendigen überschritt, war ihm peinlich. Sein bis zur Schamhaftigkeit ehrliches Denken entbehrte der Elastizität. Und da es ihm bei großem kritischem Feingefühl an literarischer Begabung fehlte, reduzierte er seine schriftlichen Arbeiten auf ein asketisches Minimum.

Wladimir hingegen wurde in der Klasse bekannt als „Schriftsteller“. Auch er hatte keinerlei Sympathie für Phrasen. Im Gegenteil: Das Bemühen um äußerliche Ausschmückung war ihm ebenso fremd in der Literatur wie in der Kleidung. Sein gesunder geistiger Appetit brauchte keine Gewürze. Aber auch Alexanders Schamhaftigkeit des Ausdrucks war ihm vollkommen fremd. Jenes kräftige und offensive Selbstvertrauen, das den Vater beunruhigte und gelegentlich den älteren Bruder abstoßen mußte, verließ Wladimir auch dann nicht, wenn es galt, die Gedanken in Worte zu kleiden. Wenn er sich hinsetzte, um einen Aufsatz zu schreiben – nicht in der letzten Minute, sondern beizeiten -, dann wußte er schon im vorhinein, daß er alles sagen wird, was nötig ist und wie es nötig ist. Er nahm einen möglichst harten Bleistift und spitzte ihn scharf zu, damit die Buchstaben dünn und gedrängt aufs Papier kamen, er entwarf zunächst einen Plan, um von vornherein eine vollständige Entwicklung seiner Gedanken sicherzustellen. Rund um das entworfene Schema gruppierten sich dann die Hinweise und Zitate, nicht nur aus den Schulbüchern, sondern auch aus anderen Büchern. Wenn die Vorbereitungsarbeiten fertig, die Quellenhinweise numeriert, Einleitung und Schluß entworfen waren, dann ging die Niederschrift des Aufsatzes fast von selbst. Er mußte dann nur mehr mit aller Sorgfalt ins reine geschrieben werden. Der Literaturlehrer Kerenskij – er war auch Direktor des Gymnasiums – schätzte diesen kräftigen, rotblonden Schriftsteller sehr, stellte seine schriftlichen Arbeiten den anderen als Beispiel hin und belohnte ihn mit der besten Note: Fünf plus. Wenn er mit den Eltern zusammenkam – und die Beziehungen zwischen Kerenskij und den Uljanows waren freundschaftlich -, ließ der Gymnasialdirektor nie die Gelegenheit vorübergehen, seinen Schüler zu loben.

Die Naturwissenschaften ließen Wolodja in der Gymnasialzeit kalt; er fing nicht wie der ältere Bruder Schmetterlinge oder Fische, legte keine Vogelschlingen und begleitete Alexander nicht bei seinen sommerlichen Bootfahrten. Der Geschmack an der äußeren Natur entwickelte sich bei ihm offenbar erst spät. Seine eigene Natur mit ihren ständig neu entdeckten Fähigkeiten und Möglichkeiten beanspruchte in diesen Jahren des geistigen Erwachens und des ersten Wachstums seine ganze Aufmerksamkeit. Er interessierte sich für Literatur, Geschichte, die lateinischen Klassiker, das heißt für jenen Wissenskreis, der unmittelbar mit dem Menschen und dem Menschlichen zu tun hat. Es wäre aber falsch, den Gesamtcharakter seiner Interessen als humanistisch zu bezeichnen. Dieses Wort riecht zu sehr nach Dilettantismus, Gemeinplätzen, schönen Zitaten. Indessen war das Denken Wladimirs seit jungen Jahren durchdrungen von organischem Realismus. Er betrachtete, beobachtete, belauerte fast das Leben in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, hatte einen scharfen Sinn für die Tatsachen in ihrer ganzen Materialität und suchte mißtrauisch das, was hinter der trügerischen Äußerlichkeit stand, so wie er in den Kleinkinderjahren darauf aus war, das innerste Wesen der Spielzeugpferde zu ergründen. Seine Gymnasiasteninteressen auf wissenschaftlichem Gebiet waren nicht so sehr für die Grundrichtung seines Intellekts bezeichnend als vielmehr für eine bestimmte Etappe seiner Entwicklung. Weder Literatur noch Geschichte und erst recht nicht die klassische Philologie gehörten im späteren Leben zum engsten Kreis seiner Interessen. Bald nach Beendigung seiner Gymnasialzeit schritt er über sie hinweg zur Anatomie der Gesellschaft, das heißt zur politischen Ökonomie.

Wir haben bisher nichts über das Verhältnis Wladimirs zur Religion gesagt. Und nicht zufällig: die Frage der Orthodoxie und der Kirche trat er in der letzten Periode des Gymnasialstudiums kritisch in sein Bewußtsein. Diese Tatsache ist infolge des Milieus, der Zeit und seines persönlichen Charakters durchaus verständlich, doch halten sie, wie unglaublich das auch sein mag, die offiziellen Biographen für beschämend. Wenn man heute die Wahrheit herausbekommen will, muß man sich schon durch die aufgehäuften Hindernisse hindurcharbeiten. Dabei kann man gerade am Beispiel des Bruches des jungen Lenin mit der Legende des Christentums erfolgreich beobachten, wie die Lenin-Legende entsteht und immer weiter wuchert.

Eine bekannte sowjetische Persönlichkeit, Ingenieur Krshishanowski, schreibt: „Lenin hat mir gesagt, daß er schon in der fünften Klasse des Gymnasiums entschieden mit allen religiösen Fragen Schluß gemacht hat: Er nahm das Kreuz von der Halskette und warf es auf den Mist.“ Seine Erinnerungen an Lenin, mit dem ihn in der Jugend die revolutionäre Arbeit, Gefängnis und Verbannung verbanden, schrieb Krshishanowski ungefähr dreißig Jahre nach diesem Gespräch, auf das er sich beruft. Vollzog sich die Krise des revolutionären Bewußtseins bei Wladimir tatsächlich in der fünften Klasse, und ist es wahr, daß dabei das Kreuz, das er auf der Brust trug „in den Mist“ geworfen wurde, oder verwendete Lenin nur im Gespräch eine der kräftigen Redensarten, für die er eine Vorliebe hatte? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf die verspätete Mitteilung Krshishanowskis, wie wir sehen werden, einer ernsthaften Überprüfung: nach so langer Zeit werden Gedächtnis nicht nur fremde, sondern auch eigene Erlebnisse deformiert. Um so überraschender ist die Bearbeitung, die das Zeugnis Krshishanowskis durch die Feder eines anderen alten Bolschewiken erfuhr, eines der Leiter der Parteigeschichtsschreibung: Sowie Wladimir zu dem Schluß kam, daß es „Keinen Gott gibt, riß er“ – nach den Worten Lepeschinskijs – „das Kreuz von seinem Hals, spuckte mit Verachtung auf die „heilige Reliquie“ und warf sie auf die Erde“. Man könnte noch weitere Varianten anführen, in denen beschrieben wird, wie Wladimir das Kreuz nicht nur wegwarf, sondern es auch „zerstampfte“. Die pädagogischen Motive der freien Umarbeitung des Textes hat am offensten von allen Lepeschinskij in der Zeitschrift der Jugend ausgesprochen: Mögen die Komsomolzen wissen, daß der junge Lenin sich von den religiösen Vorurteilen „auf seine Art, ganz auf Iljitsch-Art, revolutionär“ befreite. Manche Memoirenschreiber und Kommentatoren zeigen uns nicht so sehr Lenin in seinen jungen Jahren als vielmehr, leider, sich selbst am Ende ihrer Jahre.

Krupskaja, die Lenin das erstemal in derselben Zeit traf wie Krshishanowski und Lepeschinskij, teilte aus eigener Erinnerung über Religion und Kirche in bezug auf Lenin nichts mit. Nur ganz nebenbei und gemildert führt sie die Erzählung Krshishanowskis an: „Den Schaden der Religion“, schreibt sie in ihren bekannten „Erinnerungen“, „begriff Iljitsch schon als Fünfzehnjähriger. Er warf das Kreuz weg und ging nicht mehr in die Kirche. Damals war das nicht so einfach wie heute.“ Während die Krupskaja einerseits gewissermaßen versucht, Lenins allzu späten Bruch mit der Orthodoxie zu rechtfertigen, macht sie anderseits einen Fehler bei der Angabe des Alters: wenn sich die Sache in der fünften Klasse ereignete, dann war Wladimir nicht fünfzehn, sondern vierzehn Jahre alt. Alle diese nicht ganz übereinstimmenden Versionen werden unzähligemal reproduziert. In der uns beschäftigenden Frage gibt aber nicht nur unvergleichlich überzeugendere Zeugnisse, sondern auch ein absolut authentisches Dokument.

Anna Jelisarowa ist die einzige der noch lebenden Zeugen, die über die Entwicklung Wladimirs nicht auf Grund einer flüchtigen Phrase oder einer Unterhaltung aus späteren Zeiten, sondern aus eigener, lebendiger Beobachtung erzählen kann, im Zusammenhang mit der ganzen Situation in der Familie und folglich mit unvergleichlich größeren Garantien für die faktische und psychologische Glaubwürdigkeit. Eigentlich müßte man vor allem ihr Gehör schenken. Im Winter 1886 brachte der Verlust des Vaters Schwester und Bruder einander näher, und sie machten häufig gemeinsame Spaziergänge, wobei Anna auffiel, daß Wolodja „sehr oppositionell gestimmt war gegen die Gymnasialleitung, den Gymnasialunterricht und auch gegen die Religion ...“ Von einem angeblich auf den Mist geworfenen Kreuz sagte der Bruder nichts. Das Zeugnis der Jelisarowa werden wir auch noch später brauchen, wenn wir die politische Entwicklung Lenins beurteilen. Vorläufig genügt es, festzustellen, daß die Schwester erst an der Schwelle von Wladimirs siebzehntem Lebensjahr auf seine negative Einstellung zur Religion stößt als einen an ihm neuen Zug, der in ihrem Bericht sein Grollen über die Gymnasialbehörden ergänzt. Gewissermaßen wie zur Entschuldigung dieser nach späteren Maßstäben verzögerten Entwicklung schreibt die Jelisarowa: „Damals bezog die Jugend, besonders in der finsteren, vom gesellschaftlichen Leben isolierten Provinz, politisch nicht so früh Stellung.“ Neben dieser unschätzbaren Angabe Jelisarowas, auf deren Erinnerungen man sich in diesem Fall um so mehr verlassen kann, als ihr nach einigen Monaten der Trennung die Änderung der Stimmung und der Anschauungen des Bruders besonders auffallen mußte, besitzen wir noch ein, diesmal absolut unbestreitbares Zeugnis: das von Lenin selbst. In einem Parteifragebogen, der von ihm eigenhändig sorgfältig ausgefüllt ist, antwortet er auf die Frage: „Wann haben Sie aufgehört, religiös zu sein?“ – „Mit sechzehn Jahren.“ Lenin verstand es, exakt zu sein. Aber seine Angabe, die sich vollständig mit dem Zeugnis der älteren Schwester deckt, hat keinen Erfolg, weil sie offenbar für die Erziehung der Komsomolzen nicht geeignet ist.

Die Berufung Jelisarowas auf die verspätete politische Entwicklung in der finsteren Provinz ist nur zum Teil richtig und auf jeden Fall unzureichend. Wie sie selbst erzählt, war Sascha noch jünger, als er sich von der Kirche abwandte. Und dieser Unterschied hat nichts Rätselhaftes. Als Alexander da Gymnasium besuchte, beherrschte ein kämpferischer Atheismus unumstritten die fortschrittliche Intelligenz und bahnte sich sogar in die Reihen des Lehrpersonals im Gymnasium den Weg. In den achtziger Jahren dagegen kam der von oben her von Pobedonoszew eingetrichterten „religiös-moralischen Erleuchtung“ die ideelle Reaktion in der gebildeten Gesellschaft selbst entgegen. Aber man darf auch den Unterschied der individuellen psychischen Veranlagung nicht außer acht lassen. Der nach innen gewandte und gegenüber jeder Lüge äußerst empfindsame Alexander konnte und mußte früher zu kritischem und unzufriedenem Denken erwachen als der lebenslustige Wladimir, den der unbändige Ansturm der eigenen Krähe daran hinderte, vor der Zeit der Stimme des Zweifels Gehör zu schenken. In der Religiosität Wladimirs darf man am allerwenigsten irgendeine mystische Tiefe suchen. Die Bindung an die Kirche war für ihn ganz einfach ein wesentlicher Bestandteil des Familien- und Schulmilieus, in dem er schwamm wie der Fisch im Wasser, umgeben von Erfolgen, Spiel und Scherz. Er hatte in einem gewissen Sinn gar nicht Zeit, mit der religiösen Tradition abzurechnen. Es bedurfte eines starken äußeren Anstoßes, damit die innere Kritik, die schon eine Menge von halbbewußten Beobachtungen angehäuft hatte, plötzlich nach außen durchbrach. Ein solcher Anstoß mußte der Tod des Vaters sein, als er das erstemal einen Menschen sterben sah, und noch dazu einen nahen und geliebten Menschen.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008