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So wie die Freunde sprachen auch die anderen – darunter jene, die später seine erbitterten Feinde wurden – fast mit denselben Worten vom harmonischen und arbeitsamen Charakter der Familie Uljanow, von der Sauberkeit der inneren Beziehungen, von der heiteren und lebensfrohen Atmosphäre, die im Speisezimmer herrschte, wenn alle bei Tisch saßen. Das Fehlen von erniedrigender Not oder demoralisierendem Überfluß, das ständige lebendige Beispiel von Arbeit und Pflichtbewußtsein in Gestalt des Vaters, die aktive und zärtliche Fürsorge der Mutter, das allen gemeinsame Interesse für Literatur und Musik – das Zusammenwirken dieser Voraussetzungen war äußerst günstig für die Formung eines gesunden und gefestigten Charakters der Kinder.
Ilja Nikolajewitsch Uljanow, das Oberhaupt der Familie, stammte aus Kleinbürgerkreisen Astrachans. Im Kleinbürgerstand verkörperte sich die ganze kulturelle Misere der alten russischen Städte. Die aktiven und erfolgreichen Elemente des Standes beeilten sich, Kaufleute zu werden, oder sie fanden über die Schule Anschluß an die Bürokratie und erdienten sich den Adel. Wenn man von den Industriearbeitern absieht, die ihren Pässen nach weiter zu den Bauern und Kleinbürgern gerechnet wurden, obwohl sie weder das eine noch das andere waren, verblieb im Kleinbürgertum eine buntscheckige Menge von kleinen Leuten, soziale Splitter, armselige Handwerker, Händler am Rande des Pauperismus, Gemüsegärtner, angehende Schankwirte, Leute ohne bestimmte Beschäftigung, die sich in den Vorstädten eingenistet hatten und die sich recht und schlecht in der Gefolgschaft der adeligen Herren, der Beamten und Kaufleute ihr Brot erwarben. Womit sich der Kleinbürger Nikolaj Uljanow, der Großvater Lenins, beschäftigte, wissen wir nicht genau; nach manchen Mitteilungen war er Schneider und diente in irgendeinem Handelsunternehmen; auf jeden Fall hinterließ er der Familie keinerlei Vermögen. Aber das war offenbar eine ganz ungewöhnliche Kleinbürgerfamilie: Sie zeichnete sich aus durch ein außerordentlich hartnäckiges Streben nach Bildung. Nur der frühe Tod des Vaters, der dem ältesten Sohn die Sorge um die Familie aufbürdete, nötigte diesen, in privaten Dienst zu treten. Seinen Wunschtraum, zu studieren, übertrug er auf den Bruder, den damals siebenjährigen Ilja. Um den Preis beharrlicher Arbeit und ständiger Entbehrungen ermöglichte es der ältere Bruder dem das Astrachaner Gymnasium zu absolvieren; dann erhielt er ihn während des Universitätsstudiums so lange, bis Ilja auf eigenen Füßen stand. Dieser bewahrte sein ganzes Leben lang eine hingebungsvolle Dankbarkeit für den Bruder, der für ihn so unermeßliche Opfer gebracht hatte. Treue, Pflichtbewußtsein, Beharrlichkeit bei der Erreichung des gestellten Zieles – diese Eigenschaften finden wir nicht zufällig auf den ersten spärlichen Seiten, die die Vorfahren Lenins betreffen.
Ilja lernte fleißig und erfolgreich. 1850 inskribierte er an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Kasaner Universität beendete den Lehrgang „in den allgemeinen Fächern mit gutem, in den Spezialfächern mit ausgezeichnetem Erfolg“; zusätzliche Prüfungen erwarb er den Titel eines „rangälteren Gymnasiallehrers für Mathematik und Physik“. Der Lebensweg des jungen Mannes war vorgezeichnet. Sofort nach der Universität wurde der Lehrer am Adelsinstitut in Pensa, von wo er 1863 ans Gymnasium von Nishegorod versetzt wurde. Schon in Pensa hatte Ilja Nikolajewitsch in der Familie seines Berufskollegen Wereschnikow seine künftige Frau kennengelernt, Maria Alexandrowna Blank, die jüngere Schwester der Hausfrau. Die im Sommer 1863 gefeierte Hochzeit legte den Grundstein zu einer festen und glücklichen Familie.
Die Studentenjahre Ilja Nikolajewitschs fielen zusammen mit dem Ende der Regierung Nikolaus’ I. In dieser Zeit brachen für das verhaßte Regime die Jahre der Vergeltung an. Über die Niederlage im Krieg freuten sich sogar die gemäßigten Liberalen, um so mehr noch die radikale Intelligenz. Der Umschwung im inneren Leben des Landes war für die junge Generation eine große politische Schule. Niemand konnte in jenen Tagen gedankenlos an der Bauernfrage vorbeigehen. Zum erstenmal wurden offen Programme einer sozialen Umgestaltung diskutiert. Die Geschicke Rußlands wurden mit den Geschicken Westeuropas und Amerikas verglichen. Man war überzeugt, daß der Fortschritt von nun an nicht mehr aufzuhalten sei; daß das erwachte Volk rasch zur Befreiung aus Finsternis und Elend schreiten, daß die Intelligenz die Mission des Volksführers in Ehren erfüllen werde. Mit solchen oder ähnlichen großherzig verschwommenen Gedanken betrat der junge Pädagoge seinen Lebensweg.
Entsprechend seinen sozialen Wurzeln und der Zeit des geistigen Erwachens war Ilja Nikolajewitsch ein typischer Rasnotschinze der sechziger Jahre. Doch die politische Färbung dieser breiten und buntscheckigen Schicht war bei weitem nicht einheitlich. Nur eine Minderheit bemühte sich, ihre Gedanken über das Schicksal des Volkes in ein klar umrissenes System zu bringen; und nur der linke Flügel der Minderheit betrat wieder den Weg der revolutionären Aktion. Die überwältigende Mehrheit der Ramotschinzen begnügte sich in ihrer Jugend mit allgemeinen Idealen der Liebe zum Volk, um sie im Laufe ihrer weiteren Karriere gründlich zu vergessen. Woher hätte sonst die Regierung ihre Amtsvorsteher und Staatsanwälte, woher die wachsende Bourgeoisie ihre Advokaten und Ingenieure genommen? Sehr treffend ist daher der von irgendwem in Umlauf gesetzte Aphorismus: „Le russe est radical jusqu’à trente ans et après – canaille.“ Ilja Nikolajewitsch gehörte nicht dem revolutionären Flügel an; es besteht kein Anlaß zur Annahme, daß er sich ein einigermaßen abgerundetes System von gesellschaftlichen Anschauungen erarbeitet hätte; den elementaren Gedanken der Verpflichtung gegenüber dem Volk, der seiner Herkunft und seinem Charakter entsprach, machte er sich dafür ernst und fest für sein ganzes Leben zu eigen.
Zwei, drei seiner Gymnasialschüler, die später zu Ansehen gelangten, gedachten in der Presse mit Hochachtung des seiner Sache zutiefst ergebenen jungen Nishegoroder Mathematik- und Physiklehrers. Er stellte hohe Anforderungen an seine Schüler, noch höhere an sich selbst. Die zurückbleibenden Schüler bestellte er am Sonntag ins Gymnasium und gab ihnen unter Verzicht auf seinen freien Tag kostenlos Nachhilfestunden. Die bescheidene Arbeit eines Provinzlehrers versah er mit einer leidenschaftlichen und selbstlosen Energie, in der ein Element von Heroismus war.
Bei solcher Arbeit vergingen fast dreizehn Jahre, davon sechs Jahre des Familienlebens. Die Tochter Anna war fünf, der Sohn Alexander dreieinhalb Jahre alt, als im Leben der Familie eine Veränderung eintrat, die mit der Umwälzung im Leben des Landes zusammenhing. Die Reformen unter dem neuen Zaren erfaßten auch das Gebiet des Unterrichts. Es wurde ein Netz von Volksschulen gegründet, zum Teil vom Ministerium, hauptsächlich aber von den Semstwos. Den Schulen fehlte es an Regierungskontrolle und Leitung. Ilja Nikolajewitsch wurde der Posten eines Inspektors der Volksschulen des Simbirsker Gouvernements angeboten, das ungefähr eine Million Einwohner hatte. Die Ernennung annehmen bedeutete den Abschied von Physik und Mathematik nehmen, die er liebte; bedeutete Aufgabe der gewohnten Verhältnisse und persönlichen Beziehungen. Auf dem neuen Arbeitsgebiet erwartete ihn weniger pädagogische als administrative Arbeit in einem unbekannten Milieu und unter schwierigen Bedingungen; dafür erweiterte sich sein Wirkungsbereich und erstreckte sich nicht mehr nur auf Auserwählte wie im Gymnasium, sondern auf die Kinder des „wirklichen Volkes“, das heißt der Bauern. Möglich, daß auch das Gehalt höher sein würde als das eines Lehrers. Ilja Nikolajewitsch nahm ohne Zaudern an. Im September 1869 reiste die Familie wolgaabwärts von Nishegorod nach Simbirsk. Dort sollte sie, für fast zwei Jahrzehnte ansässig werden.
Der fünf Jahre vorher eingeführte Semstwo wurde in Simbirsk mehr als sonstwo zur Domäne der Adelssclique, Das Schulwesen wurde als eine Sache, die keinen Vorteil bringt, gewöhnlich irgendeinem Liberalen zugeschoben. In dem armen und unwegsamen Gouvernement mit seiner starken Beimischung von asiatischen Völkerschaften war es auch bei gutem Willen nicht leicht, den Wagen der Volksbildung über den toten Punkt hinauszubringen. Der erstmals ernannte Inspektor der Volksschulen fand in seinem Amtsbereich eine Wüste vor. Die radikale Presse jener Zeit führte das Beispiel eines russischen Kreises an, wo auf 180.000 Einwohner sechzehn Schulen und dreihundert Branntweinschenken kamen. Die kulturelle Statistik der meisten anderen Kreise des Landes zeigte kein besseres Bild. Nicht. ohne Grund schrieb der junge Publizist Schelgunow in der Anbruchszeit der Reformepoche aus der tiefsten Provinz seiner Frau: „Wildnis, Wildnis, Wildnis, Stagnation und Stumpfheit. Bei Gott, furchtbar.“ Die Bauern hatten gelernt, alles zu fürchten, was vom Staat kam: Gefängnisse, Spitälet und Schulen. Gebildete brauchten die Behörden, um das Volk zu unterdrücken. Manche Lehrer ließen sich von den Bauern dafür bezahlen, daß sie sich verpflichteten, die Schüler nicht von der Arbeit wegzuholen. Die erste Aufgabe des Inspektors war es, die offizielle Lüge zu beseitigen und die tatsächliche Situation bekanntzumachen. Anfangen mußte man fast bei Null neue Schulen bauen, die wenigen bestehenden umgestalten. Lehrer suchen, diese schulen und umschulen. Im Gouvernement gab es weder Eisenbahnen noch Chausseen. Dabei mußte man fast ununterbrochen unterwegs sein, im Fuhrwerk oder im Schlitten, zwischen entlegenen Siedlungen in Wald und Steppe, durch Schmutz und Schlamm und Schneesturm. Unentwegt mußte man Gespräche führen mit Vertretern der Landstände, mit Lehrern, bäuerlichen Gesellschaften und Beamten, sich aufregen, überzeugen, oft sich anpassen, manchmal drohen. In den siebzehn Jahren dieser Arbeit wurden im Gouvernement 450 Schulen gebaut; die Schülerzahl verdoppelte sich. Die an und für sich sehr bescheidenen Resultate waren letztlich der ungewöhnlichen Fähigkeit Ilja Nikolajewitschs zu danken, mit Leuten der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und von verschiedenstem Bildungsniveau umzugehen. Diese Fähigkeit, nur in neuen, unvorhergesehenen Proportionen, übertrug er auch auf seinen Sohn Wladimir.
Zu den Erinnerungen, die in den Jahren des Sowjetregimes über die Familie Uljanow geschrieben wurden, muß man sich mit einer gewissen Vorsicht verhalten: sogar ein gewissenhafter Autor ist, wie im weiteren ersichtlich sein wird, geneigt, bei den Eltern jene Züge zu entdecken, die der Gestalt des Sohnes entsprechen. Glücklicherweise besitzen wir sehr überzeugende Berichte, die zu einer Zeit veröffentlicht wurden, als Lenin noch ein Kind, ein junger Bursche, ein verfolgter Revolutionär war. Der Simbirsker Gutsbesitzer Nasarew, ein Mitarbeiter liberaler Publikationen, der seiner Natur nach zum Enthusiasmus neigte, sprach in einer seiner Arbeiten über den Inspektor Uljanow als eine „seltene, ungewöhnliche Erscheinung“, er schilderte mit großer Begeisterung die unermüdliche Hetzjagd Uljanows durch das Gouvernement, den Elementen und der Gleichgültigkeit der Menschen trotzend: „Eine solche Ausdauer und Kraft kann einzig und allein die grenzenlose, selbstvergessene Hingabe an die Sache verleihen.“ (Wjestnik Jewropy, 1876.) Frühzeitig anerkannte das Ministerium, daß die Energie des Simbirsker Inspektors „vollste Aufmerksamkeit verdient“. Eine im Jahre 1906 veröffentlichte Untersuchung über die Geschichte der Volksbildung vermerkt, daß unter den im Volksschulwesen des Simbirsker Gouvernements tätigen Persönlichkeiten „nach dem einmütigen Zeugnis der Zeitgenossen Ilja Nikolajewitsch Uljanow an erster Stelle steht“. Solche unvoreingenommene Zeugnisse können von keiner Seite angezweifelt werden.
Jenes Potential von gesellschaftlichem Idealismus, das die Epoche seiner Jugend Ilja Nikolajewitsch gegeben hatte, fand eine friedliche, wohlmeinende und zuverlässige Verwendung. Das seelische Gleichgewicht war gesichert. Man brauchte sich von nichts loszusagen. Im Gegenteil, auch jetzt noch, vor allem im Sommer, im Freien, auf dem Lande, liebte es Ilja Nikolajewitsch, ein Lied aus seinen Studentenjahren anzustimmen, dessen Text aus der Feder des von Nikolaus gehenkten Dekabristen Rylejew stammte: Den Schwur der Feindschaft gegen „die Geißeln des Heimatlandes“. Die erste Geißel war die Leibeigenschaft, sie war gefallen. Die zweite Geißel war die Unwissenheit des Volkes – gegen sie führte Ilja Nikolajewitsch jetzt mit allen Kräften Krieg. Über die dritte Geißel, den Absolutismus, zog der Inspektor der Volksschulen vor, nicht zu sprechen, ja nicht einmal daran zu denken. Er war ein fortschrittlich denkender Beamter, aber kein Revolutionär.
Seinem ganzen Wesen nach, in seinem Auftreten und in seinen Manieren, war IIja Nikolajewitsch alles andere als ein engstirniger Beamter. Im Gegenteil, er war außerordentlich menschlich: gesellig, aufmerksam, lachlustig. Während seiner endlosen Rundfahrten liebte er es, bei der Rast auf dem Gut eines liberalen Landwirts sich zu entspannen durch ein Gespräch über das Leben im Gouvernement, vor allem über das Schulwesen. Nach Hause brachte er frische pädagogische Anekdoten mit, an denen das Leben reich war. Gern erzählte er sie am Familientisch, mit dem ihm eigenen weichen Schnarren, lachte viel und mit Genuß, wobei er sich mit dem ganzen Körper zurücklehnte und ihm die Tränen in die kleinen, kalmückisch geschnittenen Augen traten. Wer Lenin gesehen, wer ihn reden und lachen gehört hat, der kann sich – zumindest in den charakteristischen Zügen – die Gestalt seines Vaters vorstellen: den niedrigen Wuchs, die Lebendigkeit und Elastizität der Bewegungen, die hervorstehenden Backenknochen, die zarte Haut und die frühzeitig entstandene Glatze. Nur der Körperbau des Sohnes war offenbar kräftiger, stämmiger als der des Vaters.
Im Jahre 1874 wurde Ilja Nikolajewitsch zum Direktor der Volksschulen ernannt. Unter seiner Leitung standen bereits mehrere Inspektoren. Nun war er eindeutig zu einer großen Erscheinung des Gouvernements geworden. Der Orden des heiligen Wladimir und der Rang eines Wirklichen Staatsrates brachten dem ehemaligen Kleinbürger den erblichen Adel. Während der unzähligen Verhöre bei der Polizei mußten seine Söhne und Töchter bis 1917 in die entsprechende Rubrik ihren Adelstitel eintragen. Dem Körperbau nach hatten weder er noch seine Familienmitglieder irgend etwas Aristokratisches; die breite Nase, die vorstehenden Backenknochen, die kurzfingrigen Hände bezeugten eindeutig die plebejische Herkunft. Doch hatte Ilja Nikolajewitsch nicht das geringste mit einem „geadelten Kleinbürger“ gemeinsam: der organische Demokratismus seiner Natur, Abscheu vor jeder Großtuerei, Einfachheit im Umgang mit Menschen waren seine besten Eigenschaften. Er übertrug sie auch voll und ganz auf seine Kinder.
Sein Einfluß auf die Kinder war überhaupt tief und fruchtbar. Gewiß, der Vater war den größten Teil seiner Zeit unterwegs, und die Familie sah ihn oft wochenlang nicht; aber auch seine Abwesenheit erhielt eine besondere Bedeutung, als würde sie ständig den Kindern einprägen: die Pflicht kommt vor allem anderen! Sein nie erkaltender Eifer für die Sache, dem Wesen und nicht der Form nach, seine Wahrheitsliebe und Aufgeschlossenheit reinigten das Bild des Vaters von den Zügen des Bürokratismus, die den Kindern vom Gymnasium her nur allzu gut bekannt waren. Seine Erzählungen am Familientisch über die Überwindung der Hindernisse auf dem Wege Volksbildung wurden vom Bewußtsein der Kinder gierig aufgenommen. Der Vater war die Verkörperung einer höheren Sache, die weit über den engen Interessen des Familienkreises stand. „Seine Autorität in der Familie“, schreibt seine älteste Tochter, „und die Liebe der Kinder zu ihm waren sehr groß.“ Maria Alexandrowna kam aus einer wohlhabenderen und kultivierteren Familie als ihr Mann. Ihr Vater, Arzt und Besitzer eines Gutes im Kasaner Gouvernement, hatte, nach dem Bericht der Enkelin, für die damalige Zeit recht fortschrittliche Anschauungen. Er trug den eindeutig nichtrussischen Familiennamen Blank – über seine Nationalität wissen wir leider nichts – und war mit einer Deutschen verheiratet, die die Kinder in deutschen Traditionen erzog. Die Familie lebte offenbar ständig auf dem Land, der Vater widmete sich aufmerksam der körperlichen Erziehung der Kinder, die Tochter Maria hatte eine gesunde Kindheit und eine durch keine Konflikte getrübte Jugend, kannte keine Nervosität und liebte das heimatliche Kokuschkino. Mit der Bildung stand es weniger gut. Pädagogische Erwägungen, vielleicht aber auch gewisse Vorurteile gestatteten es den Eltern nicht, die Tochter vom Land fortzulassen und in eine Internatsschule zu schicken. Zu den älteren Kindern ließ man Lehrer ins Haus kommen. Aber zu der Zeit, als Maria heranwuchs, verschlechterten sich die materiellen Verhältnisse der Familie; für Lehrer langte das Geld nicht mehr, und die jüngere Tochter erhielt eine sogenannte häusliche Erziehung wie viele Provinzfräulein zu jener Zeit: sie wurde unter Anleitung einer deutschen Tante in Sprachen und Musik unterwiesen, sonst aber sich selbst überlassen. Später, als sie die Studien und die Erfolge der eigenen Kinder beobachtete, sprach sie nicht selten davon, daß sie seinerzeit keine Möglichkeit hatte, selbst zu lernen.
Maria heiratete mit 28 Jahren; ihr Mann war um vier Jahre älter. Die gesellschaftliche Position IIja Nikolajewitschs war bescheiden, aber gesichert. Die Mitgift der Frau bestand aus dem fünften Teil des nicht großen väterlichen Besitzes. Grundlage der Ehe war wohl vor allem gegenseitige Zuneigung, wenn nicht ein leidenschaftliches Gefühl. Die sechziger Jahre, die im Zeichen der weiblichen Emanzipation standen, hatten der elterlichen Willkür in Herzensangelegenheiten der Kinder einen schweren Schlag versetzt. Außerdem war Ilja Nikolajewitsch unabhängig, und der Vater Maria Alexandrownas neigte zu fortschrittlichen Ideen.
Die ersten Jahre des Familienlebens in Nishegorod ließen sich sehr gut an; die Wohnung beim Gymnasium war für die alte russische Provinz recht gut eingerichtet; nebenan wohnten andere Lehrerfamilien; für die junge Frau fanden sich Freundinnen, mit denen man gemeinsam lesen und musizieren oder sich in Gesprächen zerstreuen konnte. Man erhielt die neuen Petersburger Zeitschriften, in denen der Herzschlag der damaligen Befreiungsbewegung zu spüren war. Ilja Nikolajewitsch verbrachte seine freien Stunden mit der Familie; an den Abenden las er manchmal vor: zu jener Zeit erschien gerade Tolstojs Krieg und Frieden in Fortsetzungen.
Mit der Übersiedlung nach Simbirsk, bei der Maria Alexandrowna den künftigen Wladimir unter dem Herzen trug, änderten sich die Lebensverhältnisse sehr. Die Stadt stand weit zurück hinter Nishegorod, das sich kulturell auch nicht gerade auszeichnete; man mußte eine Wohnung am äußersten Rand der „Krone“ beziehen, stand außerhalb der Gesellschaft, war ohne Freunde, ohne „eigenen Kreis“. Der aus dem Kleinbürgertum stammende Inspektor mit der halbdeutschen Frau konnte natürlich nicht „gleichberechtigt“ in die adelige Gesellschaft aufgenommen werden. Aber auch mit der kleinen Welt der Gouvernementsbürokratie, wo man sich mißmutig den Folgen der Reformepoche anpaßte, kamen die Beziehungen nicht richtig in Gang. Das pädagogische Milieu von Simbirsk war wohl der muffigste und modrigste Teil der Bürokratie. Schon die Tatsache; daß Uljanow eifrig an die Gründung von Schulen heranging, machte ihn zu einem Außenseiter im Kreise von bestechlichen Intriganten. Wegen seiner entgegenkommenden und einfachen Umfangsformen nannte man ihn in der Stadt einen „Liberalen“: in dieser Bezeichnung paarten sich Mißgunst und Ironie. Das Milieu der Kaufleute war äußerst roh und, auf seine Weise, nicht weniger exklusiv als das adelige. Anderseits konnte ein Regierungsbeamter, Familienvater und loyaler Bürger natürlich keine Verbindung mit den verdächtigen Kreisen der radikalen Intelligenz suchen.
Die Isolierung der Familie traf Maria Alexandrowna um so schwerer, als die neue Arbeit des Mannes ihn aus dem Hause führte. Das Leben der jungen Frau war zermürbend und eintönig, bis sie in der Sorge für die Kinder und die Wirtschaft aufging. Die Familie wuchs. Das bescheidene Gehalt des Mannes war die einzige Existenzgrundlage. Not gab es zwar nicht, aber jede Kopeke mußte wieder und wieder umgedreht werden. Die ihr von der deutschen Mutter eingeimpfte Sparsamkeit kam ihr sehr zustatten. Ilja Nikolajewitsch sagte später wiederholt den älteren Kindern, daß die Familie nur dank der umsichtig rechnenden Mutter irgendwie durchkommen konnte.
Die ersten Grundlagen des Wissens brachte Maria Alexandrowna den älteren Kindern bei. Aber der Unterricht erfolgte unvermeidlich in den kurzen Zeitspannen zwischen einer Unzahl anderer Beschäftigungen. 1873, als das fünfte Kind auf die Welt kam, wurde für die Kinder ein Lehrer aufgenommen, der auch an der Gemeindeschule unterrichtete. Dieser überlebte seine wichtigsten Schüler, Alexander und Wladimir, um vieles und veröffentlichte in der Folge lebendig geschriebene Erinnerungen an sie. Ilja Nikolajewitsch, dem in den Fragen der Erziehung das entscheidende Wort zukam, hielt es für notwendig, die Kinder so bald wie möglich ins Gymnasium zu schicken: als Beamter des Unterrichtsministeriums brauchte er an den staatlichen Schulen nichts zu zahlen, und außerdem fürchtete er den verzärtelnden Einfluß der Familie und bevorzugte die männliche Leitung, den geregelten Gang des Unterrichts und die Schuldisziplin.
Aus den Erinnerungen Annas, die voll töchterlicher Pietät sind, geht dennoch hervor, daß der Vater den individuellen Besonderheiten der Kinder nicht immer genügend Aufmerksamkeit schenkte und vielleicht durch allzu hohe Anforderungen sündigte, vor allem in bezug auf den älteren Sohn, der sich ohnehin selbst das Höchste abforderte. Der autoritäre Cha rakter des Vaters fand zusätzliche Nahrung in der Religion. Ilja Nikolajewitsch, ein Mathematiker und Physiker, der seine Dissertation über die Bestimmung der Umlaufbahn des Klin-kerfumeschen Kometen nach der Methode von Olbers verfaßt hatte, bewahrte sich in voller Unversehrtheit den orthodoxen Glauben der Astrachaner Kleinbürger und ging nicht nur pflichtgemäß als Beamter des Zaren, sondern aus innerer Überzeugung zum Abendgottesdienst, war also praktizierender Christ, fastete und kommunizierte.
Den größten Einfluß auf die Kinder hatte zweifellos die Mutter. Im Verlauf von vierzehn Jahren gebar sie siebenmal; eines der Kinder starb bald nach der Geburt, die anderen blieben am Leben, und jedes erforderte Pflege und Aufmerksamkeit. Die Mutter hatte anscheinend einen unerschöpflichen Born an Lebenskraft. Schwanger und gebärend, stillend, erziehend und wieder schwanger, immer in Arbeit, immer ruhig und ausgeglichen, fröhlich und freundlich, war sie ein wirkliches Vorbild einer Mutter, einer Mehrerin und Hüterin des Geschlechts. Die beiden älteren Kinder hatten nie ein Kindermädchen. Aber auch die übrigen stillte die Mutter selbst, war ihnen Spielkamerad, immer zugegen, Spenderin alles Guten, Quell aller Freuden, Wahrerin der Gerechtigkeit im Kinderzimmer. Die Tiefe ihres Einflusses war aber nicht nur durch ihre ständige Nähe bedingt, sondern auch durch den besonderen Reichtum ihrer Natur. Das wenige, was wir von den beiden wissen, erlaubt uns mit voller Überzeugung die Feststellung, daß die Mutter seelenvoller war als der Vater. Von ihr gingen jene unsichtbaren Strahlen aus, die die Kinderherzen erwärmen und ihnen einen zusätzlichen Vorrat an Wärme für das ganze Leben geben. Sie überschüttete sie nicht mit stürmischer Zärtlichkeit und mit Küssen, stieß sie aber auch nicht zurück und fiel nie über sie her. Von den ersten Tagen an umgab sie sie mit aufopfernder Liebe – ohne Verwöhnung und ohne Zänkerei. Nach vielen Jahrzehnten, als sie selbst schon eine alte Frau war, erinnerte sich die Tochter mit tiefer Zärtlichkeit an die mütterliche Musik und an „Reisen“ mit ihr auf Stühlen, die sich in der schöpferischen Phantasie der Beteiligten in Schlitten auf verschneiten Straßen verwandelten, die zwischen Tannen und Fichten dahinglitten.
Der ausgeglichene Charakter der Mutter wurzelte nicht in egoistischer Selbsterhaltung, wie es gelegentlich vorkommt, sondern im Gegenteil in warmherziger Selbstlosigkeit. Als Frau von tiefster Empfindsamkeit erlebte sie intensiv die seltenen Freuden, das häufige Leid und auch die kleinen alltäglichen Kränkungen. Doch eine besondere Schamhaftigkeit machte ihr heftige Gefühlsausbrüche unmöglich. Sie litt unter den Grausamkeiten des Lebens nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen, für den Mann fur die Kinder; und schon das allein erlaubte ihr nicht, sich zu entladen, sich gehenzulassen, Szenen zu machen, das heißt zu versuchen, einen Teil ihrer Leiden auf die andern, auf die Nächsten abzuladen. Ein unerschöpflicher Quell von Charakterstärke half ihr nach jedem neuen Schicksalsschlag – an denen es nicht mangelte -, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen und alle jene zu unterstützen, die der Unterstützung bedurften. Charakterliche Genialität, mit keinerlei zusätzlichen Gaben ausgestattet, ist für das unbeteiligte Auge unsichtbar, sie strahlt nur auf kurze Entfernung aus. Doch wenn es auf der Welt keine solchen verschwenderischen Frauennaturen gäbe, verdiente das Leben selbst nicht diesen Namen. Aktiven äußeren Ausdruck für ihre verborgenen Kräfte fand Maria Alexandrowna nur durch ihre Kinder. Ein knappes Jahr zu früh starb diese Frau, um den historischen Sieg ihres Sohnes zu erleben.
In einer nichtorthodoxen Familie geboren und aufgewachsen, hatte Maria Alexandrowna, wenngleich sie vollständig russifiziert war, zum Unterschied von ihrem Mann keine kirchlichen Traditionen, abgesehen von der deutschen Weihnachtstanne. Und sie zeichnete sich durchaus nicht durch Frömmigkeit aus: wie die Tochter erzählt, „besuchte sie ebenso selten die russische Kirche wie die deutsche“. Es ist nicht einmal ganz klar, ob sie Lutheranerin blieb oder bei der Verheiratung zur orthodoxen Kirche übertrat. Aber trotzdem brach Maria Alexandrowna nie mit der Religion und nahm in den schwersten Augenblicken mit der ganzen verborgenen Leidenschaftlichkeit ihrer Natur Zuflucht zu ihr. Als das Leben des gefährlich erkrankten vierjährigen Sohnes an einem Faden hing, flüsterte die von Kummer gepeinigte Mutter der sechsjährigen Tochter zu: „Bete für Sascha!“ und fiel selbst verzweifelt vor dem Heiligenbild in die Knie. Das Unglück verschonte sie dieses Mal. Sascha wurde gerettet, und die glückliche Mutter lehrte den gesundenden Knaben wieder gehen. Siebzehn Jahre später – wieviel Ängste, Mühen, Hoffnungen! – wiederholte die Mutter durch das Gitter des Petersburger Gefängnisses die beschwörende Bitte an die Tochter: „Bete für Sascha!“ Aber diesmal konnte es sich nur um die Rettung seiner Seele handeln, denn der Strick des Zaren hatte den geliebten ältesten Sohn, den Stolz und die Hoffnung der Familie, schon erwürgt.
Kapitel 3:
Der revolutionäre Weg der Intelligenz
Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008