MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki > Geschichte
Im vierten Monat seines Bestehens würgte das Februarregime bereits an seinen eigenen Widersprüchen. Der Juni begann mit dem Allrussischen Rätekongreß, der die Aufgabe hatte, politische Deckung für die Offensive an der Front zu schaffen. In Petrograd fiel der Beginn der Offensive mit einer grandiosen Demonstration der Arbeiter und Soldaten zusammen, die von den Versöhnlern gegen die Bolschewiki organisiert worden war, aber in eine bolschewistische Demonstration gegen die Versöhnler umschlug. Die wachsende Empörung der Massen rief zwei Wochen später eine neue Demonstration hervor, die, ohne Aufforderung von oben ausgebrochen, zu blutigen Zusammenstößen führte und unter dem Namen „Julitage“ in die Geschichte eingegangen ist. Der halbe Aufstand vom Juli, der genau in der Mitte zwischen Februar- und Oktoberrevolution liegt, schließt die erstere ab und ist gewissermaßen die Generalprobe zur zweiten. An der Schwelle der „Julitage“ beenden wir diesen Band. bevor wir aber zu den Ereignissen übergehen, deren Schauplatz Petrograd im Juni war, ist es notwendig, die Prozesse, die sich in den Massen vollzogen, zu untersuchen.
Einem Liberalen, der Anfang Mai behauptet hatte, daß je linker die Regierung, um so rechter das Land werde – unter Land verstand der Liberale selbstredend die besitzenden Klassen –, erwiderte Lenin: „Ich versichere Ihnen, Bürger, das „Land“ der Arbeiter und armen Bauern ist an die tausend Mai linker als die Tschernow und Zeretelli und an die hundert Mal linker als wir. Wenn Sie leben werden, werden Sie es sehen.“ Lenin war der Meinung, daß die Arbeiter und Bauern „an die hundert Mal“ linker waren als die Bolschewiki. Das konnte zumindest unbegründet erscheinen: die Arbeiter und Soldaten unterstützten doch noch die Versöhnler und hielten sich in ihrer Mehrheit von den Bolschewiki zurück. Lenin aber schürfte tiefer. Die sozialen Interessen der Massen, ihr Haß und ihre Hoffnungen suchten erst einen Ausdruck. Das Versöhnlertum war für sie die erste Etappe. Die Massen waren unermeßlich linker als die Tschernow und Zeretelli, aber ihres Radikalismus’ noch selbst nicht bewußt. Lenin hatte auch darin recht, daß die Massen linker waren als die Bolschewiki, denn in ihrer überwiegenden Mehrheit legte die Partei sich nicht Rechnung über die Wucht der revolutionären Leidenschaften ab, die in den Tiefen des erwachten Volkes brodelten. Die Empörung der Massen wurde durch die Verschleppung des Krieges, den Wirtschaftsverfall und die böswillige Untätigkeit der Regierung genährt.
Die unendliche europäisch-asiatische Ebene war nur dank den Eisenbahnen zu einem Lande geworden. Der Krieg hatte am allerschwersten diese getroffen. Der Transport verfiel immer mehr. Die Zahl der kranken Lokomotiven erreichte auf gewissen Strecken 50%. Im Hauptquartier wurden von gelehrten Ingenieuren Referate darüber gehalten, daß der Eisenbahntransport in spätestens einem halben Jahre den Zustand völliger Paralyse erreicht haben werde. Diese Berechnungen enthielten zu nicht geringem Teil die vorsätzliche Absicht, Panik zu säen. Immerhin hatte der Zerfall des Transportes bedrohliche Dimensionen erreicht, versperrte die Strecken, desorganisierte den Warenverkehr und schürte die Teuerung.
Immer schwieriger gestaltete sich die Verpflegung der Städte Die Agrarbewegung hatte bereits 43 Gouvernements erfaßt. Der Brotzustrom für Armee und Stadt verringerte sich katastrophal. In den fruchtbarsten Landgebieten gab es allerdings noch Dutzende und Hunderte Millionen Pud überflüssigen Getreides. Doch die Einkaufsoperationen zu festen Preisen ergaben äußerst unzureichende Resultate; selbst das bereitgestellte Getreide war infolge der Transportzerrüttung schwer in die Zentren zu schaffen. Seit Herbst 1916 erhielt die Front durchschnittlich nur die Hälfte der festgelegten Proviantfrachten. Auf Petrograd, Moskau und andere Industriezentren entfielen nicht mehr als 10% des Notwendigen. Vorräte gab es fast nicht. Das Lebensniveau der städtischen Massen schwankte zwischen Unterernährung und Hunger. Der Antritt der Koalitionsregierung tat sich durch das demokratische Verbot kund, Weißbrot zu backen. Mehrere Jahre werden nun vergehen, bis das „französische Brot“ wieder in der Hauptstadt auftaucht. Es fehlte Butter. Im Juni wurde der Zuckerverbrauch durch Rationierung im ganzen Lande eingeschränkt.
Der durch den Krieg zerschlagene Marktmechanismus war nicht durch jene staatliche Regulierung ersetzt worden, zu der die fortgeschrittensten kapitalistischen Staaten hatten Zuflucht nehmen müssen und die es allein Deutschland ermöglichte, die vier Kriegsjahre durchzuhalten.
Katastrophale Symptome des Wirtschaftszerfalls zeigten sich bei jedem Schritt. Das Sinken der Produktivität der Betriebe wurde hervorgerufen, abgesehen von der Transportzerrüttung, durch Abnutzung der Maschinen, Mangel an Rohstoffen und Hilfsmaterial, Fluktuation des Menschenbestandes, unregelmäßige Finanzierung und schließlich durch allgemeine Unsicherheit. In alter Weise arbeiteten die wesentlichsten Betriebe für den Krieg. Die Aufträge. waren für zwei, drei Jahre im voraus verteilt worden. Die Arbeiter indes wollten nicht an eine Fortdauer des Krieges glauben. Zeitungen brachten schwindelerregende Zahlen über Kriegsgewinne. Das Lehen verteuerte sich. Die Arbeiter erwarteten Änderungen. Das technische und administrative Betriebspersonal schloß sich in Verbänden zusammen und stellte seine Forderungen auf; in diesen Kreisen herrschten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Die Ordnung in den Betrieben ging in die Brüche. Alle Bande erschlafften. Die Perspektiven des Krieges und der Wirtschaft wurden nebelhaft, die Eigentumsrechte unsicher, die Gewinne sanken, die Gefahren stiegen, die Unternehmer verloren unter den Bedingungen der Revolution die Lust zur Produktion. In ihrer Gesamtheit beschritt die Bourgeoisie den Weg des ökonomischen Defätismus. Sie betrachtete die vorübergehenden Verluste und Nachteile durch die Wirtschaftsparalyse als Unkosten des Kampfes mit der Revolution, die die Grundlagen der „Kultur“ bedrohte. Gleichzeitig beschuldigte die wohlgesinnte Presse die Arbeiter tagein tagaus, sie sabotierten böswillig die Industrie, plünderten das Material, vergeudeten sinnlos den Heizstoff, um Stillegungen herbeizuführen. Die Lügenhaftigkeit der Beschuldigungen überstieg alle Grenzen. Und da es die Presse der Partei war, die faktisch an der Spitze der Koalitionsregierung stand, übertrug sich die Empörung der Arbeiter natürlich auf die Provisorische Regierung.
Die Industriellen hatten die Erfahrung der Revolution von 1905 nicht vergessen, wo die richtig organisierte Aussperrung bei aktiver Unterstützung der Regierung nicht nur den Kampf der Arbeiter um den Achtstundentag zum Scheitern gebracht, sondern auch der Monarchie bei der Niederschlagung der Revolution unschätzbare Dienste geleistet hatte. Die Frage der Aussperrung wurde auch diesmal im Rat der Tagungen von Handel und Industrie – diesen harmlosen Namen trug das Kampforgan des Trust- und Syndikatkapitals – zur Diskussion gestellt. Einer der Industrieführer, Ingenieur Auerbach, erklärte später in seinen Memoiren, weshalb der Aussperrungsgedanke abgelehnt worden war: „Das hätte den Schein eines Dolchstoßes in den Rücken der Armee gehabt ... Die meisten sahen die Folgen eines solchen Schrittes bei fehlender Unterstützung seitens der Regierung in recht düsteren Farben.“ Das ganze Unglück bestand im Fehlen einer „richtigen“ Macht. Die Provisorische Regierung war durch die Sowjets, die vernünftigen Sowjetführer durch die Massen paralysiert; die Arbeiter in den Betrieben waren bewaffnet; außerdem hatte fast jede Fabrik in der Nachbarschaft ein befreundetes Regiment oder Bataillon. Unter solchen Bedingungen schien den Herren Industriellen die Aussperrung in „nationaler Beziehung odiös“. Doch verzichteten sie keinesfalls auf den Angriff, sondern paßten ihn nur den Umständen an, indem sie ihm nicht einen zeitlich-einheitlichen, sondern einen schleichenden Charakter verliehen. Nach Auerbachs diplomatischem Ausdruck kamen die Industriellen „schließlich zu dem Ergebnis, daß der Anschauungsunterricht vom Leben selber erteilt werden wird: durch die unvermeidliche, sukzessive Schließung der Fabriken, sozusagen nacheinander – was man tatsächlich bald beobachten konnte“. Mit anderen Worten, indem der Rat der vereinigten Industriellen die Aussperrung, weil „mit riesiger Verantwortung“ verbunden, ablehnte, empfahl er seinen Mitgliedern, die Betriebe unter passenden Vorwänden einzeln zu schließen.
Der Plan der schleichenden Aussperrung wurde mit bemerkenswerter Systematik durchgeführt. Die Vertreter des Kapitals, wie der Kadett Kutler, ehemals Minister im Kabinett Witte, hielten eindrucksvolle Referate über die Vernichtung der Industrie, wobei sie die Schuld nicht den drei Kriegsjahren, sondern den drei Revolutionsmonaten zuschoben. „Es werden zwei, drei Wochen vergehen“, prophezeite der ungeduldige Rjetsch, „und die Fabriken und Werkstätten werden eine nach der anderen zu schließen beginnen.“ Hier war eine Drohung in die Form der Prophezeiung gehüllt Ingenieure, Professoren und Journalisten eröffneten in der allgemeinen Presse wie in den Fachorganen eine Kampagne, bei der die Zügelung der Arbeiter als Vorbedingung der Rettung dargestellt wurde. Der Minister Konowalow, Industrieller, erklärte am 17. Mai, dem Vorabend seines demonstrativen Austritts aus der Regierung: „Wenn in der allernächsten Zeit nicht eine Ernüchterung der benebelten Köpfe stattfinden wird, werden wir Zeugen dutzender und hunderter Betriebsschließungen sein.“
Mitte Juni fordert die Tagung für Handel und Industrie von der Provisorischen Regierung „radikalen Bruch mit dem System der Weitertreibung der Revolution“. Wir haben die Forderung schon seitens der Generale gehört: „Stellt die Revolution ein.“ Die Industriellen aber präzisieren die Frage: „Die Wurzel des Übels liegt nicht nur bei den Bolschewiki, sondern auch bei den sozialistischen Parteien. Nur eine feste, eiserne Hand kann Rußland retten.“
Nachdem sie die politische Situation vorbereitet hatten, gingen die Industriellen vom Wort zur Tat über. Im März und April wurden 129 kleinere Unternehmen mit 9.000 Arbeitern geschlossen; im Mai 108 Unternehmen mit der gleichen Arbeiterzahl; im Juni bereits 125 Unternehmen mit 38.000 Arbeitern; im Juli werfen 206 Unternehmen 48.000 Arbeiter auf die Straße. Die Aussperrung entwickelt sich in geometrischer Progression. Aber das war erst der Anfang. Das Textilmoskau folgte Petrograd; die Provinz Moskau. Die Unternehmer beriefen sich auf den Mangel an Brennstoff, Rohmaterial und Krediten. Die Betriebskomitees griffen ein und stellten in vielen Fällen böswillige Desorganisierung der Produktion zum Zwecke eines Druckes auf die Arbeiter oder der Erpressung von Staatssubsidien unbestritten fest. Besonders unverschämt benahmen sich die ausländischen Kapitalisten, die durch Vermittlung ihrer Gesandtschaften vorgingen. In einigen Fällen war die Sabotage so offensichtlich, daß die Industriellen infolge der Enthüllungen der Betriebskomitees gezwungen wurden, die Fabriken wieder zu öffnen. So gelangte die Revolution, indem sie einen sozialen Widerspruch nach dem anderen aufdeckte, bald zu dem wichtigsten: dem zwischen Gesellschaftscharakter der Produktion und Privatbesitz an den Produktionsmitteln. Im Interesse des Sieges über die Arbeiter schließt der Unternehmer die Fabrik, als handele es sich um seine Tabaksdose, nicht aber um ein für das Leben der gesamten Nation notwendiges Unternehmen. Die Banken, die erfolgreich die Freiheitsanleihe boykottierten, stellten sich in Kampfposition gegen die Attentate des Fiskus auf das Großkapital. In einem an den Finanzminister gerichteten Brief „prophezeiten“ die Bankiers für den Fall radikaler Finanzreformen den Kapitalabfluß ins Ausland und die Abwanderung der Devisen in die Safes. Mit anderen Worten, die Bankpatrioten drohten mit finanzieller Aussperrung als Ergänzung zur industriellen. Die Regierung zog sich eiligst aus dem Spiel: waren doch die Organisatoren der Sabotage solide Männer, die wegen Krieg und Revolution Kapital riskieren mußten, nicht aber irgendwelche Kronstädter Matrosen, die außer ihren eigenen Köpfen nichts zu riskieren hatten.
Das Exekutivkomitee mußte einsehen, daß die Verantwortung für die ökonomischen Geschicke des Landes, besonders nach dem offenen Anschluß der Sozialisten an die Macht, in den Augen der Massen auf der regierenden Sowjetmacht ruhte. Die Wirtschaftsabteilung des Exekutivkomitees arbeitete ein weitgehendes Programm der staatlichen Regulierung des Wirtschaftslebens aus. Unter dem Druck der bedrohlichen Lage erwiesen sich die Vorschläge der sehr gemäßigten Ökonomisten weit radikaler als ihre Autoren. „Für gewisse Industriezweige“, lautete das Programm „ist die Zeit für ein staatliches Handelsmonopol (Brot, Fleisch, Salz, Leder) reif; die anderen sind reif für die Bildung staatlich regulierter Trusts (Kohle, Petroleum, Metall, Zucker, Papier), und schließlich erfordern unter den heutigen Verhältnissen fast sämtliche Industriezweige die regulierende Beteiligung des Staates an der Verteilung des Rohstoffes und der zu bearbeitenden Produkte wie auch an der Preisfixierung ... Gleichzeitig ist erforderlich, alle Kreditinstitutionen unter Kontrolle zu stellen.“
Bei der Kopflosigkeit der politischen Führer nahm das Exekutivkomitee am i6. Mai die Vorschläge seiner Ökonomisten fast ohne Diskussion an und bekräftigte sie durch eine eigenartige Warnung an die Adresse der Regierung: sie müsse „die Aufgabe der planmäßigen Organisierung der Volkswirtschaft und der Arbeit“ übernehmen, in Erinnerung daran, daß infolge der Nichterfüllung dieser Aufgabe „das alte Regime fallen und die Provisorische Regierung umgebildet werden mußte“. Um sich Mut zu machen, machten die Versöhnler sich Angst.
„Das Programm ist großartig“, schrieb Lenin, „sowohl Kontrolle wie Verstaatlichung der Trusts, wie Bekämpfung der Spekulation, wie Arbeitspflicht ... Man ist gezwungen, sich zum Programm des „schrecklichen“ Bolschewismus zu bekennen, denn es kann kein anderes Programm, keinen Ausweg aus der tatsächlich drohenden schrecklichen Katastrophe geben ...“ Die Frage war nur, wer dies großartige Programm verwirklichen sollte? Vielleicht die Koalition? Die Antwort erfolgte unverzüglich. Am Tage nach der Annahme des ökonomischen Programms durch das Exekutivkomitee demissionierte, die Türe laut hinter sich zuschlagend, der Minister für Handel und Industrie, Konowalow. Ihn ersetzte vorübergehend der Ingenieur Paltschinski, ein nicht weniger getreuer, doch energischerer Vertreter des Großkapitals. Die Ministersozialisten wagten nicht einmal, ihren liberalen Kollegen das Programm des Exekutivkomitees ernstlich vorzuschlagen. Hatte doch Tschernow vergeblich versucht, das Verbot von Landverkäufen bei der Regierung durchzusetzen!
In Beantwortung der wachsenden Schwierigkeiten stellte die Regierung ihrerseits ein Programm zur Entlastung Petrograds auf, das heißt, Fabriken und Werkstätten ins Innere des Landes zu verlegen. Das Programm wurde sowohl mit militärischen Erwägungen – der Gefahr der Besetzung der Hauptstadt durch die Deutschen – wie mit ökonomischen – der großen Entfernung Petrograds von den Brenn- und Rohstoffquellen – begründet. Die Entlastung hätte die Liquidierung der Petrograder Industrie für eine Reihe von Monaten und Jahren bedeutet. Der politische Zweck bestand darin, die Avantgarde der Arbeiterklasse über das ganze Land zu zerstreuen. Parallel damit erfand die Militärbehörde Vorwand auf Vorwand für die Entfernung der revolutionären Truppenteile aus Petrograd.
Paltschinski bemühte sich aus allen Kräften, die Arbeitersektion des Sowjets von den Vorzügen der Entlastung zu überzeugen. Diese Aufgabe ohne oder gegen die Arbeiter zu verwirklichen, war unmöglich; die Arbeiter aber willigten nicht ein. Die Entlastung kam ebensowenig vorwärts wie die Regulierung der Industrie. Der Zerfall vertiefte sich, die Preise stiegen, die stille Aussperrung verbreiterte sich und gleichzeitig damit die Arbeitslosigkeit. Die Regierung kam nicht vom Fleck. Miljukow schrieb später: „Das Ministerium schwamm einfach mit dem Strom, der Strom aber führte in das bolschewistische Bett.“ Ja, der Strom führte in das bolschewistische Bett.
Das Proletariat war die hauptsächliche Triebkraft der Revolution. Gleichzeitig formte die Revolution das Proletariat. Das aber brauchte es sehr notwendig.
Vor uns hat sich die entscheidende Rolle der Petrograder Arbeiter in den Februartagen abgespielt. Die stärksten Kampfpositionen nahmen die Bolschewiki ein. Nach der Umwälzung jedoch rücken sie plötzlich irgendwohin in den Hintergrund. Die politische Rampe besetzen die Versöhnlerparteien. Sie übergeben die Macht der liberalen Bourgeoisie. Das Banner des Blocks ist der Patriotismus. Sein Druck ist so stark, daß die Führung der bolschewistischen Partei, mindestens zur Hälfte, vor ihm kapituliert Mit der Ankunft Lenins ändert sich der Kurs der Partei schroff, und gleichzeitig wächst ihr Einfluß schnell. In der bewaffneten Aprildemonstration versuchen bereits die fortgeschrittenen Abteilungen der Arbeiter und Soldaten, die Ketten des Versöhnlertums zu sprengen. Doch nach der ersten Anstrengung ziehen sie sich zurück. Die Versöhnler bleiben am Steuer.
Später, nach der Oktoberumwälzung, wurde nicht wenig über das Thema geschrieben, die Bolschewiki verdankten ihren Sieg der kriegsmüden Bauernarmee. Das ist eine sehr oberflächliche Erklärung. Die entgegengesetzte Behauptung käme der Wahrheit näher: wenn die Versöhnler in der Februarrevolution den vorherrschenden Platz einzunehmen vermochten, so vor allem dank der besonderen Stellung, die die Bauernarmee im Leben des Landes innehatte. Würde sich die Revolution in Friedenszeiten entwickelt haben, die führende Rolle des Proletariats hätte von Anfang an einen krasser ausgesprochenen Charakter erhalten. Ohne Krieg wäre der revolutionäre Sieg später gekommen und, sieht man von den Kriegsopfern ab, teurer erkauft worden. Doch für die Überschwemmung mit Versöhnler- und Patriotenstimmungen hätte er keinen Platz übriggelassen. Die russischen Marxisten, die die Eroberung der Macht durch das Proletariat im Verlaufe der bürgerlichen Revolution lange vor den Ereignissen vorausgesagt hatten, waren jedenfalls nicht von vorübergehenden Stimmungen der Bauernarmee, sondern von der Klassenstruktur der russischen Gesellschaft ausgegangen. Diese Prognose hatte sich restlos bestätigt. Nur erlitt das grundlegende Klassenverhältnis eine Brechung durch den Krieg und verschob sich vorübergehend unter dem Druck der Armee, das heißt, der Organisation deklassierter und bewaffneter Bauern. Gerade diese künstliche soziale Formation hatte die Positionen des kleinbürgerlichen Versöhnlertums außerordentlich gefestigt und ihm die Möglichkeit zu acht Monate währenden Experimenten geschaffen, die Land und Revolution schwächten.
Die Frage nach den Wurzeln des Versöhnlertums ist jedoch nicht mit dem Hinweis auf die Bauernarmee erschöpfend beantwortet. Im Proletariat selbst, in seiner Zusammensetzung, seinem politischen Niveau, muß man die ergänzenden Ursachen der vorübergehenden Übermacht der Menschewiki und Sozialrevolutionäre suchen. Der Krieg hatte ungeheure Veränderungen in die Zusammensetzung und Stimmung der Arbeiterklasse hineingebracht. Waren die vorangegangenen Jahre eine Zeit steigender revolutionärer Brandung, so hatte der Krieg diesen Prozeß jäh unterbrochen. Die Mobilisierung war nicht nur unter militärischem, sondern in erster Linie polizeilichem Gesichtspunkte ausgedacht und durchgeführt worden. Die Regierung hatte sich beeilt, die industriellen Bezirke von der aktivsten und unruhigsten Arbeiterschicht zu säubern. Man kann als feststehend betrachten, daß die Mobilisierung in den ersten Kriegsmonaten bis zu 40% hauptsächlich qualifizierter Arbeiter der Industrie entriß. Ihr Fehlen beeinflußte den Gang der Produktion sehr stark und rief um so leidenschaftlichere Proteste bei den Industriellen hervor, je höhere Gewinne die Kriegsindustrie eintrug. Der weiteren Vernichtung der Arbeiterkader wurde Einhalt getan. Von der Industrie benötigte Arbeiter stellte man als Kriegsdienstpflichtige zurück. Die durch die Mobilisierung entstandene Bresche ersetzte man durch Zugewanderte aus dem Dorfe, städtisches Kleinvolk, wenig qualifizierte Arbeiter, Frauen, Halbwüchsige. Der Prozentsatz der Frauen in der Industrie stieg von 32 auf 40.
Der Erneuerungs- und Verdünnungsprozeß des Proletariats vollzog sich gerade in der Hauptstadt in besonderem Ausmaße. In den Kriegsjahren von 1914-1917 stieg die Zahl der Großbetriebe mit über 500 Arbeitern im Petrograder Gouvernement fast um das Doppelte. Infolge der Liquidierung der Fabriken und Werkstätten in Polen und besonders im Baltikum, hauptsächlich jedoch infolge der allgemeinen Zunahme der Kriegsindustrie, waren in Petrograd um 1917 in den Fabriken etwa 400.000 Arbeiter konzentriert. Davon entfielen 335.000 auf 140 Großbetriebe. Die kampffähigsten Elemente des Petrograder Proletariats haben an der Front bei Herausbildung der revolutionären Stimmung in der Armee keine geringe Rolle gespielt. Doch die sie ersetzenden gestrigen Dörfler, häufig wohlhabende Bauern und Krämer, die sich in der Fabrik vor der Front drückten, ferner die Frauen und Jugendlichen waren viel zahmer als die Kaderarbeiter. Es muß noch hinzugefügt werden, daß die qualifizierten Arbeiter, in die Lage von Kriegsdienstpflichtigen geraten – und solcher gab es Hunderttausende –, wegen der Gefahr, an die Front geworfen zu werden, äußerste Vorsicht übten. Dies ist die soziale Basis der patriotischen Stimmungen, die einen Teil der Arbeiter noch unter dem Zaren erfaßt hatte.
Doch war dieser Patriotismus ohne Beständigkeit. Erbarmungsloser militärisch-polizeilicher Druck, verdoppelte Ausbeutung, Niederlagen an der Front und Zerrüttung der Wirtschaft stießen die Arbeiter in den Kampf. Aber während des Krieges trugen die Streiks hauptsächlich ökonomischen Charakter und zeichneten sich durch größere Mäßigkeit als vor dem Kriege aus. Die Schwächung der Klasse verschlimmerte sich noch durch die Schwächung ihrer Partei. Nach der Verhaftung und Verbannung der bolschewistischen Deputierten wurde mit Hilfe einer im voraus vorbereiteten Provokateurhierarchie die Zerstörung der bolschewistischen Organisationen vorgenommen, von der die Partei sich bis zur Februarumwälzung nicht zu erholen vermochte. Während der Jahre 1915 und 1916 mußte die verdünnte Arbeiterklasse die Elementarschule des Kampfes durchmachen, bevor die ökonomischen Teilstreiks und Demonstrationen hungernder Frauen im Februar 1917 in einen Generalstreik münden und die Armee in den Aufstand hineinziehen konnten.
Auf diese Weise ging das Petrograder Proletariat in die Februarrevolution nicht nur in einer äußerst verschiedenartigen, noch nicht amalgamierten Zusammensetzung hinein, sondern auch mit einem herabgeminderten politischen Niveau, sogar seiner fortgeschrittensten Schichten. In der Provinz stand die Sache noch schlimmer. Nur dieser durch den Krieg verursachte Rückfall in politischen Analphabetismus und Halbanalphabetismus des Proletariats schuf die zweite Bedingung für die vorübergehende Herrschaft der Versöhnlerparteien.
Eine Revolution lehrt, und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte den Massen etwas Neues. Jeder zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar – der Aufstand. Ende April – Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd! Anfang Juli – ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren Parolen. Ende August – der Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen. Ende Oktober – Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe, molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile der Arbeiterklasse in ein politisches Ganzes verschmolzen. Die entscheidende Rolle spielte dabei wiederum der Streik.
Eingeschüchtert vom Donner der Revolution, der mitten in das Bacchanal von Kriegsgewinnen eingeschlagen hatte, ließen sich die Industriellen in den ersten Wochen auf Zugeständnisse an die Arbeiter ein. Die Petrograder Fabrikbesitzer erklärten sich sogar unter Vorbehalten und Einschränkungen mit dem Achtstundentag einverstanden. Doch brachte das keine Beruhigung, da das Lebensniveau unablässig sank. Im Mai war das Exekutivkomitee gezwungen, festzustellen, daß die Lage der Arbeiter bei der wachsenden Teuerung „für viele Kategorien an chronischen Hunger grenzt“. In den Arbeitervierteln wurde die Stimmung nervöser und gespannter. Am meisten bedrückte das Fehlen einer Perspektive. Die Massen sind schwerste Entbehrungen zu tragen imstande, wenn sie wissen, wofür. Das neue Regime enthüllte sich ihnen aber immer mehr als Verschleierung der alten Verhältnisse, gegen die sie sich im Februar erhoben hatten. Dies wollten sie nicht dulden.
Besonders stürmischen Charakter nehmen die Streiks unter den rückständigsten und ausgebeutetsten Arbeiterschichten an. Waschfrauen, Anstreicher, Böttcher, Handelsangestellte, Bauarbeiter, Sattler, Maler, Tagelöhner, Schuhmacher, Papparbeiter, Wurstmacher, Schreiner streiken Schlag Aufschlag während des ganzen Juni. Die Metallarbeiter dagegen beginnen, eine bremsende Haltung einzunehmen. Die fortgeschrittenen Arbeiter kamen immer mehr zu der Einsicht, daß ökonomische Teilstreiks unter den Bedingungen von Krieg, Wirtschaftszerfall und Inflation keine ernstliche Besserung bringen können, daß irgendwelche Veränderungen der Grundlagen selbst notwendig sind. Die Aussperrung machte die Arbeiter nicht nur für die Forderung der Kontrolle über die Industrie empfänglich, sondern brachte sie auch auf den Gedanken von der Notwendigkeit der Übernahme der Fabriken in Staatshände. Diese Schlußfolgerung erschien um so natürlicher, als die Mehrzahl der Privatbetriebe für den Krieg arbeitete und daneben bereits Staatsunternehmen solcher Art existierten. Schon im Sommer 1917 kommen aus allen Enden Rußlands Arbeiter- und Angestelltendelegationen in die Hauptstadt mit Gesuchen um Übernahme von Betrieben durch den Fiskus, da die Aktionäre die Zahlungen eingestellt hatten. Die Regierung wollte jedoch nichts davon hören. Folglich mußte man die Regierung auswechseln. Die Versöhnler wirkten dem entgegen. Die Arbeiter machten Front gegen die Versöhnler.
Das Putilow-Werk mit seinen 40.000 Arbeitern schien in den ersten Revolutionsmonaten die Feste der Sozialrevolutionäre zu sein. Doch hielt seine Garnison den Bolschewiki nicht lange stand. An der Spitze der Angreifer konnte man am häufigsten Wolodarski sehen. Früher Schneider, Jude, der viele Jahre in Amerika verbracht und die englische Sprache gut erlernt hatte, war Wolodarski ein glänzender Massenredner, logisch, schlagfertig und kühn. Die amerikanische Betonung machte seine klangvolle Stimme, die in vieltausendköpfigen Versammlungen klar ertönte, eigenartig ausdrucksvoll. „Mit seinem Erscheinen im Narwski-Bezirk“, erzählt der Arbeiter Minitschew, „begann im Putilow-Werk der Boden unter den Füßen der Herren Sozialrevolutionäre zu schwanken, und nach kaum zwei Monaten gingen die Putilow-Arbeiter mit den Bolschewiki.“
Das Anwachsen der Streiks und des Klassenkampfes überhaupt steigerte fast automatisch den Einfluß der Bolschewiki. In allen Fällen, wo es sieh um Lebensinteressen handelte, mußten sich die Arbeiter überzeugen, daß die Bolschewiki keine Hintergedanken hatten, nichts verheimlichten und daß man sich auf sie verlassen konnte. In Stunden der Konflikte strebten alle Arbeiter, Parteilose, Sozialrevolutionäre, Menschewiki, den Bolschewiki zu. Dies erklärt jene Tatsache, daß die Betriebskomitees, die den Kampf für die Existenz ihrer Betriebe gegen die Sabotage der Administration und der Besitzer führten, lange vor dem Sowjet zu den Bolschewiki übergegangen waren. Auf der Konferenz der Betriebskomitees von Petrograd und Umgebung stimmten Anfang Juni von 421 Delegierten 335 für die bolschewistische Resolution. Diese Tatsache blieb von der großen Presse ganz unbemerkt. Indes bedeutete sie, daß das Petrograder Proletariat, bevor es noch mit den Versöhnlern gebrochen hatte, in allen Kernfragen des ökonomischen Lebens faktisch auf die Seite der Bolschewiki übergegangen war.
Auf der Junikonferenz der Gewerkschaften wurde festgestellt, daß es in Petrograd über fünfzig Gewerkschaftsverbände mit einer Gesamtzahl von mindestens 250.000 Mitgliedern gab. Der Metallarbeiterverband zählte annähernd 100.000 Arbeiter. Im Laufe des einen Monats Mai hatte sich seine Mitgliederzahl verdoppelt. Noch schneller wuchs der Einfluß der Bolschewiki in den Gewerkschaften.
Alle partiellen Neuwahlen in die Sowjets brachten den Bolschewiki Siege. Am 1. Juni waren im Moskauer Sowjet bereits 206 Bolschewiki gegen 172 Menschewiki und 110 Sozialrevolutionäre. Die gleichen Verschiebungen, wenn auch langsamer, vollzogen sich in der Provinz. Die Zahl der Parteimitglieder stieg ununterbrochen. Ende April zählte die Petrograder Organisation etwa 15.000 Mitglieder, Ende Juni über 32.000.
Die Arbeitersektion des Petrograder Sowjet besaß zu dieser Zeit bereits eine bolschewistische Mehrheit. Jedoch bei den vereinigten Sitzungen beider Sektionen erdrückten die Soldatendeputierten die Bolschewiki. Die Prawda forderte immer dringlicher allgemeine Neuwahlen: „500.000 Petrograder Arbeiter haben im Sowjet nur ein Viertel soviel Vertreter wie 150.000 Soldaten der Petrograder Garnison.“
Auf dem Rätekongreß im Juni forderte Lenin ernste Maßnahmen gegen die Aussperrung, Ausplünderung und die planmäßige Zersetzung des Wirtschaftslebens seitens der Industriellen und Bankiers. „Veröffentlicht die Gewinne der Herren Kapitalisten, verhaftet fünfzig oder hundert der reichsten Millionäre. Es genügt, sie einige Wochen in Haft zu halten – und sei es auch unter ebensolchen Vergünstigungen, wie sie Nikolai Romanow genießt –, mit dem einfachen Zwecke, sie zu zwingen, die Fäden, die Betrugsmanöver, den Schmutz und Eigennutz aufzudecken, die auch unter der neuen Regierung unser Land Millionen kosten.“ Lenins Vorschlag erschien den Sowjetführern ungeheuerlich. „Ist es denn möglich, mit Hilfe von Gewalt an einzelnen Kapitalisten die Gesetze des ökonomischen Lebens zu ändern?“ Der Umstand, daß die Industriellen mit Hilfe einer Verschwörung gegen die Nation ihre Gesetze diktierten, schien sie nicht zu stören. Kerenski, der Lenin mit polternder Empörung überfiel, hatte vor einem Monat nicht davor zurückgescheut, viele Tausende Arbeiter zu verhaften, die über die „Gesetze des ökonomischen Lebens“ anderer Meinung waren als die Industriellen.
Die Verbindung zwischen Ökonomik und Politik kam immer stärker zum Vorschein. Der Staat, der als mystisches Prinzip aufzutreten gewohnt war, wirkte jetzt immer häufiger in seiner primitivsten Form, das heißt in Gestalt von Abteilungen bewaffneter Menschen. Unternehmer, die sich weigerten, Zugeständnisse zu machen oder auch nur in Verhandlungen einzutreten, wurden von den Arbeitern an verschiedenen Orten des Landes bald gewaltsamer Vorführung vor den Sowjet, bald dem Hausarrest unterworfen. Es ist nicht verwunderlich, daß die Arbeitermiliz zum Gegenstand besonderen Hasses der besitzenden Klassen wurde.
Der ursprüngliche Beschluß des Exekutivkomitees über die Bewaffnung von zehn Prozent der Arbeiter war nicht erfüllt worden. Aber es gelang den Arbeitern dennoch, sich teilweise zu bewaffnen, wobei die aktivsten Elemente die Reihen der Miliz füllten. Die Leitung der Arbeitermiliz konzentrierte sich in den Händen der Betriebskomitees, und die Leitung der Betriebskomitees ging immer mehr in die Hände der Bolschewiki über. Ein Arbeiter der Moskauer Fabrik „Postawschtschik“ erzählt: „Am 1. Juni, gleich nachdem das neue Betriebskomitee, in der Mehrzahl aus Bolschewiki bestehend, gewählt war, wurde eine Abteilung von 80 Mann formiert, die unter Leitung eines alten Soldaten, des Genossen Lewakow, mangels Waffen mit Stöcken ausgebildet wurde.“
Die Presse beschuldigte die Miliz der Gewaltakte, Requisitionen und ungesetzlicher Verhaftungen. Zweifellos wandte die Miliz Gewalt an: gerade dazu war sie ja gebildet worden. Ihr Verbrechen jedoch bestand darin, daß sie Gewalt gegen Vertreter jener Klasse anwandte, die nicht gewohnt war und sich nicht gewöhnen wollte, Objekt der Gewalt zu sein.
Auf dem Putilow-Werk, das im Kampfe um die Erhöhung des Arbeitslohnes die Führerrolle spielte, versammelte sich am 23. Juni eine Konferenz unter Beteiligung von Vertretern des Zentralsowjets der Betriebskomitees, des Zentralbüros der Gewerkschaften und 73 Fabriken. Unter dem Einfluß der Bolschewiki nahm die Konferenz eine Resolution an, wonach der Streik des Betriebes unter den gegebenen Verhältnissen zu einem „unorganisierten politischen Kampf der Petrograder Arbeiter“ führen könne, und schlug deshalb den Putilow-Arbeitern vor, „ihre berechtigte Empörung zurückzuhalten“ und sich auf ein allgemeines Hervortreten vorzubereiten.
Am Vorabend dieser wichtigen Konferenz warnte die bolschewistische Fraktion das Exekutivkomitee: „Eine vierzigtausendköpfige Masse ... kann jeden Tag in den Streik treten und auf die Straße gehen. Sie wäre bereits auf die Straße gegangen, wenn unsere Partei sie nicht davon zurückgehalten hätte, wobei keine Garantie besteht, daß es auch fernerhin gelingen wird, sie zurückzuhalten. Das Hervortreten der Putilow-Arbeiter würde unvermeidlich – daran kann kein Zweifel bestehen –, das Hervortreten der Mehrheit der Arbeiter und Soldaten zur Folge haben.“
Die Führer des Exekutivkomitees betrachteten solche Warnungen als Demagogie oder überhörten sie einfach; sie wollten in ihrer Ruhe nicht gestört werden. Sie selbst hatten fast völlig aufgehört, Fabriken und Kasernen zu besuchen, da die Arbeiter und Soldaten in ihnen nur noch feindselige Gestalten erblickten. Nur die Bolschewiki genossen jene Autorität, die ihnen gestattete, die Arbeiter und Soldaten von zersplitterten Aktionen zurückzuhalten. Doch die Ungeduld der Massen wandte sich manchmal auch schon gegen die Bolschewiki.
In den Fabriken und in der Flotte tauchten Anarchisten auf. Wie immer angesichts großer Ereignisse und großer Massen, enthüllten sie ihre organische Unzulänglichkeit. Sie konnten um so leichter die Staatsmacht verneinen, da sie die Bedeutung der Sowjets als Organe des neuen Staates ganz und gar nicht begriffen. Übrigens schwiegen sie sich, von der Revolution betäubt, zumeist über die Staatsfrage einfach aus. Ihre Selbständigkeit offenbarten sie hauptsächlich auf dem Gebiet kleiner Raketenschüsse. Die ökonomische Sackgasse und die wachsende Erbitterung der Petrograder Arbeiter verschafften den Anarchisten einige Stützpunkte. Unfähig, ernsthaft das Kräfteverhältnis im Staatsmaßstabe einzuschätzen, bereit, jeden Stoß von unten als den letzten rettenden Schlag zu betrachten, beschuldigten sie häufig die Bolschewiki der Zaghaftigkeit und sogar des Versöhnlertums. Doch über Murren gingen sie gewöhnlich nicht hinaus. Der Widerhall der Massen auf die anarchistischen Aktionen diente den Bolschewiki mitunter als Gradmesser des Kräftedrucks des revolutionären Dampfes.
Die Matrosen, die Lenin auf dem Finnländischen Bahnhof einen Empfang bereitet hatten, erklärten zwei Wochen später unter dem patriotischen Ansturm, der von allen Seiten auf sie eindrang: „Hätten wir gewußt ... auf welchem Wege er zu uns gelangt ist, es wären anstatt begeisterter „Hurra“-Schreie unsere empörten Rufe ertönt: „Nieder! Zurück in das Land, durch das du zu uns gekommen bist“ ...“ Die Soldatensowjets in der Krim drohten einer nach dem anderen, das Eindringen Lenins auf die patriotische Halbinsel, wohin zu reisen er gar nicht beabsichtigte, mit bewaffneter Hand zu verhindern. Das Wolynski-Regiment, der Koryphäe des 27. Februar, beschloß sogar in der Erregung, Lenin zu verhaften, so daß das Exekutivkomitee sich veranlaßt fühlte, Maßnahmen dagegen zu treffen. Stimmungen dieser Art hatten sich bis zur Junioffensive nicht restlos verloren, und ihre Rückfälle flammten nach den Julitagen grell auf Gleichzeitig redeten die Soldaten der entlegensten Garnisonen und der fernsten Frontabschnitte immer kühner in der Sprache des Bolschewismus; zumeist, ohne es zu ahnen. Es gab bei den Regimentern nur vereinzelte Bolschewiki, doch die bolschewistischen Losungen drangen immer tiefer ein. Gleichsam von selbst erstanden sie in allen Teilen des Landes. Die liberalen Beobachter sahen darin nichts als Unbildung und Chaos. Die Rjetsch schrieb: „Unsere Heimat verwandelt sich buchstäblich in irgendein Irrenhaus, wo Besessene das Heft und das Kommando in der Hand halten, Menschen aber, die den Verstand nicht verloren haben, treten erschrocken beiseite und drücken sich an die Wände.“ Mit genau den gleichen Worten haben die „Gemäßigten“ aller Revolutionen ihre Seele erleichtert. Die Versöhnlerpresse tröstete sich damit, daß die Soldaten, trotz aller Mißverständnisse, von den Bolschewiki nichts wissen wollten. Indes bildete der unbewußte Bolschewismus der Massen, die Logik der Entwicklung widerspiegelnd, die unverbrüchliche Kraft der Leninschen Partei.
Der Soldat Pirejko erzählt, bei den Wahlen an der Front seien nach dreitägigen Diskussionen nur Sozialrevolutionäre zum Rätekongreß durchgekommen, die Soldatendeputierten hätten aber trotz der Proteste der Führer gleichzeitig eine Resolution angenommen über die Notwendigkeit, den gutsherrlichen Boden zu enteignen, ohne die Konstituierende Versammlung abzuwarten. „Überhaupt waren die Soldaten in Fragen, die sie begreifen konnten, linker gestimmt als die radikalsten der radikalen Bolschewiki.“ Dasselbe meinte auch Lenin, als er sagte, die Massen seien „an die hundert Mal linker als wir“.
Der Schreiber einer Motorradwerkstatt irgendwo im Taurischen Gouvernement erzählt, daß die Soldaten häufig nach der Lektüre der bürgerlichen Zeitungen auf die unbekannten Bolschewiki schimpften und gleich danach zu Diskussionen über die Notwendigkeit des Kriegsabbruchs und die Wegnahme des gutsherrlichen Bodens übergingen. Das waren die gleichen Patrioten, die geschworen hatten, Lenin nicht in die Krim zu lassen.
Die Soldaten der riesigen Hinterlandgarnisonen waren ruhelos. Die große Anhäufung feiernder, ungeduldig die Änderung ihres Schicksals erwartender Menschen erzeugte eine Nervosität, die sich in der ständigen Bereitschaft, ihre Unzufriedenheit auf die Straße zu tragen, in massenweisem Herumfahren in den Straßenbahnen und in epidemischem Knabbern von Sonnenblumenkernen äußerte. Der Soldat mit umgehängtem Mantel und den Schalen von Sonnenblumenkernen auf den Lippen wurde zur verhaßtesten Gestalt der bürgerlichen Presse. Er, den man während des Krieges so grob umschmeichelt und immer nur Held genannt hatte – was nicht hinderte, an der Front den Helden auszupeitschen –, er, den man nach der Februarumwälzung als Befreier verherrlichte, war plötzlich Drückeberger, Verräter, Gewalttäter und deutscher Mietling. Es gab tatsächlich keine Gemeinheit, die die patriotische Presse den russischen Soldaten und Matrosen nicht zugeschrieben hätte.
Das Exekutivkomitee tat nichts anderes als sich rechtfertigen, gegen Anarchie kämpfen, Exzesse löschen, verängstigte Anfragen und Moralpredigten verschicken. Der Sowjetvorsitzende in Zarizyn – diese Stadt galt als das Nest des „Anarchobolschewismus“ – beantwortete die Frage des Zentrums über die Lage mit dem lapidaren Satz: „Je linker die Garnison wird, um so rechter wird der Bürger.“ Die Zarizyner Formel ließ sich auf das ganze Land anwenden. Der Soldat wird linker, der Bourgeois rechter.
Jeden Soldaten, der mutiger als die anderen äußerte, was alle fühlten, schalt man so lange von oben Bolschewik, bis er es schließlich selbst glauben mußte. Von Frieden und Land wandte sich der Gedanke des Soldaten der Frage der Macht zu. Der Widerhall auf verschiedene Losungen des Bolschewismus verwandelte sich in bewußte Sympathie für die bolschewistische Partei. Im Wolynski-Regiment, das sich im April angeschickt hatte, Lenin zu verhaften, schlug die Stimmung zwei Monate später zugunsten der Bolschewiki um. Desgleichen in dem Jäger- und dem Litauer-Regiment. Die lettischen Schützen waren vom Selbstherrschertum ins Leben gerufen worden, um den Haß der Parzellenbauern und Landarbeiter gegen die livländischen Barone auszunutzen. Die Regimenter schlugen sich ausgezeichnet. Aber der Geist der Klassenfeindschaft, auf den sich die Monarchie stützen wollte, bahnte sich eigene Wege. Die lettischen Schützen waren unter den ersten, die mit der Monarchie gebrochen hatten und später mit den Versöhnlern. Schon am 17. Mai schlossen sich die Vertreter acht lettischer Regimenter der bolschewistischen Losung „Alle Macht den Sowjets“ an. Im weiteren Verlauf der Revolution werden sie noch eine große Rolle spielen.
Ein unbekannter Soldat schreibt von der Front: „Heute, am 13. Juni, hielt unser Kommando eine kleine Versammlung ab, und man sprach über Lenin und Kerenski: die Soldaten sind meistens für Lenin, aber die Offiziere sagen, daß Lenin selbst ein Bourgeois ist.“ Nach der Katastrophe der Offensive wurde Kerenskis Name in der Armee völlig verhaßt.
Am 21. Juni marschierten durch die Straßen Peterhofs Junker mit Bannern und Plakaten: „Nieder mit den Spionen“, „Hoch Kerenski und Brussilow.“ Die Junker waren selbstredend für Brussilow. Die Soldaten des 4. Bataillons überfielen die Junker, verprügelten sie und zerstreuten die Demonstration. Den stärksten Haß rief das Plakat zu Ehren Kerenskis hervor.
Die Junioffensive hatte die politische Evolution der Armee außerordentlich beschleunigt. Die Popularität der Bolschewiki, der einzigen Partei, die im voraus die Stimme gegen die Offensive erhoben hatte, war in rapidem Steigen begriffen. Allerdings fanden die bolschewistischen Zeitungen nur unter großen Schwierigkeiten Eingang bei der Armee. Ihre Auflage war sehr gering im Vergleich mit den Auflagen der liberalen und überhaupt der patriotischen Presse. „... Nirgendwo ist auch nur eine eurer Zeitungen zu sehen“, schreibt eine rauhe Soldatenhand nach Moskau, „es kommen nur Gerüchte von eurer Zeitung zu uns. Wir werden hier kostenlos mit bürgerlichen Zeitungen überschüttet, man trägt sie an der Front paketweise herum.“ Aber gerade die patriotische Presse schuf den Bolschewiki eine unvergleichliche Popularität. Alle Rufe der Unterdrückten nach Landaneignung, nach Abrechnung mit den verhaßten Offizieren schrieben die Zeitungen den Bolschewiki zu. Die Soldaten zogen die Schlußfolgerung: die Bolschewiki sind ein gerechtes Volk.
Anfang Juli berichtete der Kommissar der 12. Armee an Kerenski über die Stimmung der Soldaten: „Als Endresultat wird alles auf die Bourgeois-Minister und den Sowjet, der sich den Bourgeois verkauft habe, geschoben. Aber im allgemeinen herrscht in der großen Masse undurchdringliche Finsternis; ich muß leider feststellen, daß in der letzten Zeit sogar Zeitungen schwach gelesen werden, absolutes Mißtrauen zum gedruckten Wort: „süß schreiben sie“, „um den Mund gehen sie“ ... In den ersten Monaten waren die Berichte der patriotischen Kommissare gewöhnlich Hymnen auf die revolutionäre Armee, ihre Aufgeklärtheit und Disziplin. Als aber nach vier Monaten fortdauernder Enttäuschungen die Armee das Vertrauen zu den Regierungsrednern und Zeitungsschreibern verloren hatte, entdeckten die gleichen Kommissare in ihr undurchdringliche Finsternis.
Je linker die Garnison wird, um so rechter wird der Bürger. Unter dem Anstoß der Offensive entstanden in Petrograd konterrevolutionäre Verbände wie Pilze nach dem Regen. Sie wählten sich Namen, einen klangvoller als den anderen: Bund der Heimatehre, Bund der Kriegspflicht, Freiheitsbataillon, Organisierung des Geistes, und so weiter. Diese großartigen Schilder deckten Ambitionen und Ansprüche des Adels, des Offiziersstandes, der Bürokratie, der Bourgeoisie. Einige dieser Organisationen, wie die Kriegsliga, der Bund der Kavaliere des Georgskreuzes oder die Freiwilligen-Division, bildeten fertige Zellen militärischer Verschwörung. Indem sie als glühende Patrioten auftraten, öffneten die Ritter der „Ehre“ und des „Geistes“ nicht nur mit Leichtigkeit die Türen der alliierten Missionen, sondern erhielten mitunter auch Regierungssubsidien, die seinerzeit dem Sowjet als einer „Privatorganisation“ abgelehnt worden waren.
Ein Sprößling der Familie des Zeitungsmagnaten Suworin ging inzwischen an die Herausgabe der Kleinen Zeitung, die als das Organ des „unabhängigen Sozialismus“ eiserne Diktatur predigte und als Kandidaten den Admiral Koltschak empfahl. Die solidere Presse sorgte, ohne den letzten Punkt auf das I zu setzen, auf jede Weise für die Popularität Koltschaks. Das weitere Schicksal des Admirals beweist, daß es sich schon seit dem Frühsommer 1917 um einen großangelegten Plan in Verbindung mit seinem Namen handelte und daß hinter Suworin einflußreiche Kreise standen.
Der einfachsten taktischen Berechnung gehorchend, gab sich die Reaktion, rechnet man vereinzelte Schnitzer ab, den Anschein, als richte sie ihre Schläge ausschließlich gegen die Leninisten. Das Wort „Bolschewik“ wurde das Synonym für alles höllischen Ursprungs. Wie die zaristischen Kommandeure vor der Revolution die Verantwortung für alle Mißgeschicke, darunter auch für die eigene Dummheit, auf deutsche Spione und besonders auf die Juden abwälzten, so wurde jetzt, nach dem Zusammenbruch der Junioffensive, die Schuld für alle Mißerfolge und Niederlagen auf die Bolschewiki geschoben. Darin unterschieden sich die Demokraten vorn Typ Kerenskis und Zeretellis fast nicht von den Liberalen vom Typ Miljukows und den offenen Leibeigenschaftsanhängern von der Art des Generals Denikin.
Wie immer, wenn die Widersprüche bis zum äußersten gespannt sind, der Moment der Explosion jedoch noch nicht gekommen ist, zeigte sich die politische Kräftegruppierung unverhüllter und krasser nicht an grundlegenden, sondern an zufälligen und nebensächlichen Fragen. Als einer der Blitzableiter der politischen Leidenschaften diente in jenen Wochen Kronstadt. Die alte Festung, die der treueste Wachtposten am Seetore der kaiserlichen Hauptstadt sein sollte, hatte in der Vergangenheit mehr als einmal das Banner des Aufstandes erhoben. Trotz der unbarmherzigen Strafen erlosch in Kronstadt die Flamme des Aufruhrs nie. Sie entbrannte bedrohlich nach der Umwälzung. Der Name der Seefestung wurde in den Spalten der patriotischen Presse bald das Synonym für die schlechtesten Seiten der Revolution, das heißt für Bolschewismus. In Wirklichkeit war der Kronstädter Sowjet noch nicht bolschewistisch: im Mai setzte er sich aus 107 Bolschewiki, 112 Sozialrevolutionären, 30 Menschewiki und 97 Parteilosen zusammen. Allerdings waren es Kronstädter Sozialrevolutionäre und Kronstädter Parteilose, die unter hohem Druck lebten: in ihrer Mehrzahl gingen sie in wichtigen Fragen mit den Bolschewiki.
Auf dem Gebiete der Politik neigten die Kronstädter Matrosen weder zu Manövern noch zu Diplomatie. Sie hatten eine eigene Regel: gesagt – getan. Es ist darum nicht verwunderlich, daß sie in bezug auf die gespensterhafte Regierung für vereinfachte Aktionsmethoden waren. Am 13. Mai bestimmte der Sowjet: „Die einzige Macht in Kronstadt bildet der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten.“
Die Entfernung des Regierungskommissars, des Kadetten Pepelajew, der die Rolle eines fünften Rades am Wagen spielte, vollzog sich in der Festung vollkommen unbeachtet. Musterhafte Ordnung blieb bewahrt. In der Stadt wurde das Kartenspiel verboten, die Spelunken geschlossen oder ausgehoben. Unter Strafe der „Konfiszierung des Eigentums und der sofortigen Abschiebung zur Front“ verbot der Sowjet, in betrunkenem Zustande auf der Straße zu erscheinen. Diese Strafe wurde mehrmals angewandt.
Unter dem schrecklichen Regime der zaristischen Flotte und der Seefestung gestählt, an schwere Arbeit, an Opfer, aber auch an Exzesse gewöhnt, spannten die Matrosen jetzt, wo sich vor ihnen der Vorhang eines neuen Lebens geöffnet hatte, in dem sie sich als die zukünftigen Herren fühlten, alle ihre Kräfte an, um sich der Revolution würdig zu erweisen. Gierig stürzten sie sich in Petrograd auf Freunde und Gegner und schleppten sie fast gewaltsam nach Kronstadt, um ihnen zu zeigen, wie revolutionäre Seeleute in Wirklichkeit sind. Eine solche moralische Anspannung konnte selbstverständlich nicht ewig dauern, aber sie reichte für lange Zeit. Die Kronstädter Seeleute verwandelten sich in eine Art Kampforden der Revolution. Aber welcher? Jedenfalls nicht jener, die Minister Zeretelli mit seinem Kommissar Pepelajew verkörperte. Kronstadt stand da wie ein Verkünder der heranrückenden zweiten Revolution. Deshalb wurde es von all jenen gehaßt, die übergenug an der ersten hatten.
Die friedliche und unauffällige Absetzung Pepelajews schilderte die Ordnungspresse fast wie einen bewaffneten Aufstand gegen die Staatseinheit. Die Regierung beschwerte sich beim Sowjet. Der Sowjet entsandte sofort zur Beeinflussung der Matrosen eine Delegation. Knarrend kam die Maschine der Doppelherrschaft in Bewegung. Unter Teilnahme von Zeretelli und Skobeljew erklärte sich der Kronstädter Sowjet am 24. Mai auf Drängen der Bolschewiki bereit, anzuerkennen, daß er, den Kampf um die Sowjetmacht fortsetzend, praktisch verpflichtet sei, sich der Provisorischen Regierung zu fügen, solange die Sowjetmacht nicht im ganzen Lande errichtet sei. Aber bereits am nächsten Tage erklärte der Sowjet unter dem Druck der über diese Nachgiebigkeit empörten Matrosen, daß den Ministern nur eine „Erläuterung“ des Standpunktes Kronstadts, der unabänderlich bleibe, gegeben worden sei. Das war ein offensichtlich taktischer Fehler, hinter dem sich jedoch nichts anderes als revolutionäre Ambition verbarg.
Die Spitzen beschlossen, den Glücksfall auszunutzen, den Kronstädtern eine Lektion zu erteilen und sie gleichzeitig für die früheren Sünden büßen zu lassen. Als Ankläger trat selbstverständlich Zeretelli auf. Mit pathetischer Berufung auf seine eigenen Gefängnisse zeterte er besonders deshalb gegen die Kronstädter, weil sie in den Festungskasematten 80 Offiziere festhielten. Die ganze wohlgesinnte Presse stimmte ihm bei. Jedoch mußten auch die Versöhnler–, das heißt die Ministerzeitungen zugeben, daß es sich „um richtige Staatsschatzräuber“ handle und um „Menschen, die das Faustrecht bis zum Entsetzen ausgeübt hatten“ ... Selbst nach den Iswestja (Mitteilungen), dem Offiziosus Zeretellis, machten als Zeugen vernommene Matrosen „Angaben über die Unterdrückung des Aufstandes von 1906 (durch die verhafteten Offiziere), über Massenerschießungen, über mit Leichen Hingerichteter vollgepfropfte und ins Meer versenkte Schaluppen und über andere Greuel ... sie berichteten das so einfach, als handelte es sich um die geläufigsten Dinge“.
Die Kronstädter weigerten sich hartnäckig, die Verhafteten einer Regierung auszuliefern, der die Henker und Staatsschatzräuber von adligem Stande viel näher waren als die im Jahre 1906 und in anderen Jahren zu Tode gequälten Matrosen. Nicht zufällig befreite der Justizminister Perewersew, den Suchanow milde „eine der verdächtigsten Gestalten der Koalitionsregierung“ nennt, systematisch die niederträchtigsten Vertreter der zaristischen Gendarmerie aus der Peter-Paul-Festung. Die demokratischen Parvenüs waren hauptsächlich bemüht, von der reaktionären Bürokratie als edelmütig anerkannt zu werden.
Die Anklagen Zeretellis beantworteten die Kronstädter in ihrem Aufruf: „Die in den Tagen der Revolution von uns verhafteten Offiziere, Gendarmen und Polizisten haben den Regierungsvertretern selbst erklärt, daß sie sich über die Behandlung durch die Gefängnisaufsicht nicht zu beklagen haben. Allerdings sind die Gefängnisgebäude in Kronstadt schrecklich. Es sind aber die gleichen Gefängnisse, die der Zarismus für uns erbaut hat. Andere haben wir nicht. Und wenn wir die Feinde des Volkes in diesen Gefängnissen festhalten, so nicht aus Rache, sondern aus Erwägungen revolutionärer Selbsterhaltung.“
Am 27. Mai saß der Petrograder Sowjet über die Kronstädter zu Gericht. In einer Rede zu ihrer Verteidigung wies Trotzki Zeretelli warnend daraufhin, daß im Falle der Gefahr, das heißt, „wenn ein konterrevolutionärer General versuchen wird, der Revolution die Schlinge um den Hals zu werfen, die Kadetten den Strick, einseifen, während die Kronstädter Matrosen zur Stelle sein werden, um gemeinsam mit uns zu kämpfen und zu sterben“. Diese warnende Voraussage sollte sich nach drei Monaten mit überraschender Genauigkeit verwirklichen: als General Kornilow den Aufstand entfesselte und Truppen gegen die Hauptstadt heranführte, riefen Kerenski, Zeretelli und Skobeljew zum Schutz des Winterpalais die Kronstädter Matrosen herbei. Doch was folgt daraus? Im Juni verteidigten die Herren Demokraten die Ordnung gegen Anarchie; keine Argumente und Warnungen hatten da Macht über sie. Mit einer Mehrheit von 580 gegen 162 Stimmen, bei 74 Stimmenthaltungen, setzte Zeretelli im Petrograder Sowjet die Resolution durch, die den Abfall des „anarchistischen“ Kronstadts von der revolutionären Demokratie verkündete. Sobald das ungeduldig wartende Mariinski-Palais von der Annahme der Lossagungsbulle benachrichtigt worden war, unterbrach die Regierung unverzüglich die telephonische Verbindung zwischen Hauptstadt und Festung für den Privatverkehr, um dem bolschewistischen Zentrum die Beeinflussung der Kronstädter unmöglich zu machen, befahl gleichzeitig, sofort alle Lehrschiffe aus Kronstadt zu entfernen und verlangte vom Sowjet „unbedingten Gehorsam“. Der zur gleichen Zeit tagende Kongreß der Bauerndeputierten versuchte es mit der Drohung, „den Kronstädtern die Bedarfsprodukte zu verweigern“. Die hinter dem Rücken der Versöhnler lauernde Reaktion suchte eine entscheidende und nach Möglichkeit blutige Lösung.
„Der übereilte Schritt des Kronstädter Sowjets“, schreibt ein junger Historiker, Jugow, „konnte unerwünschte Folgen heraufbeschwören. Man mußte aus der entstandenen Lage einen passenden Ausweg finden. Zu eben diesem Zwecke reiste Trotzki nach Kronstadt, wo er im Sowjet auftrat und eine Deklaration verfaßte, die vom Sowjet und später, von Trotzki eingebracht, vom Meeting auf dem Ankerplatz einstimmig angenommen wurde.“ Die Kronstädter wahrten ihre prinzipielle Position und gaben in praktischen Fragen nach.
Die friedliche Beilegung des Konfliktes brachte die bürgerliche Presse ganz außer Rand und Band: in der Festung herrsche Anarchie, die Kronstädter druckten eigenes Geld – phantastische Abbildungen wurden in den Zeitungen reproduziert –, Staatsgut werde gestohlen, Frauen vergesellschaftet, Plünderungen und Trinker-Orgien veranstaltet. Die Seeleute, auf ihre strenge Ordnung stolz, ballten die schwieligen Fäuste beim Lesen der Zeitungen, die in Millionen Exemplaren die Verleumdungen gegen sie über ganz Rußland verbreiteten.
Perewersews Gerichtsorgane entließen die ihnen übergebenen Kronstädter Offiziere einen nach dem anderen. Es wäre sehr lehrreich, festzustellen, wer von den Freigelassenen später am Bürgerkrieg teilnahm und wie viele Matrosen, Soldaten, Arbeiter und Bauern von ihnen erschossen und aufgehängt wurden. Leider sind wir nicht in der Lage, diese lehrreiche Statistik hier aufzustellen.
Die Autorität der Regierung war gerettet. Doch erhielten die Matrosen bald Genugtuung für die erlittenen Kränkungen. Von allen Enden des Landes trafen Begrüßungsresolutionen an das rote Kronstadt ein: von einzelnen linkeren Sowjets, von Betrieben, Regimentern, Meetings. Das erste Maschinengewehrregiment demonstrierte in den Straßen Petrograds in voller Stärke seine Achtung für die Kronstädter, „für ihre standhafte Position des Mißtrauens gegen die Provisorische Regierung“.
Kronstadt aber bereitete sich auf ernsthaftere Revanche vor. Die Hetze der bürgerlichen Presse machte es zu einem Faktor von gesamtstaatlicher Bedeutung. „In Kronstadt sich verschanzend“, schreibt Miljukow, „warf der Bolschewismus mit Hilfe sachgemäß ausgebildeter Agitatoren seine Propagandahetze weit über Rußland aus. Kronstädter Emissäre wurden auch an die Front geschickt, wo sie die Disziplin untergruben, in die Etappe und aufs Land, wo sie Pogrome gegen die Güter anzettelten. Der Kronstädter Sowjet versah die Emissäre mit besonderen Legitimationen: „N.N. wird in das ... Gouvernement geschickt, um an den Sitzungen der Kreis-, Bezirks- und Dorfkomitees mit beschließender Stimme teilzunehmen, wie auch Meetings zu besuchen und solche an beliebigem Ort nach eigenem Ermessen einzuberufen“, mit „dem Recht des Waffentragens und freier und unentgeltlicher Fahrt auf allen Eisenbahnen und Dampfern“. Wobei die „Unantastbarkeit der Person des bezeichneten Agitators vom Sowjet der Stadt Kronstadt garantiert wird“.“
Indem er die Wühlarbeit der baltischen Seeleute entlarvt, vergißt Miljukow nur, zu erklären, wie und weshalb es kommen konnte, daß einzelne Matrosen, ausgerüstet mit dem seltsamen Mandat des Kronstädter Sowjets, trotz des Vorhandenseins allweiser Behörden, Institutionen und Zeitungen unbehelligt im ganzen Lande herumreisten, allerorts Tisch und Herd fanden, zu jeglichen Volksversammlungen zugelassen, überall aufmerksam angehört wurden und den historischen Ereignissen den Stempel der Matrosenhand aufdrückten. Der die liberale Politik bedienende Historiker stellt sich diese einfache Frage erst gar nicht. Indes war das Kronstädter Wunder nur deshalb denkbar, weil die Matrosen viel tiefer die Bedürfnisse der historischen Entwicklung ausdrückten als die sehr gescheiten Professoren. Das halbanalphabetische Mandat erwies sich, um mit Hegel zu sprechen, wirksam, weil es vernünftig war. Die subjektiv klügsten Pläne dagegen erwiesen sich als illusorisch, denn die Vernunft der Geschichte hatte in ihnen auch nicht einmal übernachtet.
Die Sowjets blieben hinter den Betriebskomitees zurück. Die Betriebskomitees hinter den Massen. Die Soldaten hinter den Arbeitern. In noch höherem Maße blieb die Provinz hinter der Hauptstadt zurück. Dies ist die unvermeidliche Dynamik des revolutionären Prozesses, die tausend Widersprüche erzeugt, um sie dann gleichsam zufällig, im Vorbeigehen, spielend zu überwinden und sogleich neue zu erzeugen. Hinter der revolutionären Dynamik blieb auch die Partei zurück, das heißt jene Organisation, die am allerwenigsten das Recht besitzt, zurückzubleiben, besonders in der Revolution. In Arbeiterzentren wie Jekaterinburg, Perm, Tula, Nishnij-Nowgorod, Sormowo, Kolomna, Jusowka hatten sich die Bolschewiki erst Ende Mai von den Menschewiki getrennt. In Odessa, Nikolajew, Jelissawetgrad, Poltawa und an anderen Punkten der Ukraine besaßen die Bolschewiki auch Mitte Juni noch keine selbständigen Organisationen. In Baku, Slatoust, Beschezk, Kostroma trennten sich die Bolschewiki erst Ende Juni endgültig von den Menschewiki. Diese Tatsachen müssen erstaunlich erscheinen, berücksichtigt man, daß den Bolschewiki bevorstand, schon nach vier Monaten die Macht zu ergreifen. Wie weit war die Partei während des Krieges hinter dem Molekularprozeß in den Massen zurückgeblieben, und wie weit die Märzleitung Kamenjew-Stalin hinter den großen historischen Aufgaben!
Die revolutionärste Partei, die die menschliche Geschichte bis jetzt überhaupt gekannt hat, wurde dennoch von den Revolutionsereignissen überrascht. Sie baute sich im Feuer um und ordnete ihre Reihen unter dem Ansturm der Ereignisse. Die Massen erwiesen sich im Augenblick der Wendung „an die hundert Mal“ linker als die linkste Partei.
Das Steigen des Einflusses der Bolschewiki, das mit der Gewalt eines naturnotwendigen Prozesses vor sich ging, zeigt bei näherer Betrachtung seine Widersprüche und Zickzacks, seine Ebben und Fluten. Die Massen sind nicht homogen, und überdies lernen sie nicht anders mit dem Feuer der Revolution umzugehen, als daß sie sich die Hände daran verbrennen und zurückprallen. Die Bolschewiki vermochten nur den Lehrprozeß der Massen zu beschleunigen. Sie klärten geduldig auf. Im übrigen hat die Geschichte diesmal ihre Geduld nicht lange mißbraucht.
Während die Bolschewiki unaufhaltsam Werkstätten, Fabriken und Regimenter eroberten, ergaben die Wahlen zur demokratischen Duma ein großes und scheinbar wachsendes Übergewicht der Versöhnler. Das war einer der schärfsten und rätselhaftesten Widersprüche der Revolution. Allerdings war die Duma des rein proletarischen Wyborger Bezirks auf ihre bolschewistische Mehrheit stolz. Doch das war eine Ausnahme. Bei den Stadtwahlen in Moskau konnten die Sozialrevolutionäre im Juni noch über 60% der Stimmen auf sich vereinigen. Diese Zahl verblüffte sie selbst es konnte ihnen nicht verborgen bleiben, daß ihr Einfluß im raschen Sinken war. Für das Verständnis des Verhältnisses zwischen der realen Entwicklung der Revolution und ihrem Abbild im Spiegel der Demokratie sind die Moskauer Wahlen von höchstem Interesse. Die fortgeschrittenen Schichten der Arbeiter und Soldaten schüttelten bereits eilig die versöhnlerischen Illusionen von sich, während die breitesten Massen des städtischen Kleinvolkes erst begannen, sich in Bewegung zu setzen. Für diese zerstäubte Masse waren die demokratischen Wahlen vielleicht die erste, jedenfalls eine seltene Möglichkeit, sich politisch zu äußern. Während der Arbeiter, der gestrige Menschewik oder Sozialrevolutionär, seine Stimme der Partei der Bolschewiki gab und den Soldaten mitriß, traten der Droschkenkutscher, der Briefträger, der Portier, die Händlerin, der Krämer, dessen Kommis und der Lehrer durch einen so heroischen Akt wie die Stimmabgabe für den Sozialrevolutionär zum ersten Male aus ihrem politischen Nichtsein hervor. Mit Verspätung stimmten die kleinbürgerlichen Schichten für Kerenski, weil dieser in ihren Augen die Februarrevolution, die sie erst heute erreicht harte, verkörperte. Mit ihren 60 Prozent sozialrevolutionärer Mehrheit leuchtete die Moskauer Duma in dem letzten Lichte eines erlöschenden Gestirns. Ebenso verhielt es sich mit den anderen Organen der demokratischen Selbstverwaltung. Kaum entstanden, wurden sie von der Ohnmacht des Zuspätgekommenseins ereilt. Das bedeutet, daß der Gang der Revolution von den Arbeitern und Soldaten abhing, nicht aber von dem menschlichen Staub, den die Stürme der Revolution erhoben und aufwirbelten.
Das ist die tiefe und zugleich einfache Dialektik des revolutionären Erwachens der unterdrückten Klassen. Die gefährlichste unter den Aberrationen der Revolution besteht darin, daß der mechanische Zähler der Demokratie den gestrigen, heutigen und morgigen Tag summiert und damit formelle Demokraten darauf stößt, den Kopf der Revolution dort zu suchen, wo sich in Wirklichkeit ihr gewichtiger Schwanz befindet. Lenin lehrte seine Partei, zwischen Kopf und Schwanz zu unterscheiden.
Kapitel 20 | Anfang der Seite | Kapitel 22
Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003