Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 3:
Proletariat und Bauernschaft

Das russische Proletariat machte seine ersten Schritte unter den politischen Bedingungen eines despotischen Staates. Gesetzlich verbotene Streiks, unterirdische Zirkel, illegale Proklamationen, Straßendemonstrationen, Zusammenstöße mit Polizei und Truppen – das war eine Schule, geschaffen aus der Verquickung der Bedingungen des sich schnell entwickelnden Kapitalismus und des seine Positionen langsam räumenden Absolutismus. Die Zusammenballung der Arbeiter in Riesenbetrieben, der konzentrierte Charakter des staatlichen Druckes, schließlich die Impulsivität des jungen und frischen Proletariats führten dazu, daß der politische Streik, im Westen so selten, in Rußland die Hauptmethode des Kampfes wurde. Die Zahlen der Arbeiterstreiks seit Beginn dieses Jahrhunderts bilden den lehrreichsten Index der politischen Geschichte Rußlands. Bei allem Bestreben, den Text nicht durch Zahlen zu belasten, ist es unmöglich, auf die Einfügung einer Tabelle der politischen Streiks in Rußland für die Zeit vom Jahre 1903–1917 zu verzichten. Auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, beziehen sich die Angaben nur auf Betriebe, die der Fabrikinspektion unterstellt waren; Eisenbahnen, Bergwerksindustrie, Handwerks- und überhaupt Kleinbetriebe, ganz abgesehen von der Landwirtschaft, blieben dabei aus verschiedenen Gründen unberücksichtigt. Aber die periodischen Veränderungen der Streikkurve treten dadurch nicht minder deutlich hervor.

Wir haben vor uns eine in ihrer Art einzig dastehende Kurve der politischen Temperatur einer Nation, die eine große Revolution in ihrem Schoße trägt. In einem rückständigen Lande mit einem an Zahl geringen Proletariat – in den der Fabrikinspektion unterstellten Betrieben sind etwa 1½ Millionen Arbeiter im Jahre 1905, etwa 2 Millionen im Jahre 1917! – nimmt die Streikbewegung ein solches Ausmaß an, wie es vorher die Welt nirgendwo gekannt hatte. Bei der Schwäche der kleinbürgerlichen Demokratie, der Zersplitterung und politischen Blindheit der Bauernbewegung wird der revolutionäre Arbeiterstreik zu einem Mauerbrecher, den die erwachende Nation gegen das Bollwerk des Absolutismus richtet. 1.843.000 Teilnehmer an politischen Streiks während des einen Jahres 1905 – Arbeiter, die an mehreren Streiks teilgenommen haben, werden hier selbstverständlich wiederholt gezählt –, allein diese Zahl würde gestatten, auf der Tabelle mit dem Finger das Revolutionsjahr zu bezeichnen, selbst wenn wir nichts anderes über Rußlands politischen Kalender wüßten.

Zahl der Teilnehmer
an politischen Streiks

Jahr

(in Tausenden)

1903*

     87

1904*

     25

1905

1.843

1906

   651

1907

   540

1908

     93

1909

       8

1910

       4

1911

       8

1912

   550

1913

   502

1914 (erste Hälfte)

1.059

1915

   156

1916

   310

1917 (Jan.-Feb.)

   575

* Die Angaben für die Jahre 1903 und 1904
beziehen sich auf Streiks im allgemeinen,
wobei die ökonomischen zweifellos
überwogen.

Für das Jahr 1904, das erste Jahr des Russisch-Japanischen Krieges, zeigt die Fabrikinspektion im ganzen nur 25.000 Streikende an. Im Jahre 1905 gaben politische und ökonomische Streikende zusammen 2.863.000, also 115mal soviel als im vorangegangenen Jahr. Dieser verblüffende Sprung bringt an sich auf den Gedanken, daß das Proletariat, durch den Gang der Ereignisse zur Improvisation einer solch unerhörten revolutionären Aktivität gezwungen, um jeden Preis aus seiner Tiefe eine Organisation hervorbringen mußte, die dem Ausmaß des Kampfes und der Grandiosität der Aufgaben entsprach: das waren eben die Sowjets, die, aus der ersten Revolution geboren, zu Organen des allgemeinen Streiks und des Kampfes um die Macht wurden.

Das im Dezemberaufstand 1905 niedergerungene Proletariat macht heroische Anstrengungen, einen Teil der eroberten Positionen im Laufe der nächsten zwei Jahre zu behaupten, die, wie die Streikziffern zeigen, sich noch unmittelbar an die Revolution anlehnen, aber doch schon Jahre der Ebbe sind. Die vier weiteren Jahre (1908-1911) treten im Spiegel der Streikstatistik als Jahre der siegreichen Konterrevolution auf. Die damit zusammenfallende industrielle Krise erschöpft das ohnehin leergeblutete Proletariat noch mehr. Die Tiefe des Niederganges ist proportional der Höhe des Aufstieges. Die Konvulsionen der Nation finden ihren Ausdruck in diesen einfachen Zahlen.

Die Belebung der Industrie, die im Jahre 1910 einsetzt, bringt die Arbeiter auf die Beine und gibt ihrer Energie einen neuen Anstoß. Die Zahlen der Jahre 1912-1914 wiederholen fast die Angaben über die Jahre 1905–1907, nur in umgekehrter Ordnung: nicht vom Aufstieg zum Niedergang, sondern vorn Niedergang zum Aufstieg. Auf neuen, höheren historischen Grundlagen – es gibt jetzt mehr Arbeiter, und sie haben mehr Erfahrung – beginnt die neue revolutionäre Offensive. Das erste Halbjahr 1914 nähert sich nach der Zahl der politischen Streikenden merklich dem Kulminationsjahr der ersten Revolution. Doch der Krieg bricht aus und unterbindet jäh diesen Prozeß. Die ersten Monate des Krieges sind durch politische Reglosigkeit der Arbeiterklasse gezeichnet. Doch schon im Frühling 1915 beginnt die Starre zu weichen. Es setzt ein neuer Zyklus politischer Streiks ein, der sich im Februar 1917 in dem Aufstand der Arbeiter und Soldaten entlädt.

Die heftigen Fluten und Ebben des Massenkampfes verwandelten das russische Proletariat im Laufe einiger Jahre bis zur Unkenntlichkeit. Fabriken, die noch zwei, drei Jahre vorher wegen irgendeines vereinzelten Aktes polizeilicher Willkür einmütig in den Streik getreten waren, verloren jetzt das revolutionäre Gesicht und nahmen die ungeheuerlichsten Verbrechen der Behörden widerstandslos hin. Große Niederlagen entmutigten für lange. Die revolutionären Elemente verlieren die Macht über die Massen. Noch nicht erloschene Vorurteile und Aberglaube gewinnen in ihrem Bewußtsein die Oberhand. Die grauen Abkömmlinge des Dorfes verwässern inzwischen die Arbeiterreihen. Die Skeptiker schütteln ironisch die Köpfe. So geschah es in den Jahren 1907 bis 1911. Doch die molekularen Prozesse in den Massen heilen die psychischen Wunden der Niederlagen. Eine neue Wendung der Ereignisse oder ein unterirdischer ökonomischer Anstoß eröffnet einen neuen politischen Zyklus. Revolutionäre Elemente finden wieder ihr Auditorium. Der Kampf lebt auf höherer Stufe auf.

Zum Verständnis der beiden Hauptströmungen in der russischen Arbeiterklasse ist es wichtig, zu berücksichtigen, daß der Menschewismus sich endgültig in den Jahren der Reaktion und der Ebbe formte, hauptsächlich gestützt auf die dünne Arbeiterschicht, die mit der Revolution gebrochen hatte, während der Bolschewismus, in der Periode der Reaktion grausam niedergeschlagen, sich in den Jahren vor dem Kriege auf dem Rücken der neuen revolutionären Flut schnell aufzurichten begann. „Am energischsten, verwegensten, zum unermüdlichen Kampf, Widerstand und zur dauernden Organisierung am befähigsten sind jene Elemente, Organisationen und Personen, die sich um Lenin konzentrieren“, mit diesen Worten beurteilte das Polizeidepartement die Arbeit der Bolschewiki in den dem Kriege vorangegangenen Jahren.

Im Juli 1914, als die Diplomaten den letzten Nagel in das Kreuz eintrieben, an das Europa geschlagen werden sollte, brodelte es in Petrograd wie in einem revolutionären Kessel. Der Präsident der Französischen Republik, Poincaré, mußte unter dem letzten Widerhall des Straßenkampfes und den ersten Lauten patriotischer Kundgebungen den Kranz am Denkmal Alexanders III. niederlegen.

Würde die Offensivbewegung der Massen in den Jahren 1912 bis 1914 ohne den Krieg zum Sturze des Zarismus geführt haben? Man kann diese Frage wohl kaum mit Bestimmtheit beantworten. Der Prozeß führte unabwendbar zur Revolution. Aber welche Etappen hätte er dabei durchschreiten müssen? Lauerte ihm nicht noch eine Niederlage auf? Welche Frist hätten die Arbeiter nötig gehabt, um die Bauern auf die Beine zu bringen und die Armee zu gewinnen? Nach all diesen Richtungen hin sind nur Vermutungen möglich. Der Krieg hatte jedenfalls anfänglich dem Prozeß einen rückläufigen Gang verliehen, um ihn dann um so mächtiger zu beschleunigen und ihm einen überwältigenden Sieg zu sichern.

Beim ersten Trommelschlag erstarb die revolutionäre Bewegung. Die aktivsten Arbeiterschichten wurden mobilisiert. Die revolutionären Elemente aus den Betrieben an die Front geworfen. Auf Streiks standen strenge Strafen. Die Arbeiterpresse war weggefegt. Die Gewerkschaften erdrosselt. In die Werkstätten ergossen sich zu Hunderttausenden Frauen, Jugendliche, Bauern. Politisch desorientierte der Krieg in Verbindung mit dem Zusammenbruch der Internationale die Massen außerordentlich und gestattete der Fabrikadministration, die den Kopf erhoben hatte, im Namen der Betriebe patriotisch aufzutreten, einen bedeutenden Teil der Arbeiter mitzureißen und die Kühneren und Entschlosseneren zu zwingen, sich abwartend zurückzuziehen. Der revolutionäre Gedanke glimmte nur noch in kleinen, stillgewordenen Kreisen. Sich „Bolschewik“ zu nennen wagte zu jener Zeit in den Betrieben niemand, hieß das doch, sich der Verhaftung oder Verprügelung durch rückständige Arbeiter aussetzen.

Die bolschewistische Dumafraktion, schwach in der personellen Zusammensetzung, zeigte sich im Augenblick des Kriegsbeginns nicht auf der Höhe. Gemeinsam mit den menschewistischen Deputierten brachte sie eine Deklaration ein, in der sie sich verpflichtete, „das kulturelle Wohl des Volkes gegen jeden Anschlag, woher er auch kommen möge, zu verteidigen“. Mit Beifall unterstrich die Duma diese Preisgabe der Position. Von den russischen Organisationen und Gruppen der Partei bezog keine einzige eine offen defätistische Stellung, wie sie Lenin im Auslande proklamierte. Indes erwies sich der Prozentsatz an Patrioten unter den Bolschewiki als geringfügig. Im Gegensatz zu den Narodniki und Menschewiki begannen die Bolschewiki bereits seit dem Jahre 1914 in den Massen schriftliche und mündliche Agitation gegen den Krieg zu entfalten. Die Dumadeputierten erholten sich bald von der Verwirrung und nahmen die revolutionäre Arbeit wieder auf, über die die Behörden dank einem weitverzweigten Provokationssystem sehr genau informiert waren. Es genügt zu sagen, daß von den sieben Mitgliedern des Petersburger Parteikomitees am Vorabend des Krieges drei im Dienste der Ochrana standen. So spielte der Zarismus mit der Revolution Katze und Maus. Im November wurden die bolschewistischen Deputierten verhaftet. Im ganzen Lande setzte ein Vernichtungsfeldzug gegen die Partei ein. Im Februar 1915 fand vor dem Obergerichtshof die Verhandlung gegen die Fraktion statt. Die Deputierten ließen in ihrem Benehmen Vorsicht walten. Kamenjew, der theoretische Inspirator der Fraktion, grenzte sich von der defätistischen Position Lenins ab, ebenso Petrowski, der heutige Vorsitzende des Zentralkomitees in der Ukraine. Das Polizeidepartement stellte mit Befriedigung fest, daß das strenge Urteil über die Deputierten keinerlei Protestbewegung seitens der Arbeiter hervorgerufen habe.

Es schien, als hätte der Krieg die Arbeiterklasse ausgetauscht. In bedeutendem Maße war es auch so: in Petrograd war der Arbeiterbestand fast vierzigprozentig erneuert. Die revolutionäre Nachfolge wurde schroff unterbrochen. Was vor dem Kriege gewesen war, darunter auch die Dumafraktion der Bolschewiki, trat mit einem Male in den Hintergrund und versank fast in Vergessenheit. Aber unter der unsicheren Hülle von Ruhe, Patriotismus, teils sogar Monarchismus häuften sich in den Massen Stimmungen für eine neue Explosion an.

Im August 1915 berichteten die zaristischen Minister einander, daß die Arbeiter „überall Betrug, Verrat und Sabotage zugunsten der Deutschen wittern und eifrig nach Schuldigen unserer Mißerfolge an der Front suchen“. Tatsächlich geht in dieser Periode die erwachende Massenkritik, teils aufrichtig, teils der Schutzfärbung wegen, nicht selten von der „Vaterlandsverteidigung“ aus. Doch ist diese Idee nur Ausgangspunkt. Immer tiefere Gänge bahnt sich die Unzufriedenheit der Arbeiter, die die Werkführer, Schwarzhundertarbeiter, Kriecher vor der Administration zum Schweigen bringt und dem Arbeiterbolschewistenheer das Haupt zu erheben gestattet.

Von der Kritik gehen die Massen zu Taten über. Die Empörung findet einen Ausweg zu allererst in Lebensmittelunruhen, die mancherorts die Form lokaler Meutereien annehmen. Frauen, Greise, Jugendliche fühlen sich auf dem Markte oder auf der Straße sicherer und unabhängiger als die dienstpflichtigen Arbeiter in den Betrieben. In Moskau artet die Bewegung im Mai in einen Deutschenpogrom aus. Obwohl seine Teilnehmer hauptsächlich dem städtischen Mob angehören, der unter dem Protektorat der Polizei sein Unwesen treibt, so beweist doch schon die Möglichkeit eines Pogroms im industriellen Moskau, daß die Arbeiter noch nicht so weit erwacht sind, um ihre Parolen und ihre Disziplin dem aus seinem Gleichgewicht herausgeschleuderten kleinen Stadtvolk aufzuzwingen. Sich über das ganze Land ausbreitend, beseitigen die Lebensmittelunruhen die Kriegshypnose und bahnen den Weg für Streiks.

Der Zustrom roher Arbeitskraft in die Betriebe und die gierige Jagd nach Kriegsgewinnen führten überall zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und zum Wiederaufleben brutalster Ausbeutungsmethoden. Zunehmende Teuerung drückt automatisch den Arbeitslohn herab. Ökonomische Streiks werden der unvermeidliche Reflex der Massen, und zwar ein um so heftigerer, je mehr er zurückgedrängt war. Die Streiks werden von Meetings, Verkündung politischer Resolutionen, Zusammenstößen mit der Polizei und nicht selten auch von Schießereien und Opfern begleitet.

Der Kampf erfaßt zuallererst das zentrale Textilgebiet. Am 5. Juni gibt die Polizei eine Salve auf die Weber in Kostroma ab: 4 Tote, 9 Verwundete. Am 10. August schießen Truppen in Iwanowo-Wosnessensk auf Arbeiter: 16 Tote und 30 Verwundete. In die Bewegung der Textilarbeiter sind Soldaten des Platzbataillons verwickelt. Proteststreiks in verschiedenen Teilen des Landes sind Antwort auf die Arbeitererschießungen von Iwanowo-Wosnessensk. Parallel entwickelt sich der ökonomische Kampf. Die Textilarbeiter marschieren nicht selten in den vordersten Reihen.

Im Vergleich zum ersten Halbjahr 1914 bedeutet die Bewegung, was Kraft des Ansturms und Klarheit der Parolen betrifft, einen großen Schritt rückwärts. Nicht verwunderlich: in den Kampf werden zu bedeutendem Teil Rohmassen hineingezogen bei völliger Zersplitterung der führenden Arbeiterschicht. Nichtsdestoweniger kündet sich schon in den ersten Streiks während des Krieges das Herannahen großer Kämpfe an. Justizminister Chwostow erklärte am 16. August: „Wenn jetzt keine bewaffneten Aktionen der Arbeiter stattfinden, so ausschließlich deshalb, weil sie keine Organisationen besitzen.“ Noch deutlicher drückte sich Goremykin aus: „Die Frage liegt bei den Arbeiterführern nur am Fehlen der Organisation, die durch die Verhaftung der fünf Dumamitglieder zerschlagen wurde.“ Der Innenminister fügte hinzu: „Die Dumamitglieder (Bolschewiki) darf man nicht amnestieren, sie sind das organisierende Zentrum der Arbeiterbewegung in ihren gefährlichsten Äußerungen.“ Diese Menschen täuschten sich jedenfalls nicht darin, wo der wahre Feind war.

Während das Ministerium sogar im Augenblick höchster Verwirrung und Geneigtheit zu liberalem Entgegenkommen es als notwendig erachtete, der Arbeiterrevolution Schläge aufs Haupt, das heißt auf die Bolschewiki zu versetzen, bemühte sich die Großbourgeoisie, eine Arbeitsgemeinschaft mit den Menschewiki anzubahnen. Erschrocken über das Ausmaß der Streiks, machten die liberalen Industriellen den Versuch, den Arbeitern patriotische Disziplin aufzuerlegen, indem sie deren Wahlmänner in die Kriegsindustriekomitees einbezogen. Der Innenminister beklagte sich darüber, daß es sehr schwer sei, gegen Gutschkows Einfälle zu kämpfen: „Die ganze Sache segle unter patriotischer Flagge und im Interesse der Landesverteidigung.“ Man muß jedoch feststellen, daß die Polizei selbst es vermied, die Sozialpatrioten zu verhaften, da sie in ihnen indirekte Kampfverbündete gegen Streiks und revolutionäre „Exzesse“ erblickte. Auf dem übergroßen Vertrauen zur Macht des patriotischen Sozialismus gründete sich die Überzeugung der Ochrana, daß, solange der Krieg dauert, es keinen Aufstand geben werde.

Bei den Wahlen zu den Kriegsindustriekomitees erwiesen sich die Vaterlandsverteidiger, mit dem energischen Metallarbeiter Gwosdjew an der Spitze – wir werden ihm später als Arbeitsminister in der Koalitionsregierung der Revolution begegnen – in der Minderheit. Sie benutzten jedoch die Unterstützung nicht nur der liberalen Bourgeoisie, sondern auch der Bürokratie, um die Boykottanhänger, geführt von den Bolschewiki, niederzuhalten und dem Petersburger Proletariat eine Vertretung in den Organen des Industriepatriotismus aufzuzwingen. Die Stellung der Menschewiki kam klar zum Ausdruck in einer Rede, mit der sich später einer ihrer Vertreter an die Industriellen im Komitee wandte: „Ihr müßt fordern, daß die heute bestehende bürokratische Regierung von der Bildfläche verschwindet und ihren Platz euch als den Erben des bestehenden Regimes überläßt.“ Die junge politische Freundschaft wuchs nicht nur täglich, sondern stündlich. Nach der Umwälzung wird sie ihre reifen Früchte bringen.

Der Krieg richtete im unterirdischen Lager schreckliche Verwüstungen an. Eine zentralisierte Parteiorganisation besaßen die Bolschewiki nach der Verhaftung der Dumafraktion nicht. Die Lokalkomitees führten ein episodisches Dasein und waren häufig ohne Verbindung mit den Bezirken. Es arbeiteten nur vereinzelte Gruppen, Zirkel und Personen. Aber die einsetzende Belebung des Streikkampfes verlieh ihnen in den Betrieben Mut und Kraft. Allmählich fanden sie einander und stellten Bezirksverbindungen her. Die unterirdische Arbeit erstand wieder. Im Polizeidepartement schrieb man später: „Die Leninisten, hinter denen in Rußland die überwiegende Mehrheit der illegalen sozialdemokratischen Organisationen steht, haben seit Kriegsbeginn in ihren größeren Zentren (wie Petrograd, Moskau, Charkow, Kiew, Tula, Kostroma, Gouvernement Wladimir, Samara) eine bedeutende Anzahl revolutionärer Aufrufe herausgegeben mit der Forderung nach Kriegseinstellung, Sturz der bestehenden Regierung und Errichtung der Republik, wobei diese Arbeit als greifbare Resultate Arbeiterstreiks und Unruhen zur Folge hatte.“

Der traditionelle Gedenktag der Arbeiterprozession zum Winterpalais, der im Jahre vorher fast unbeachtet verlaufen war, ruft am 9. Januar 1916 einen umfangreichen Streik hervor. Die Streikbewegung wächst in diesen Jahren um das doppelte an. Zusammenstöße mit der Polizei begleiten jeden größeren und hartnäckigeren Streik. Zu den Truppen verhalten sich die Arbeiter mit demonstrativem Wohlwollen, und die Ochrana registriert mehr als einmal diese besorgniserregende Tatsache.

Die Kriegsindustrie quoll auf, indem sie ringsum alle Hilfsmittel verschlang und ihre eigenen Grundlagen zu untergraben begann. Die Friedenszweige der Industrie waren im Absterben. Aus der Wirtschaftsregulierung wurde trotz allen Plänen nichts. Die Bürokratie, bei dem Widerstand der mächtigen Kriegsindustriekomitees bereits außerstande, die Sache in ihre Hände zu nehmen, war indes gleichzeitig nicht gewillt, der Bourgeoisie die regulierende Rolle zu überlassen. Das Chaos wuchs. Fähige Arbeiter wurden durch unfähige ersetzt. Die Kohlengruben, Fabriken und Werkstätten in Polen waren bald verloren. Während des ersten Kriegsjahres kam etwa ein Fünftel der gesamten Industriekräfte des Landes in Wegfall. Bis zu 50% der Gesamtproduktion gingen für die Bedürfnisse des Krieges und der Armee auf, darunter bis zu 75% der im Lande erzeugten Textilwaren. Der überlastete Transport war außerstande, den Fabriken das notwendige Heiz- und Rohmaterial zuzustellen. Der Krieg verschlang nicht nur das gesamte flüssige Nationaleinkommen, sondern ging auch ernstlich daran, das Grundkapital des Landes zu vergeuden.

Die Industriellen waren immer weniger zu Konzessionen an die Arbeiter bereit, während die Regierung jeden Streik in alter Weise mit strengen Repressalien beantwortete. All das stieß den Gedanken des Arbeiters vom Einzelnen zum Allgemeinen, von der Ökonomik zur Politik. „Es müssen alle auf einmal streiken.“ So entsteht die Idee des Generalstreiks. Der Prozeß der Radikalisierung der Massen spiegelt sich am überzeugendsten in der Streikstatistik wider. Im Jahre 1915 beteiligen sich an politischen Streiks zweieinhalbmal weniger Arbeiter – als an ökonomischen Konflikten, im Jahre 1916 zweimal weniger; in den ersten zwei Monaten des Jahres 1917 erfassen politische Streiks bereits sechsmal soviel Arbeiter als ökonomische Streiks. Die Rolle Petrograds wird durch eine Ziffer gezeigt: Während der Kriegsjahre entfallen auf seinen Teil 72% der politisch Streikenden!

Im Feuer des Kampfes verbrennt nicht wenig alter Aberglaube. „Mit Schmerz“ meldet die Ochrana: Wollte man den Forderungen des Gesetzes entsprechend reagieren, auf „alle Fälle frecher und offener Majestätsbeleidigung, die Zahl der Prozesse nach Paragraph 103 würde eine nie dagewesene Ziffer erreichen“. Allein das Bewußtsein der Massen bleibt dennoch hinter ihrer eigenen Bewegung zurück. Der schreckliche Druck des Krieges und des Zerfalls beschleunigt den Kampfprozeß derart, daß breite Arbeitermassen bis zum Moment der Umwälzung keine Zeit finden, sich von vielen Ansichten und Vorurteilen, die sie aus dem Dorfe oder dem kleinbürgerlichen Hause der Stadt mitbrachten, zu befreien. Diese Tatsache wird den ersten Monaten der Februarrevolution ihren Stempel aufdrücken.

Gegen Ende 1916 steigen die Preise sprunghaft. Zu Inflation und Transportzerrüttung gesellt sich direkter Warenmangel. Der Verbrauch der Bevölkerung vermindert sich zu dieser Zeit um mehr als die Hälfte. Die Kurve der Arbeiterbewegung steigt schroff nach oben. Mit dem Oktober tritt die Bewegung in Petrograd in das entscheidende Stadium ein und vereinigt alle Arten der Unzufriedenheit: Petrograd nimmt den Anlauf zur Februarrevolution. Eine Versammlungswelle rollt durch die Betriebe. Die Themen sind: Ernährung, Teuerung, Krieg, Regierung. Es werden bolschewistische Flugblätter verteilt. Politische Streiks beginnen. Nach dem Verlassen der Betriebe finden improvisierte Demonstrationen statt. Es werden Fälle von Verbrüderung einzelner Betriebe mit Soldaten beobachtet. Ein stürmischer Proteststreik entbrennt gegen das Gericht über die revolutionären Matrosen der baltischen Flotte. Der französische Gesandte macht den Premier Stürmer auf die ihm bekanntgewordenen Tatsachen aufmerksam, daß Soldaten auf die Polizei geschossen hätten. Stürmer beruhigt den Gesandten: „Die Repression wird erbarmungslos sein.“ Im November wird eine große Gruppe dienstpflichtiger Arbeiter aus den Petrograder Betrieben herausgezogen, uni an die Front geschickt zu werden. Das Jahr endet in Sturm und Gewitter.

Die Lage mit dem Jahre 1905 vergleichend, kommt der Direktor des Polizeidepartements, Wassiljew, zu einem äußerst trostlosen Schluß: „Die oppositionellen Stimmungen haben einen enormen Umfang angenommen, wie sie ihn in der erwähnten Wirrnisperiode in den breiten Massen bei weitem nicht erreicht hatten.“ Wassiljew baut nicht auf die Garnisonen. Sogar die Dorfpolizei scheint ihm nicht ganz verläßlich. Die Ochrana meldet die Belebung der Parole des Generalstreiks und die Gefahr der Auferstehung des Terrors. Die aus den Schützengräben ankommenden Soldaten und Offiziere sagen über die herrschende Lage: „Was ist da zu überlegen, abstechen muß man so einen Schuft, Wären wir da, wir würden nicht lange nachdenken“, und so weiter.

Schljapnikow, Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiki selbst ehemals Metallarbeiter, erzählt über die nervöse Stimmung der Arbeiter in jenen Tagen: „irgendein Pfiff oder ein Lärm genügte, die Arbeiter glauben zumachen, es sei das Signal zur Arbeitseinstellung.“ Dieses Detail ist gleichermaßen bemerkenswert als politisches Symptom wie als psychologischer Zug: die Revolution sitzt bereits in den Nerven, bevor sie noch auf die Straße geht.

Die Provinz macht die gleichen Etappen durch, nur langsamer. Das Wachstum des Massencharakters der Bewegung und ihres Kampfgeistes verschiebt das Schwergewicht von den Textilarbeitern zu den Metallarbeitern, von den ökonomischen zu den politischen Streiks, aus der Provinz nach Petrograd. Die ersten zwei Monate des Jahres 1917 ergeben 575.000 politische Streikende, davon entfällt der Löwenanteil auf die Hauptstadt. Obwohl die Polizei am Vorabend des 9. Januar einen neuen Streich gegen die Partei führte, streiken am Tage des blutigen Jubiläums in der Hauptstadt 150.000 Arbeiter. Die Stimmung ist gespannt; die Metallarbeiter gehen voran, die Proletarier fühlen, daß es keinen Rückzug mehr gibt. In jedem Betrieb entsteht ein aktiver Kern, am häufigsten um die Bolschewiki. Streiks und Meetings finden während der zwei Februarwochen ununterbrochen statt. Am 8. Februar wurden Polizisten auf dem Putilowwerk „mit einem Hagel von Eisenstücken und Schlacken“ empfangen. Am 14., dem Tage der Dumaeröffnung, streikten in Petrograd etwa 90.000 Arbeiter. Einige Betriebe wurden auch in Moskau stillgelegt. Am 16. beschlossen die Behörden in Petrograd, Brotkarten einzuführen. Diese Neuerung ging auf die Nerven. Am 19. sammelte sich vor den Lebensmittelgeschäften viel Volk, besonders Frauen, an, alle forderten Brot. Tags darauf wurden in einigen Stadtteilen die Bäckerläden geplündert. Das war bereits das Wetterleuchten des Aufstandes, der wenige Tage später ausbrach.

Die revolutionäre Kühnheit schöpfte das russische Proletariat nicht nur aus sich selbst. Schon seine Lage, die einer Minderheit der Nation, spricht dafür, daß es nicht imstande gewesen wäre, seinem Kampfe ein solches Ausmaß zu geben, und noch weniger, sich an die Spitze des Staates zu stellen, wenn es nicht eine mächtige Stütze in den Tiefen des Volkes gehabt hätte. Diese Stütze sicherte ihm die Agrarfrage.

Die verspätete Halbbefreiung der Bauern im Jahre 1861 traf die Landwirtschaft fast auf der Stufe an, auf der sie zwei Jahrhunderte zuvor gestanden hatte. Die Beibehaltung des alten, bei der Reform zugunsten des Adels bestohlenen Fonds an Gemeindeland verschärfte unter den archaischen Bodenbearbeitungsmethoden automatisch die Übervölkerungskrise des Dorfes, die gleichzeitig die Krise der Dreifelderwirtschaft war. Die Bauernschaft fühlte sich um so Mehr in einer Falle, als der Prozeß sich nicht im siebzehnten sondern im neunzehnten Jahrhundert entwickelte, das heißt unter Bedingungen der weit vorgeschrittenen Geldwirtschaft, die an den Holzpflug Ansprüche stellte, die höchstens der Traktor befriedigen konnte. Auch hier sehen wir das Zusammentreffen verschiedener Stufen des historischen Prozesses und als Ergebnis eine außerordentliche Schärfe der Gegensätze.

Gelehrte, Agronomen und Nationalökonomen predigten, daß unter Bedingungen rationeller Bearbeitung das Land vollständig ausreichen würde, d.h. sie schlugen dem Bauer vor, den Sprung zur höheren technischen und kulturellen Stufe zu machen, ohne Gutsbesitzer, Urjadnik und Zaren zu nahe zu treten. Doch nie pflegte ein Wirtschaftsregime, und um so weniger das landwirtschaftliche, eines der starrsten, von der Bildfläche zu verschwinden, bevor es nicht alle seine Möglichkeiten erschöpft hatte. Ehe sich der Bauer gezwungen sah, zu intensiverer Wirtschaftskultur überzugehen, mußte er den letzten Versuch einer Verbreiterung seiner Dreifelderwirtschaft machen. Doch war dies offensichtlich nur auf Kosten der nichtbäuerlichen Ländereien erreichbar. Erstickend in der Enge inmitten der Weiten des Landes, mußte der Muschik unter der brennenden Knute des Fiskus und des Marktes unvermeidlich den Versuch machen, den Gutsbesitzer ein für allemal loszuwerden.

Die Gesamtzahl des nutzbaren Bodens in den Grenzen des europäischen Rußland wurde am Vorabend der ersten Revolution auf 280 Millionen Deßjatinen* geschätzt. Der Boden der Dorfgemeinden umfaßte etwa 140 Millionen, die Kronländereien etwa 5 Millionen, Kirchen- und Klosterbesitz etwa 2½ Millionen Deßjatinen. Von dem Privatbesitz an Boden entfielen auf 30.000 Großgrundbesitzer, von denen jedem über 500 Deßjatinen gehörten, 70 Millionen Deßjatinen, das heißt die gleiche Zahl, über die annähernd 10 Millionen Bauernfamilien verfügten. Diese Bodenstatistik bildete das fertige Programm des Bauernkrieges.

Den Gutsbesitzer zu liquidieren, war der ersten Revolution nicht gelungen. Es hatte sich nicht die gesamte Bauernmasse erhoben, die Bewegung im Dorfe fiel nicht mit der Bewegung in der Stadt zusammen, die Bauernarmee schwankte, stellte jedoch schließlich genügend Kräfte zur Verfügung, um die Arbeiter niederzuschlagen. Nachdem das Semjonowski-Garderegiment mit dem Moskauer Aufstand fertig geworden war, verwarf die Monarchie jeden Gedanken an eine Beschneidung des gutsherrlichen Bodens und ihrer eigenen selbstherrlichen Rechte.

Jedoch war die niedergeschlagene Revolution keinesfalls am Dorfe spurlos vorbeigegangen. Die Regierung hob die alten Ablösungen auf und eröffnete die Möglichkeit einer breiteren Übersiedlung nach Sibirien. Die erschrockenen Gutsbesitzer machten nicht nur beträchtliche Konzessionen bezüglich des Pachtzinses, sondern gingen auch zum verstärkten Ausverkauf ihrer Latifundien über. Diese Früchte der Revolution nutzten die wohlhabenderen Bauern, die in der Lage waren, gutsherrlichen Boden zu pachten und zu kaufen, erfolgreich aus.

Die breiteste Pforte, um aus der Bauernschaft kapitalistische Farmer auszusondern, öffnete jedoch das Gesetz vom 9. November 1906, die wichtigste Reform der siegreichen Konterrevolution. Indem es sogar der kleinen Bauernminderheit einer Gemeinde das Recht zuerkannte, gegen den Willen der Mehrheit aus dem Gemeindeland einzelne Stücke herauszuschneiden, wurde das Gesetz vom 9. November zu einem kapitalistischen Geschoß, das sich gegen die Dorfgemeinde richtete. Der Vorsitzende des Ministerrats, Stolypin, bezeichnete das Wesen der neuen Regierungspolitik in der Bauernfrage als „Einsatz auf die Starken“. Das bedeutete: die Oberschicht der Bauern auf die Aneignung von Gemeindeland durch Ankauf der „befreiten“ Abschnitte zu stoßen und damit die neuen kapitalistischen Farmer in Ordnungsstützen zu verwandeln. Eine solche Aufgabe zu stellen war leichter, als sie zu lösen. Bei dem Versuch, die Bauern- durch die Kulakenfrage zu ersetzen, mußte sich die Konterrevolution das Genick brechen.

Gegen den 1. Januar 1916 sicherten sich zweieinhalb Millionen Hofbesitzer als ihren Privatbesitz 17 Millionen Deßjatinen. Zwei weitere Millionen Hofbesitzer forderten die Aussonderung von 14 Millionen Deßjatinen. Das sah nach einem kolossalen Erfolg der Reform aus. Doch die ausgesonderten Bauernwirtschaften waren in ihrer Mehrzahl durchaus lebensunfähig und stellten nur das Material für eine natürliche Auslese dar. Während die wirtschaftlich rückständigsten Gutsbesitzer und kleinen Bauern intensiv verkauften, die einen ihre Latifundien, die anderen ihre Landfetzen, trat vorwiegend die neue Bauernbourgeoisie als Käufer auf. Die Landwirtschaft ging zweifellos in das Stadium des kapitalistischen Aufstiegs. Die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus Rußland wuchs in fünf Jahren (1908-1912) von 1 Milliarde Rubel auf 1½ Milliarden. Das bedeutete: breite Bauernmassen wurden proletarisiert, und die Oberschicht des Dorfes warf immer mehr Brot auf den Markt.

Als Ersatz für die zwangsweise Gemeindebindung der Bauernschaft entwickelte sich die freiwillige Kooperative, der es im Laufe weniger Jahre gelang, verhältnismäßig tief in die Bauernmassen einzudringen, und die sofort Gegenstand liberaler und demokratischer Idealisierung wurde. Die reale Macht in der Kooperative besaßen jedoch nur die wohlhabenden Bauern, denen sie letzten Endes auch zum Vorteil gereichte. Die Volkstümlerintelligenz, die in der Bauernkooperative ihre Hauptkräfte konzentrierte, hatte schließlich ihre Liebe zum Volke auf ein solides bürgerliches Geleise geschoben. Damit wurde im besonderen der Block der „antikapitalistischen“ Partei der Sozialrevolutionäre mit der par excellence kapitalistischen Partei der Kadetten vorbereitet.

Während der Liberalismus den Schein einer Opposition in bezug auf die Agrarpolitik der Reaktion wahrte, blickte er jedoch mit größter Hoffnung auf die kapitalistische Vernichtung der Dorfgemeinde. „Im Dorfe wächst eine mächtige Kleinbourgeoisie heran“, schrieb der liberale Fürst Trubetzkoi, „die ihrem gesamten Wesen und ihrer Zusammensetzung nach in gleicher Weise den Idealen des vereinigten Adels wie den sozialistischen Schwärmereien fremd gegenüber steht.“

Aber diese großartige Medaille hatte eine Kehrseite. Aus der Dorfgemeinde sonderte sich nicht nur eine „mächtige Kleinbourgeoisie“, sondern auch ihr Antipode aus. Die Zahl der Bauern, die ihre lebensunfähigen Anteile verkauft hatten, erreichte zu Kriegsbeginn eine Million, was nicht weniger als fünf Millionen Seelen proletarisierter Bevölkerung bedeutete. Einen reichlichen Explosivstoff bildeten auch die Millionen verarmter Bauern, denen nichts weiter übrigblieb, als sich an ihre Hungeranteile zu klammem. In der Bauernschaft wiederholten sich folglich jene Gegensätze, die in Rußland die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes so früh untergraben hatten. Die neue Dorfbourgeoisie, die den alten und mächtigeren Besitzern eine Stütze hätte werden sollen, erwies sich den Kernmassen der Bauernschaft gegenüber ebenso feindlich wie die alten Besitzer dem Volke überhaupt. Ehe sie eine feste Ordnungsstütze wurde, benötigte die Bauernbourgeoisie selbst einer festen Stütze, um sich auf den eroberten Positionen halten zu können. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Agrarfrage in sämtlichen Reichsdumas ihre Schärfe behielt. Alle fühlten, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Der Bauerndeputierte Petritschenko erklärte einmal von der Dumatribüne aus: „Soviel ihr auch diskutieren mögt, einen anderen Erdball werdet ihr nicht schaffen. Folglich wird man uns diese Erde geben müssen.“ Dieser Bauer war weder Bolschewik noch Sozialrevolutionär; im Gegenteil, das war ein Deputierter der Rechten, ein Monarchist.

Die Agrarbewegung, die wie der Streikkampf der Arbeiter am Ende des Jahres 1907 verstummte, lebt 1908 zum Teil wieder auf und steigert sich in den folgenden Jahren. Allerdings wird der Kampf hauptsächlich in das Innere der Gemeinde verlegt; darin bestand ja die politische Berechnung der Reaktion. Bewaffnete Zusammenstöße der Bauern bei der Aufteilung des Gemeindelandes sind nicht selten. Aber auch der Kampf gegen den Gutsbesitzer erstirbt nicht. Die Bauern stecken häufig Gehöfte, Ernte, Heu der Adligen in Brand und verschonen dabei auch die Siedler nicht, die sich gegen den Willen der Gemeindebauern ausgesondert hatten.

In diesem Zustande wurde die Bauernschaft vom Kriege überrascht. Die Regierung führte etwa zehn Millionen Arbeitskräfte und annähernd zwei Millionen Pferde aus dem Dorfe weg. Die schwachen Wirtschaften wurden noch schwächer. Die Zahl der nichtbestellenden Bauern nahm zu. Aber auch mit den Mittelbauern ging es in dem zweiten Kriegsjahre bergab. Die feindselige Haltung der Bauernschaft zum Kriege nahm von Monat zu Monat zu. Im Oktober 1916 berichtet die Petrograder Gendarmerieverwaltung, daß man im Dorfe an den Sieg im Krieg schon nicht mehr glaube: nach den Worten der Versicherungsagenten, der Lehrer, Händler und so weiter „warten alle nur darauf, wann dieser verfluchte Krieg schließlich enden wird“ ... Und mehr noch: „Überall werden politische Fragen diskutiert, werden gegen Gutsbesitzer und Kaufleute gerichtete Bestimmungen getroffen, Zellen verschiedenster Organisationen gebildet ... Ein vereinigendes Zentrum gibt es vorläufig nicht, es ist jedoch anzunehmen, daß die Bauern sich vermittels der Kooperativen, die stündlich in ganz Rußland wachsen, vereinigen werden.“ Manches darin ist übertrieben, manches haben die Gendarme vorweggenommen, aber das Wesentliche ist zweifellos richtig angegeben.

Die besitzenden Klassen konnten nicht übersehen, daß das Dorf seine Rechnung präsentieren werde, aber sie verscheuchten die düsteren Gedanken in der Hoffnung, irgendwie doch herauszukommen. Der wißbegierige französische Gesandte Paléologue unterhielt sich darüber in den Kriegstagen mit dem ehemaligen Landwirtschaftsminister Kriwoschein, dem ehemaligen Premier Kokowzew, dem Großgrundbesitzer Graf Bobrinski, dem Vorsitzenden der Reichsduma, Rodsjanko, dem Großindustriellen Putilow und mit anderen angesehenen Männern. Dabei wurde ihm folgendes eröffnet: Für die Durchführung einer radikalen Bodenreform wäre die Arbeit eines ständigen Heeres von 300.000 Landvermessern für die Dauer von mindestens 15 Jahren nötig; aber in dieser Zeit würden die Bauernwirtschaften auf 30 Millionen angewachsen sein und folglich alle geleisteten Berechnungen sich als überholt erweisen. Die Bodenreform war mithin in den Augen der Gutsbesitzer, Würdenträger und Bankiers eine Quadratur des Kreises. Überflüssig zu sagen, daß solche mathematischen Skrupel dem Muschik völlig fremd waren. Er meinte, daß man zuallererst den Gutsherrn ausräuchern müsse, dann werde man schon sehen.

Wenn das Dorf in den Kriegsjahren verhältnismäßig ruhig blieb, so darum, weil seine aktiven Kräfte an der Front waren. Die Soldaten vergaßen den Acker nicht, wenigstens solange sie nicht an den Tod dachten, und die Gedanken des Muschiks an die Zukunft wurden in den Schützengräben vom Pulvergeruch durchtränkt. Aber dennoch würde die Bauernschaft, auch nachdem sie den Gebrauch der Waffen gelernt hatte, mit ihren Kräften – allein niemals die agrar-demokratische, das heißt ihre eigene Revolution vollbracht haben. Sie brauchte eine Führung. Zum erstenmal in der Weltgeschichte sollte der Bauer seinen Führer in der Person des Arbeiters finden. Darin besteht der grundlegende und man könnte sagen erschöpfende Unterschied zwischen der russischen und allen vorangegangenen Revolutionen.

In England verschwand die Leibeigenschaft faktisch am Ende des vierzehnten Jahrhunderts, das heißt zwei Jahrhunderte bevor sie in Rußland entstand und viereinhalb Jahrhunderte, ehe sie dort abgeschafft wurde. Die Enteignung des Bodenbesitzes der Bauern erstreckt sich in England über die Reformation und zwei Revolutionen bis zum neunzehnten Jahrhundert. Die kapitalistische Entwicklung, von außen nicht forciert, besaß somit Zeit genug, die selbständige Bauernschaft zu liquidieren, lange bevor noch das Proletariat zum politischen Leben erwacht war.

In Frankreich zwang ihr Kampf mit dem königlichen Absolutismus, der Aristokratie und den Kirchenfürsten die Bourgeoisie in Gestalt ihrer verschiedenen Schichten, die radikale Agrarrevolution am Ende des achtzehnten Jahrhunderts etappenweise zu vollziehen. Die selbständige Bauernschaft wurde danach für lange Zeit die Stütze der bürgerlichen Ordnung und half im Jahre 1871 der Bourgeoisie, mit der Pariser Kommune fertigzuwerden.

In Deutschland erwies sich die Bourgeoisie zur revolutionären Lösung der Agrarfrage unfähig und lieferte im Jahre 1848 die Bauern ebenso an die Gutsbesitzer aus, wie Luther etwa drei Jahrhunderte zuvor sie während des Bauernkrieges an die Fürsten ausgeliefert hatte. Das deutsche Proletariat seinerseits war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch zu schwach, die Führung der Bauernschaft zu übernehmen. Die kapitalistische Entwicklung Deutschlands bekam infolgedessen eine genügende Frist, wenn auch keine so lange wie die Englands, um sich die Landwirtschaft, wie sie aus der unvollendeten bürgerlichen Revolution hervorgegangen war, zu unterwerfen.

Die Bauernreform von 1861 wurde in Rußland von der Adels- und Beamtenmonarchie unter dem Druck der Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft durchgeführt, jedoch bei völliger politischer Ohnmacht der Bourgeoisie. Der Charakter der Bauernbefreiung war derart, daß die forcierte kapitalistische Umgestaltung des Landes das Agrarproblem unvermeidlich in ein Problem der Revolution verwandeln mußte. Die russischen Bourgeois erträumten eine Agrarentwicklung bald von französischem, bald dänischem, bald amerikanischem, von jedem beliebigen, nur nicht russischem Typ. Jedoch kamen sie nicht auf den Gedanken, sich französische Geschichte oder die amerikanische soziale Struktur anzueignen. Die demokratische Intelligenz stand trotz ihrer revolutionären Vergangenheit in der Entscheidungsstunde auf seiten der liberalen Bourgeoisie und der Gutsbesitzer, nicht aber auf der des revolutionären Dorfes. Nur die Arbeiterklasse vermochte sich unter diesen Umständen an die Spitze der Bauernrevolution zu stellen.

Das Gesetz der kombinierten Entwicklung verspäteter Länder – im Sinne der eigenartigen Verquickung von Elementen der Rückständigkeit mit jüngsten Faktoren – ersteht hier vor uns in seiner vollendeten Form und gibt gleichzeitig den Schlüssel zu dem wesentlichsten Rätsel der russischen Revolution. Wäre das Agrarproblem, als Erbe der Barbarei der alten russischen Geschichte, von der Bourgeoisie gelöst worden, hätte sie es zu lösen vermocht, das russische Proletariat hätte im Jahre 1917 keinesfalls an die Macht gelangen können. Um den Sowjetstaat zu verwirklichen, war die Annäherung und gegenseitige Durchdringung zweier Faktoren von ganz verschiedener historischer Natur notwendig: des Bauernkrieges, das heißt einer Bewegung, die für die Morgenröte der bürgerlichen Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, das heißt einer Bewegung, die den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Darin eben besteht das Jahr 1917.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008