Leo Trotzki

 

Mein Leben


Nachwort des amerikanischen Herausgebers

Als Trotzki im Jahre 1929 auf Anregung des S. Fischer Verlages Mein Leben schrieb, war er gerade in ein ungewisses Dasein im Exil eingetreten. Wußte er auch, daß er sein Lebenswerk als Revolutionär fortsetzen würde, so konnte er doch kaum ahnen, was ihm bevorstand und welche Rolle er in der Weltpolitik der kommenden Jahre spielen würde. Deshalb hatte er das Gefühl, daß die Arbeit, die außerhalb der Sowjetunion zu tun war, ebenso wichtig sei wie die innerhalb der Sowjetunion. Es kann daher nicht überraschen, daß Trotzki als der anerkannte Führer und Sprecher eines zur Diktatur Stalins in Gegensatz stehenden internationalen Kommunismus während der nächsten elf Jahre seines Lebens einen beträchtlichen Einfluß auf die internationale Szene auszuüben vermochte.

Trotzkis vielleicht bedeutendste Leistung während dieser elf Jahre ist das literarische Werk, das er hinterließ. Jeden Geschichtsforscher muß der weite Horizont dieser Schriften verblüffen, die erst jetzt allmählich richtig eingeschätzt werden um der Mitteilungen willen, die sie über die frühen Jahre des kommunistischen Regimes in Rußland machen. Trotzki ist als eine der zentralen Gestalten der bolschewistischen Revolution in fast allen Fällen unser einziger Augenzeuge der frühen Intrigen und Machtkämpfe innerhalb der kommunistischen Regierung. Als Ausleger der Ereignisse, die sich abspielten, und der Kräfte, die in Bewegung gesetzt wurden, hat er nicht seinesgleichen. Er sah den Aufstieg der neuen Sowjetbürokratie mit erstaunlicher Genauigkeit voraus und katalogisierte die Verbrechen Stalins fünfzehn Jahre vor Chruschtschows sensationeller Rede von 1956.

Seine Autobiographie, das erste große, im Exil geschriebene Werk Trotzkis, ist zweifellos eine der wichtigsten Quellen unserer Zeit. Trotzki hatte zunächst nicht die Absicht, ein solches Buch zu schreiben. Sein ursprüngliches Ziel war es, Werke zu publizieren, an denen er vor seinem Exil gearbeitet hatte, um der Öffentlichkeit – vor allem den kleinen Funktionären und Angehörigen des internationalen Kommunismus – wichtige Unterlagen zur Kenntnis zu bringen, die den Kampf der Opposition gegen Stalin stützten. Aber der deutsche Verleger überzeugte Trotzki davon, daß es das beste set mit einer Autobiographie anzufangen, und Trotzki fand sich schließlich auch dazu bereit. Es besteht kein Zweifel, daß sich Trotzkt als er seine Lebensgeschichte schrieb, bewußt war, daß es ein sehr bedeutendes Buch werden konnte. Er betrachtete es durchaus nicht als Memoirenwerk, das man am Ende einer Laufbahn verfaßt. Im Gegenteil, er sah in ihm einen integralen Bestandteil seines aktiven Lebens, ein Mittel, das ihn selbst in den Stand setzte, auf all die Ereignisse zurückzublicken, bei denen er eine Rolle gespielt hatte, sie im Lichte seiner eigenen Erfahrung und Philosophie zu bewerten und den Kampf von dieser Plattform aus weiterzuführen.

Trotzki begann sein Exilleben in der Türkei, wo er sich vier Jahre aufhielt. Während dieser Jahre wohnte er mit den Mitgliedern seiner Familie, die ihn begleitet hatten – seiner Frau Natalia und einem ihrer beiden Söhne, Leo, – in einer Villa auf Prinkipo, einer Insel in der Nähe von Istanbul. Mag diese Insel auch fern vom Mittelpunkt des Geschehens gelegen haben, so gelang es Trotzki doch durch eine ausgedehnte Korrespondenz und seine Schriften einen aktiven Kontakt mit der kommunistischen Welt und sozialistischen Bewegungen herzustellen. Von Anfang an war Trotzki zur literarischen Aktion gezwungen. Seine Ausweisung aus Rußland war von einer heftigen Kampagne der kommunistischen Weltpresse begleitet worden mit dem Ziel, ihn als Konterrevolutionär zu diskreditieren, und Trotzki machte es sich zur Aufgabe, auf jeden einzelnen Angriff zu antworten. Seine intellektuelle Vitalität schloß ein Stillschweigen aus. Auch erwartete zunächst ein großer Teil der nichtkommunistischen Welt, der Moskaus Worte für bare Münze nahm, daß Trotzki den Kommunismus und Marxismus völlig verwerfen werde, da er jetzt offensichtlich sein Hauptsündenbock war. Es geschah jedoch nichts dergleichen. In seiner ersten Artikelserie für die amerikanische Presse legte Trotzki lediglich dar, worum es der Opposition ging und warum er außer Landes verwiesen worden war. Er vermittelte der Außenwelt auch die erste biographische Skizze des aufsteigenden Titanen Stalin. Gleichzeitig ließ er jedoch keinen Zweifel daran, daß er seiner ursprünglichen kommunistischen Philosophie der permanenten Weltrevolution treu blieb, deren Ziel die völlige Niederwerfung des Kapitalismus, die Einsetzung der proletarischen Diktatur und die Einführung des Sozialismus darstellte. Sein Kummer war, daß in Rußland die proletarische Diktatur von einer Diktatur der Bürokratie usurpiert worden war, die ihren kulminierenden Ausdruck in Josef Stalin gefunden hatte. So machte es Trotzki gleich zu Anfang der nicht-kommunistischen „bourgeoisen“ Welt ganz unmöglich, ihn hinzunehmen, ohne gleichzeitig den begründeten Verdacht zu hegen, daß er letztlich auf ihren Untergang hinarbeitete. Trotzki war deshalb von vornherein dazu verurteilt, den Rest seiner Jahre in einer feindlichen Welt zu leben – außerhalb der Schranken des offiziellen kommunistischen wie des nicht-kommunistischen Lagers, und Unterstützung kam ihm allein von den antistalinistischen Marxisten.

Die vier Jahre auf Prinkipo waren produktive, geschäftige Jahre; Trotzki schrieb sehr viel und bestätigte sich in seiner Rolle als Weltführer der antistalinistischen Opposition innerhalb der kommunistischen Bewegung. Während dieser Zeit veröffentlichte Trotzki eine Anzahl rein politischer Werke, deren erstes, La Révolution défigurée, im Jahre 1929 in Paris erschien. Eine englische Übersetzung dieses Werkes wurde 1937 in New York unter dem Titel The Stalin School of Falsification veröffentlicht. Sehr bald nach seiner Machtergreifung hatte Stalin begonnen, die Geschichte der Revolution umzuschreiben, und Trotzkis Buch verfolgte den Zweck, die Aufmerksamkeit der Welt auf diese bewußte Entstellung der tatsächlichen Vergangenheit zu lenken.

Trotzki widmete sich auch mit Nachdruck der Bekämpfung einer neuen stalinistischen Taktik, die sich für Europa als schicksalhaft erweisen sollte. Stalin hatte den kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands befohlen, einen totalen Krieg gegen die anderen sozialistischen Parteien zu führen. Die Folgen dieser Taktik waren katastrophal, besonders für Deutschland, wo sich die Aufspaltung innerhalb der Arbeiterbewegung gefährlich verschärfte und die Nazis unter Führung Hitlers in der Lage waren, nur um so schneller emporzukommen. Trotzkis zahlreiche Flugschriften während dieser Periode, darunter The Third Period of Errors of the Communist International, wiesen auf diese kritische Situation hin.

Eine andere Flugschrift, die Trotzki um diese Zeit verfaßte, sollte Zweifel zerstreuen, die durch Stalins Diktatur am gesamten Experiment in Rußland hervorgerufen worden waren. Sie war betitelt In Defense of the Soviet Union, und Trotzki verteidigte darin die grundlegenden Errungenschaften der Oktoberrevolution und argumentierte, daß diese trotz des Stalinschen Regimes noch nicht ganz verloren gegangen seien.

Zusätzlich zu diesen Flugschriften war Trotzki stark an den verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften interessiert, die in der ganzen Welt von Gruppen der Opposition herausgegeben wurden. Die bedeutendste davon war das in russischer Sprache erscheinende Bulletin of the Opposition, gegründet 1929 und zuerst herausgegeben in Berlin, dann in Paris und später in New York. Trotzkis ältester Sohn, Leo Sedow, der in Ideologie und Aktivität seinem Vater sehr nahestand, betreute dieses Organ, das sich einen guten Ruf erwarb wegen seiner exakten Berichterstattung und der genauen Einschätzung der Situation in Rußland.

Während seines vierjährigen Aufenthalts in der Türkei verließ Trotzki nur selten die Insel Prinkipo. Er besuchte einmal Istanbul, um sich die Hagia Sophia anzusehen, und die einzige bedeutende Reise über die Grenzen der Türkei hinaus führte ihn 1932 nach Kopenhagen, wo er auf Einladung der „Vereinigung Dänischer Sozialdemokratischer Studenten“ eine Rede hielt.

Im Anschluß an seine Rückkehr nach Prinkipo befiel ihn ein schweres Unglück. In seiner Villa brach ein Brand aus, der einen großen Teil der Bibliothek vernichtete, die er seit Beginn seines Exils mühevoll zusammengetragen hatte. Unter anderem fielen den Flammen unersetzliche Photokopien von Dokumenten zum Opfer, die Stalin der Veröffentlichung entzogen hatte, sowie eine Seltenheitswert besitzende Sammlung von Photographien der Revolutionszeit.

Inzwischen hatte Stalin seine unablässige Verfolgung der Opposition in Rußland weiter verschärft und als Strafmaßnahme Trotzki und den mit ihm ausgewanderten Familienangehörigen die russische Staatsbürgerschaft entzogen. Es war für Trotzki nun klar, daß Stalin unter Umständen die türkische Regierung unter Druck setzen würde, um seine Auslieferung an die sowjetischen Behörden zu erreichen. Um dem vorzubeugen, entschloß sich Trotzki mit seiner Familie unverzüglich die Türkei zu verlassen. Im Juli 1933 gewährte die französische Regierung unter Daladier ihm in Frankreich Asyl. So endete die erste Phase von Trotzkis Exil.

Trotzki wurde in Frankreich von der offiziellen kommunistischen Presse mit bösartigen Angriffen empfangen. Dadurch wurde die Atmosphäre von Anfang an vergiftet, so daß Trotzkis Aufenthalt in Frankreich keinesfalls frei von Störungen verlief. Es versteht sich von selbst, daß er als zweiter Mann der bolschewistischen Revolution eine umstrittene Gestalt war. Dennoch befand sich Trotzki, als er einmal in Frankreich seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, den wichtigen Ereignissen seiner Zeit näher, wenn er auch während des zweiten Jahres seines Aufenthalts in noch größerer Isolierung lebte als auf Prinkipo. Da es ihm nicht erlaubt war, sich in der Pariser Region niederzulassen, nahm er zunächst in Royan, dann in Barbizon Wohnung, das Paris näher gelegen war. Die Zeitungen fanden durch Zufall heraus, wo er wohnte, und überfielen ihn wie Raubvögel. Von da an stand jeder Schritt, den er tat, in den Blättern. Die Journalisten ließen ihm keine Ruhe, die stalinistische Presse verdammte und verleumdete ihn, die Bourgeoisie begegnete ihm mit Argwohn.

Um Trotzkis zwei Jahre in Frankreich zu verstehen, muß man eine allgemeine Vorstellung von dem haben, was damals in Europa vorging. Hitler kam an die Macht, und die Demokratien waren durch Verwirrung und Uneinigkeit geschwächt. Gleichzehig machte sich in Frankreich eine große soziale Unruhe bemerkbar. An allen diesen Dingen hatte natürlich Stalin ein sehr direktes Interesse. Trotzkis Hauptrolle während dieser Zeit war die eines unbeugsamen Kritikers Stalins und der Bürokratie, die Rußland regierte. Trotzkis einzigartige Vergangenheit als Sowjetführer, verbunden mit seiner Kenntnis der Männer, die Rußlands Geschicke lenkten, befähigte ihn, jede stalinistische Taktik zu durchschauen, ihre Bedeutung innerhalb des Zusammenhangs der stalinistischen Ziele zu erfassen und präzis vorauszusagen, welches die Folgen sein würden. Er sagte voraus, daß Stalins Krieg gegen die anderen sozialistischen Parteien Hitler nur schneller zur Macht verhelfen würde, was dann auch eintraf. Und als Hitler an der Macht war und der alarmiette Stalin plötzlich seine Taktik umkehrte und in der sogenannten „Volksfront“-Periode zu den Demokratien stieß, sagte Trotzki voraus, daß Stalin abermals eine Schwenkung machen und seine demokratischen Bundesgenossen im Stich lassen werde, wenn die günstige Gelegenheit dazu gegeben sein würde. Dieser Zeitpunkt kam natürlich, und zwar am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als Stalin den Nichtangriffspakt mit Hitler unterzeichnete und nicht nur den Demokratien, sondern auch den sozialistischen Bewegungen den Rücken kehrte, indem er Hitler freie Hand ließ zu seinem Eroberungskrieg.

So verblüffend Trotzkis Vorhersagegewalt war – verblüffend, weil alle anderen es vorzuziehen schienen, sich von Stalin täuschen zu lassen –, seine Worte wurden kaum gehört. Dem geräuschvollen Trommelfeuer von Lügen und Entstellungen, das von Stalins weltweitem Propagandaapparat ausging, unterstützt von dem hysterischen Geschrei, das aus Berlin herüberdrang, gelang es, alle Worte der Warnung zu übertönen, die Trotzki von sich geben mochte. Die Demokratien, die durch eine Befolgung seiner Worte am meisten zu gewinnen hatten, mißtrauten ihm. Als Anwalt der Weltrevolution war Trotzki ebensosehr ihr Feind wie Stalin, und in der verwirrenden Atmosphäre der Anklagen und Gegenanklagen war es zu erwarten, daß nur ein kleiner Kreis von Auserwählten zwischen den Lügen des einen Kommunisten und den Voraussagen des anderen Kommunisten zu unterscheiden verstand. Gerade die erschreckende Verwirrung ist es vielleicht, die Trotzkis Rolle während jener Jahre so viele Erschwernisse und Enttäuschungen bereitet hat.

Im Jahre 1935 war die Situation für Trotzki in Frankreich schließlich kritisch geworden, und die Regierung forderte ihn auf, das Land zu verlassen. Ehe er jedoch im Juni abreiste, richtete er einen offenen Brief an die französischen Arbeiter. Darin legte er mit der bemerkenswerten Klarheit, die das Kennzeichen seines Stils war, die Gründe für sein Fortgehen dar, Im letzten Absatz rief er dann seine Losung aus: „Der Stalinismus ist jetzt die eiternde Pestbeule der Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt; wir müssen ihn vernichten; und wir müssen abermals das Proletariat sammeln unter det Fahne von Marx und Lenin.“

Norwegen war es, daß Trotzki und seiner Gruppe das nächste Asyl gewährte. Anfangs ging alles gut. Die Trotzkis waren Gäste im Hause Konrad Knudsens, eines sozialistischen Abgeordneten der Storting. In fünfundvierzig Meilen Entfernung von Oslo konnte Trotzki nach den zwei hektischen Jahren in Frankreich den ruhevollen Frieden der norwegischen Landschaft genießen. Er arbeitete jetzt an einem Buch, dem er große Bedeutung beimaß und in dem er das Anwachsen und die inneren Widersprüche der neuen, in der Sowjetunion an der Macht befindlichen Bürokratie umriß. Das Buch war The Revolution Betrayed.

Darin argumentierte er, daß der grundlegende Widerspruch der sowjetischen Gesellschaft gefunden werden könne in den beiden entgegengesetzten Kräften, die innerhalb der UdSSR am Werke wären. Die eine entwickele die Produktionsmittel und schaffe dadurch die wirtschaftlichen Grundlagen des Sozialismus. Die andere führe zu einer immer größeren Zuteilung des gewonnenen Reichtums an die allmächtige Bürokratie und bereite somit den Weg zurück zum Kapitalismus vor. Trotzki behauptete, daß die Stalinbürokratie, die den Staat beherrschte, deshalb die Oktoberrevolution verrate. Sie habe sie jedoch noch nicht völlig liquidiert

Er sah den Kern des Problems in der Frage des Privateigentums und der Erbschaft. Die Sowjetbürokratie kontrolliere die Produktionsmittel und erziele mit ihnen die größten materiellen Gewinne, aber die Mitglieder dieser Bürokratie könnten diese Gewinne noch nicht für die Dauer an ihre Erben weitergeben und so eine neue erbliche Herrschaftsklasse einrichten. Der entscheidende Punkt werde erreicht werden in dem Konflikt zwischen der Sowjetbürokratie und einer neuen politischen Revolution, die Trotzki zuversichtlich erwartete.

Das norwegische Idyll ging jäh zu Ende, als eine Gruppe von Faschisten aus Knudsens Haus Trotzkis Papiere zu entwenden versuchte. Trotzki und die Knudsens befanden sich gerade auf einer Erholungsreise, aber Knudsens Tochter war zu Hause geblieben und in der Lage gewesen, die Faschisten zu verscheuchen. Wenn der Versuch somit auch gescheitert war und der Vorfall an sich nicht viel bedeutete, so rief er doch eine örtliche politische Debatte hervor, die mit der Eröffnung der Moskauer Prozesse zusammenfiel, in denen Stalin eine Anzahl seiner Kremlgenossen einer Verschwörung im Bunde mit Trotzki zum Umsturz des Sowjetregimes anklagte. Sofort wurde die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf Trotzki in diesem kleinen norwegischen Dorf gelenkt, das sofort die Journalisten belagerten. Dem ließ, von seinem norwegischen Wohnsitz aus an die Welt gerichtet, Trotzki die emphatische Zurückweisung aller Anklagen Stalins folgen. Im gleichen Atemzug forderte Trotzki Stalin dazu heraus, ihn von Norwegen ausliefern zu lassen. Da Trotzki begriff, daß dies eine Untersuchung seitens der Regierung zur Folge haben würde – mit anderen Worten einen öffentlichen Prozeß –, wußte er auch, daß er in der Lage sein würde, Stalins Gründe für das Auslieferungsbegehren zunichte zu machen und öffentlich als Sieger aus dem Prozeß hervorzugehen. Der Sowjetdiktator nahm jedoch klugerweise die Herausforderung nicht an.

Die Moskauer Prozesse endeten natürlich mit der Verurteilung der Angeklagten, die kurz darauf hingerichtet wurden. Stalin hatte inzwischen die Norweger wissen lassen, daß sie seitens der Sowjetunion mit Strafmaßnahmen gegen den norwegischen Handel rechnen müßten, wenn sie Trotzki nicht sofort zum Schweigen brächten. Unter diesem Druck sah sich die norwegische Regierung veranlaßt, Trotzki in einem kleinen Dorf zwanzig Meilen von Oslo entfernt unter Hausarrest zu stellen. Dort blieben Trotzki und seine Frau drei Monate und zwanzig Tage.

Als nächstes Land bot Mexiko Trotzki Asyl an. Die Abreise von Norwegen, auf einem norwegischen Tanker, vollzog sich unter strengen Sicherheitsvorkehrungen. Die norwegische Regierung, die ängstlich darauf bedacht war, daß alles geheim blieb, gestattete Trotzki nicht einmal, seinen vielen Freunden im Lande Lebewohl zu sagen.

Am 9. Januar 1937 legte der Tanker im Hafen von Tampico an. Dort löste sich die Beklemmung der Trotzkis, als sie sahen, daß eine Gruppe von Freunden gekommen war, sie abzuholen. Man fuhr dann mit dem Zug nach Mexiko City, wo die Trotzkis als Gäste des großen mexikanischen Künstlers Diego Rivera und seiner Frau Frida Kahlo unterkamen. In dieser kongenialen Atmosphäre machte sich Trotzki abermals an die Arbeit.

Er durfte keine Zeit verlieren. Der zweite Moskauer Prozeß war in Vorbereitung, und Trotzki wußte, daß einer der Gründe zu diesem neuen Prozeß darin bestand, die Zweifel zu zerstreuen, die der erste im Westen geweckt hatte, besonders unter den Kommunisten. Der Prozeß begann früher als erwartet, bereits vierzehn Tage nach Trotzkis Ankunft in Tampico. Auch ging er zu Ende, ehe man viel hatte unternehmen können, denn es war Stalins Taktik, den Prozeß durchzuführen und die Opfer hinrichten zu lassen, bevor die Weltmeinung Zeit gehabt hatte, darauf zu reagieren.

In seiner Antwort auf den zweiten Prozeß forderte Trotzki abermals Stalin dazu heraus, seine Auslieferung zu verlangen, und wiederum hob Stalin den Handschuh nicht auf. Das Meistergehirn im Kreml wollte auf seine Weise mit Trotzki fertigwerden, wenn die Zeit dazu gekommen war.

Inzwischen waren verschiedene Ausschüsse, die man während des ersten Prozesses in der ganzen Welt ins Leben gerufen hatte, durch den zweiten Prozeß zu neuer Tätigkeit angeregt worden. In New York versammelten sich über 3.000 Menschen, um eine Botschaft zu hören, in der Trotzki die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission verlangte, die Stalins Anklage nachprüfen sollte – eine Kommission, zusammengesetzt aus Persönlichkeiten, deren Integrität außer Zweifel stand. „Wenn die Kommission mich auch nur des geringsten der Verbrechen für schuldig befindet, deren Stalin mich anklagt“, sagte Trotzki, „werde ich mich selbst den Henkern der GPU ausliefern.“

Eine Untersuchungskommission wurde sofort gebildet, und John Dewey, der bekannte Philosoph und Erzieher, übernahm die Verantwortung des Vorsitzes. Andere Mitglieder waren John Chamberlain, E.A. Ross, Suzanne La Follette, Ben Stolberg, Wendelin Thomas, Otto Rühle, Carlo Tresca, Alfred Rosmer und Francisco Zamora.

Die Kommission hielt ihre Sitzungen in Coyoacan ab, in dem Haus, das Diego Rivera Trotzki zur Verfügung gestellt hatte. Vom 10. bis zum 17. April fanden dreizehn Sitzungen statt, in denen jede Anklage, auch die absurdeste, genau nachgeprüft wurde. Nach dieser gründlichen Untersuchung erstattete die Kommission der Öffentlichkeit in einer Versammlung in New York Bericht. im Dezember dann, als die Kommission ihre Arbeit beendet hatte, sprach John Dewey das Urteil: Trotzki und sein Sohn Leo Sedow wurden für nicht schuldig befunden. Die vollständigen Aufzeichnungen über die Arbeit der Kommission wurden bei Harper (New York) unter dem Titel The Case of Leon Trotsky veröffentlicht.

Trotzki und seine Freunde erfüllte die Nachricht mit großer Freude – es war vielleicht die größte Freude, die Trotzki seit Beginn seines Exils erlebt hatte. Trotz ständiger Diffamierung durch das weltumspannende Propagandanetz Stalins lag nun endlich der Bericht über den wahren Sachverhalt vor, so daß alle ihn einsehen konnten.

Aber Trotzkis Freude sollte nicht von langer Dauer sein. Zwei Monate später starb sein Sohn Leo Sedow, der so viel erduldet hatte als treuester Begleiter und Mitarbeiter seines Vaters, in Paris nach einer Blinddarmoperation. Sedows Tod war eine große persönliche Tragödie für Trotzki. Außerdem ließen die äußeren Umstände von Sedows Tod so viele Fragen unbeantwortet, daß der starke Verdacht bestand, der NKWD könne etwas damit zu tun gehabt haben. Stalins Geheimpolizei hatte keine Skrupel gehabt mit ihrem Plan bezüglich der Trotzkisten – Ausrottung der Anhänger Trotzkis innerhalb Rußlands wie außerhalb Rußlands.

Im Jahre 1939, zehn Jahre nach seiner Ausweisung aus Rußland, war Trotzki immer noch frei und am Leben, aber die Liste seiner Freunde, Verwandten und Genossen innerhalb und außerhalb Rußlands, die auf diese oder jene An von Stalins Leuten ermordet, hingerichtet oder eingekerkert worden waren, war bereits erschreckend lang.

Im Jahre 1939 begannen sich auch die zehn Jahre erschöpfenden Exildaseins ernstlich auf Trotzkis Gesundheit auszuwirken. Den Sommer dieses Jahres verbrachte er auf angenehme Weise in Taxco, wo ein Seminar organisiert worden war. Es war dies eine verhältnismäßig ruhige Zeit – die Ruhe vor dem letzten Sturm.

Die Ruhe hielt nicht lange an, denn Ende August handelte Stalin mit Hitler bereits seinen berüchtigten Pakt aus. Trotzki hatte diese Wendung der Dinge vorausgesagt, und er wußte, daß sie jetzt nur eines bedeuten konnte: Krieg.

Wieder folgte eine hektische Periode des Schreibens und Diskutierens in Coyoacan, jener Vorstadt von Mexiko City, in der Trotzki seinen ständigen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Das Haus, das unter ständiger Beobachtung durch stalinistische Agenten stand, war notwendigerweise gut bewacht Es bestand immer die Gefahr eines Mordversuchs. Die Gefahr bedingte natürlich die strengsten Sicherheitsmaßnahmen, die es Trotzki so gut wie unmöglich machten, irgendwelche Bewegungsfreiheit zu genießen oder aktiv am sozialen und kulturellen Leben Mexikos teilzunehmen.

Es tat sich vieles: Trotzki arbeitete an einer Biographie Stalins, sein Haus war das Ziel eines endlosen Pilgerstroms von Trotzkisten und Sozialisten, und ein Schisma hatte sich innerhalb der Vierten Internationalen entwickelt, die er ein Jahr zuvor hatte gründen helfen. Ein großer Teil der Gruppe hatte beschlossen, angesichts des Hitler-Stalin-Paktes die UdSSR nicht mehr zu unterstützen. Trotzki jedoch kämpfte lange und verbissen gegen diese drohende Spaltung innerhalb der Reihen steiner Bewegung an. Er vertrat immer noch die Meinung, daß trotz Stalins und der Diktatur der Bürokratie die UdSSR das Hauptbollwerk des Weltproletariats sei und daß deshalb die erste Pflicht des Arbeiters darin zu bestehen habe, sie zu unterstützen. Aber Trotzki vermochte einen großen Teil seiner Gefolgsleute nicht davon zu überzeugen, daß es möglich sei, die UdSSR zu verteidigen, ohne gleichzeitig Stalin und damit Hitler zu verteidigen. Das Schisma innerhalb der trotzkistischen Gruppe wurde Wirklichkeit.

Meinungsverschiedenheiten in den Reihen des Trotzkismus waren aber nur das geringere Problem, mit dem Trotzki zu kämpfen hatte. Die Stalinisten in Mexiko verfolgten ihre eigene Anti-Trotzki-Kampagne in der üblichen lautstarken, fanatischen Weise mit Hilfe der stalinistischen Presse. Doch diesmal war die gedruckte Kampagne von einer mündlichen begleitet, die nach Blut schrie. „Nieder mit Trotzki“ war jetzt die stalinistische Losung.

Dieses Kriegsgeschrei war lediglich die psychologische Vorbereitung auf die Aktion, denn am 22. Mai 1940 wurde Trotzkis Haus von einer Gruppe von Stalinisten angegriffen und mit Maschinengewehren beschossen. Wie durch ein Wunder blieben Trotzki und seine Frau unverletzt. Wegen dieses Fehlschlages kam als nächste Taktik der stalinistischen Presse nur eines in Frage: man klagte Trotzki an, den Angriff selbst inszeniert zu haben, um die Stalinisten zu diskreditieren. Die unglaubliche These wurde zunächst von vielen geglaubt, bis die Polizei schließlich ans Werk ging und die wirklichen Anstifter des Anschlags verhaftete – siebenundzwanzig Personen.

Inzwischen waren viele naive Leute zu der Ansicht gelangt, daß die Stalinisten nun Trotzki ein für allemal in Ruhe lassen würden. Aber sogar die alten Stalinisten glaubten an das alte Sprichwort, daß man es eben noch einmal versuchen müsse, wenn es beim erstenmal nicht geklappt habe. Und das taten sie auch, und diesmal fingen sie es bedeutend geschickter an. Die Verteidigung des Trotzkischen Hauses war inzwischen wesentlich verstärkt worden, so daß ein Angriff auf das Haus selbst keinen Erfolg versprach. Wenn Trotzki getötet werden sollte, mußte man die Sache gewissermaßen „von innen heraus aufziehen“.

Der Plan zur Ermordung Trotzkis wurde in Moskau etwa um die Zeit gefaßt, als Trotzki in Mexiko Unterschlupf suchte. Die Moskauer Prozesse hatten bereits viele von Stalins wirklichen und eingebildeten Feinden beseitigt, und die außerhalb Rußlands Lebenden waren auf die Henkersliste gesetzt worden. Trotzkis Name stand natürlich von Anfang an ganz oben. Der Mann, der den Auftrag ausführen sollte, war ein gewisser Ramon Mercader, ein Spanier, der in der NKWD-Schule in Moskau ausgebildet worden war. Der Plan sah vor, daß Mercader sich unter einem falschen Namen in den Trotzkischen Haushalt einschleichen sollte, indem er eine Frau aus dem Freundeskreis der Familie verführte. Dies geschah auch, und Mercader verschaffte sich mehrmals Zugang zur Trotzkischen Villa, wobei er das Gebäude gründlich in Augenschein nehmen und den Plan für den frontalen Angriff entwerfen konnte, der am 24. Mai stattfand. Wenn dieser fehlschlug, sollte, so war entschieden worden, Mercader die Tat selbst aus führen. Sogar nach dem ersten Überfall hatte Trotzki ihn noch nicht in Verdacht und man gestattete ihm weiterhin den Zugang zur Villa.

Am 17. August ging Mercader mit dem Konzept eines Artikels zu Trotzki. Dieser hatte sich bereit erklärt, es durchzusehen. Die beiden Männer verbrachten elf Minuten allein in Trotzkis Arbeitszimmer, und während dieser Zeit hatte Mercader genügend Gelegenheit, sich mit dem Raum vertraut zu machen und die letzten Entschlüsse zu fassen. Es war eine Art „Kostümprobe“ für den Mord.

Mercader suchte einige Tage später, am 20. August, mit dem jetzt fertigen Artikel erneut die Villa auf. Trotzki führte ihn wiederum in sein Arbeitszimmer. Über dem Arm trug Mercader einen Regenmantel, unter dem ein Dolch, eine Pistole und ein Eispickel verborgen waren. Trotzki setzte sich an seinen Schreibtisch, um den Artikel zu lesen; wenige Augenblicke später schlug Mercader hinterrücks Trotzki den Eispickel in den Schädel, daß die Spitze fast sieben Zentimeter tief ins Gehirn eindrang. Überraschenderweise führte der Schlag nicht auf der Stelle den Tod herbei. Trotzki stieß einen Schrei aus, erhob sich und rang mit Mercader. Wenige Sekunden darauf stürzten Trotzkis Leibwächter herein, und Mercader wurde überwältigt. Aber der Auftrag war ausgeführt. Sechsundzwanzig Stunden später starb Leo Trotzki auf dem Operationstisch.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003