Leo Trotzki

 

Mein Leben


Die erste Verbannung

Wir fuhren die Lena hinab. Der Strom trug langsam einige Barken mit Sträflingen und Wachen. In den Nächten war es eiskalt, und die Pelze, mit denen wir uns zudeckten, waren am Morgen vom Reif naß. Unterwegs wurden die Sträflinge einzeln oder zu zweit an den Bestimmungsdörfern abgesetzt. Bis zum Dorfe Ustj-Kut schwammen wir, wie ich mich erinnern kann, annähernd drei Wochen. Hier setzte man mich zusammen mit der mir nahestehenden, in dem Nikolajewer Prozeß zur Verbannung verurteilten Alexandra Lwowna ab. Alexandra Lwowna nahm einen der ersten Plätze in dem Südrussischen Arbeiterbund ein. Ihre tiefe Ergebenheit für den Sozialismus unter völliger Preisgabe alles Persönlichen gab ihr eine unbestrittene moralische Autorität. Die gemeinsame Arbeit hatte uns eng verbunden. Um nicht getrennt angesiedelt zu werden, hatten wir uns im Moskauer Etappengefängnis trauen lassen.

Das Dorf bestand aus etwa hundert Holzhäusern. Wir nahmen in dem letzten Wohnung. Ringsherum Wald, unten der Fluß. Weiter gegen Norden die Lena entlang lagen Goldgruben. Der Widerschein des Goldes spielte auf der ganzen Lena. Ustj-Kut hatte einst bessere Tage gesehen – mit wüsten Gelagen, Plünderungen und Raub. Zu unserer Zeit war alles schon ruhig. Das Saufen allerdings war geblieben. Der Wirt und die Wirtin unserer Hütte waren niemals nüchtern. Es war ein finsteres, dumpfes Leben, fern von aller Welt. Nachts erfüllten Schaben das Haus mit unruhigem Geknister; sie krochen auf Tisch, Bett und Gesicht. Man war von Zeit zu Zeit gezwungen, das Haus zu verlassen, um für ein bis zwei Tage bei dreißig Grad Kälte die Türen und Fenster zu öffnen. Im Sommer gab es die Mückenplage. Die Mücken hatten eine Kuh, die sich im Walde verirrte, buchstäblich totgestochen. Die Bauern trugen ein Netz aus Pferdehaaren mit Teer beschmiert über dem Gesicht. Im Herbst und Frühling versank das Dorf im Schlamm. Dafür aber war die Natur herrlich. Doch in jenen Jahren blieb ich kühl gegen sie. Mir tat es gewissermaßen leid, Aufmerksamkeit und Zeit an sie zu verschwenden. Ich lebte zwischen Wald und Fluß, fast ohne sie zu beachten. Bücher und persönliche Beziehungen füllten mein Leben aus. Ich studierte Marx, dabei die Schaben von den Buchseiten jagend.

Lena war der große Wasserweg der Verbannten. Wessen Frist abgelaufen war, der kehrte auf dem Fluß nach dem Süden zurück. Die Verbindung zwischen den einzelnen Verbannungsnestern, die mit dem Anwachsen der Revolution zunahmen, war fast niemals unterbrochen. Die Verbannten tauschten Briefe aus, die zu theoretischen Traktaten anwuchsen. Versetzungen aus einem Ort in einen anderen bewilligte der Gouverneur von Irkutsk verhältnismäßig leicht. Ich zog mit Alexandra Lwowna 250 Werst weiter nach dem Osten, an den Fluß Ilim, wo Freunde von uns lebten. Don war ich kurze Zeit in Stellung im Büro eines Kaufmanns,. eines Millionärs. Seine Lager mit Rauchware, seine Läden und Schenken waren verstreut auf einer großen Fläche so groß wie Belgien und Holland zusammen. Er war ein mächtiger Handelsherr. Die vielen Tausend der ihm untergebenen Tungusen nannte er „meine Tungus’chen“. Seinen Namen zu schreiben war er nicht. imstande und malte statt dessen ein Kreuz hin. Er lebte das ganze Jahr geizig und ärmlich und verjubelte dann Zehntausende und Aberzehntausende auf dem Jahrmarkt. in Nischni-Nowgorod. Ich war bei ihm anderthalb Monate in Stellung. Einmal notierte ich ein Pud Kupferfarbe statt eines Pfundes und schickte eine ungeheure Rechnung an einen entfernten Kunden. Mein Ruf war damit untergraben und ich verließ die Stellung. Wir kehrten nach Ustj-Kut zurück. Es war ein böser Winter, der Frost erreichte 44 Grad Reaumur. Der Fuhrmann riß mit den Fausthandschuhen die Eiszapfen von den Pferdeschnauzen ab. Auf dem Schoß hielt ich unser zehn Monate altes Mädchen. Sie atmete durch einen Pelzschornstein, den wir über ihrem Gesicht errichtet hatten. Auf jeder Station nahmen wir das Kind besorgt aus den Hüllen, in die es eingwickelt war, heraus. Die Reise verlief jedoch glücklich. In Ustj-Kut blieben wir nicht lange. Nach einigen Monaten erlaubte uns der Gouverneur, etwas südlicher, nach Wercholensk überzusiedeln, wo wir ebenfalls Freunde hatten.

Die Aristokratie der Verbannung waren die alten Narodniki, die sich mit der Zeit auf die eine oder die andere Weise hier eingerichtet hatten. Die jungen Marxisten bildeten eine besondere Schicht. Zu meiner Zeit trafen im Norden schon wegen Streiks verurteilte Arbeiter ein; sie waren zufällig aus der Masse herausgegriffen worden, häufig waren es halbe Analphabeten. Für diese Arbeiter war die Verbannung eine unersetzbare Schule der Politik und der Kultur überhaupt. Geistige Meinungsverschiedenheiten nahmen, wie überall, wo Menschen zwangsweise angehäuft werden, oft die Form von Gezänk an. Private, besonders romantische Konflikte entwickelten sich nicht selten zu Dramen. Aus diesem Grunde geschahen auch Selbstmorde. In Wercholensk mußten wir der Reihe nach einen Kiewer Studenten überwachen. Ich hatte glitzernde Metallspäne auf seinem Tisch entdeckt. Es stellte sich heraus, daß er für sein Jagdgewehr aus Blei Kugeln zurechtgehobelt hatte. Wir haben ihn nicht behüten können. Den Lauf auf das Herz gerichtet, drückte er den Hahn mit der Zehe ab. Wir begruben ihn schweigend auf einer Anhöhe. Vor Reden hatten wir damals noch, wie vor etwas Falschem, eine Scheu. In allen größeren Verbannungskolonien gab es Gräber von Selbstmördern. Einige Verbannte, besonders in den Städten, gingen in dem Milieu der Umgebung auf. Wieder andere verfielen der Trunksucht. Nur die intensive Arbeit an sich selbst vermochte in der Verbannung wie im Gefängnis Rettung zu bringen. Man darf sagen, theoretisch haben fast nur die Marxisten gearbeitet.

Jeden neuen Schub erwarteten wir mit größter Spannung. Auf dem großen Lenaer Wege lernte ich in jenen Jahren Dserschinski, Uritzki und viele andere junge Revolutionäre kennen, denen es bevorstand, in der Zukunft eine große Rolle zu spielen. In einer dunklen Frühlingsnacht, bei einem Scheiterhaufen am Ufer der breit aus ihrem Flußbett getretenen Lena, las Dserschinski ein Poem vor, das er in polnischer Sprache verfaßt hatte. Sein Gesicht und seine Stimme waren herrlich, aber das Poem war schwach. Das Leben dieses Menschen wurde später selbst zu einem düstern Poem.

Bald nach meiner Ankunft in Ustj-Kut begann ich an der Irkutsker Zeitung Östliche Rundschau mitzuarbeiten. Das war ein legales Provinzblatt, von den alten Narodniki in der Verbannung geschaffen, dessen sich aber zeitweilig die Marxisten bemächtigten. Ich begann mit Dorfkorrespondenzen, wartete erregt auf das Erscheinen der ersten und ging, von der Redaktion ermuntert, zur literarischen Kritik und zur Publizistik über. Um ein Pseudonym zu finden, machte ich aufs Geratewohl ein italienisches Wörterbuch auf; da stieß ich auf das Wort antidoto, und nun unterschrieb ich während vieler Jahre meine Artikel mit Antid Oto; meinen Freunden erklärte ich scherzend, ich wolle in die legale Presse ein marxistisches Gegengift einführen. Das Blatt erhöhte ganz unerwartet für mich das Honorar von zwei Kopeken auf vier Kopeken die Zeile. Das war der höchste Ausdruck der Anerkennung. Ich schrieb über das Bauerntum, über die russischen Klassiker, über Ibsen, Hauptmann, Nietzsche, über Maupassant und Estaunié, über Leonid Andrejew und Gorki. Ich durchwachte Nächte, meine Manuskripte kreuz und quer durchstreichend auf der Suche nach einem passenden Gedanken oder einem fehlenden Wort. Ich wurde Schriftsteller.

Seit dem Jahre 1896, als ich noch gegen die revolutionären Ideen ankämpfte, und seit 1897, als ich bereits revolutionäre Arbeit ausübte, aber mich noch gegen die Theorie des Marxismus wehrte, hatte ich schon ein großes Stück Wegs zurückgelegt. Zur Zeit meiner Verbannung war der Marxismus für mich endgültig die Basis meiner Weltanschauung und die Methode meines Denkens geworden. In der Verbannung versuchte ich unter dem mir jetzt vertrauten Gesichtswinkel an die sogenannten „ewigen“ Fragen des menschlichen Daseins heranzugehen: Liebe, Tod, Freundschaft, Optimismus, Pessimismus und so weiter. Zu verschiedenen Epochen und in den verschiedenen sozialen Milieus liebt, haßt und hofft der Mensch auf verschiedene Art und Weise. Wie der Baum durch seine Wurzeln die Blätter nährt, wie die Blumen und die Früchte sich von den Säften des Bodens ernähren, so findet die Persönlichkeit für ihre Gefühle und Gedanken, selbst für die „hohen“, Nahrung in dem ökonomischen Fundament der Gesellschaft. In meinen damaligen Artikeln über Literatur bearbeitete ich. im wesentlichen fast nur das eine Thema: Persönlichkeit und Gesellschaft. Vor nicht gar so langer Zeit sind diese Artikel gesammelt erschienen. Schriebe ich sie heute, ich würde sie anders schreiben. Wesentliches aber würde ich daran nicht zu ändern brauchen.

Der offizielle oder legale russiche Marxismus durchlebte in jener Zeit eine gewaltige Krise. Ich sah jetzt am lebendigen Beispiel, wie ungeniert neue soziale Bedürfnisse sich geistige Trachten schaffen aus dem theoretischen Stoff, der für ganz andere Ziele bestimmt ist. Bis zu den neunziger Jahren verharrte die russische Intelligenz zu einem enormen Teil in der Volkstümlerei mit deren Ablehnung des Kapitalismus und der Idealisierung der bäuerlichen Gemeinde (Obschtschina). Unterdessen klopfte der Kapitalismus an alle Türen und versprach den Intellektuellen in der Zukunft allerhand materielle Vorteile und eine bedeutende politische Rolle. Die bürgerlichen Intellektuellen brauchten das scharfe Messer des Marxismus, um die Nabelschnur der Volkstümlerei zu durchschneiden, die sie mit der lästig gewordenen Vergangenheit verband. Daher die schnelle und siegreiche Ausbreitung der marxistischen Ideen während der letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts. Aber kaum hatte die Theorie von Marx diese Aufgabe erfüllt, als sie die Intellektuellen schon zu beengen begann. Die Dialektik war dazu gut gewesen, die Fortschrittlichkeit der kapitalistischen Entwicklungsmethode nachzuweisen. Wo aber ihre revolutionäre Ablehnung des Kapitalismus begann, da erwies sich die Dialektik als hemmend und wurde als veraltet erklärt. An der Grenze zweier Jahrhunderte – für mich fiel es zusammen mit den Jahren der Gefängnisse und der Verbannung – machte die russische Intelligenz eine Periode der allgemeinen Kritik des Marxismus durch. Sie hatte dem Marxismus den Beweis für die historische Berechtigung des Kapitalismus entnommen, aber seine revolutionäre Ablehnung des Kapitalismus verworfen. Auf diesen Umwegen verwandelte sich die archaistisch-volkstümlerische in eine liberal-bürgerliche Intelligenz.

Die europäische Kritik des Marxismus fand jetzt in Rußland großen Absatz, unabhängig von ihren Qualitäten. Es genügt die Feststellung, daß Eduard Bernstein einer der populärsten Führer vom Sozialismus zum Liberalismus wurde. Die normative Philosophie verdrängte immer siegreicher die materialistische Dialektik. Die öffentliche Meinung der sich formierenden Bourgeoisie brauchte unbeugsame Normen – nicht nur gegen die Willkür der absolutistischen Bürokratie, sondern auch gegen die Zügellosigkeit der revolutionären Massen. Indem Kant Hegel stürzte, konnte auch er sich nicht mehr lange auf den Beinen halten. Der russische Liberalismus kam spät und führte sein Dasein von Anfang an auf vulkanischem Boden. Der kategorische Imperativ erwies sich für ihn als eine zu abstrakte und unzuverlässige Sicherung. Gegen die revolutionären Massen waren stärker wirkende Mittel nötig. Die transzendentalen Idealisten verwandelten sich in rechtgläubige Christen. Der Professor der politischen Ökonomie, Bulgakow, hatte mit der Revision des Marxismus in der Agrarfrage begonnen, ging dann zum Idealismus über und endete damit, daß er den Priesterrock anzog. Allerdings kam der Priesterrock erst einige Jahre später.

In den ersten Jahren des Jahrhunderts bildete Rußland ein riesiges Laboratorium sozialer Ideologien. Meine Arbeit über die Geschichte der Freimaurerei hatte mich hinreichend ausgerüstet, um die untergeordnete-Funktion der Ideen im historischen Prozeß zu begreifen. „Ideen fallen nicht vom Himmel“, wiederholte ich mit dem alten Labriola. Jetzt ging es nicht mehr um ein rein wissenschaftliches Interesse, sondern um die Wahl des politischen Weges. Der Kampf um den Marxismus, der sich überall abspielte, half mir, wie vielen anderen jungen Revolutionären, die Gedanken zu sammeln und die Waffen zu schärfen. Wir haben den Marxismus nicht nur dazu nötig gehabt, um mit der Volkstümlerei, die uns kaum berührt hatte, fertigzuwerden, nein, wir haben ihn vor allem dazu gebraucht, um den unversöhnlichen Kampf gegen den Kapitalismus auf seinem eigenen Gebiet zu eröffnen. Der Kampf gegen den Revisionismus stählte uns nicht nur theoretisch, sondern auch politisch. Wir wurden proletarische Revolutionäre.

Zu jener Zeit stießen wir mit der Kritik von links zusammen. In einer der nördlichsten Kolonien, ich glaube in Wilujsk, lebte der Verbannte Machajski, dessen Name bald danach ziemliche Berühmtheit erlangte. Machajski begann mit der Kritik des sozialdemokratischen Opportunismus. Sein erstes hektographiertes Heft, der Entlarvung des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie gewidmet, hatte unter den Verbannten großen Erfolg. Das zweite Heft war eine Kritik des ökonomischen Systems von Marx und kam zu der unerwarteten Schlußfolgerung, daß der Sozialismus eine Gesellschaftsordnung darstelle, die auf der Ausbeutung der Arbeiter durch die professionellen Intellektuellen beruhe. Das dritte Heft im Geiste des Anarchosyndikalismus begründete die Ablehnung des politischen Kampfes. Einige Monate lang stand die Arbeit Machajskis im Zentrum der Aufmerksamkeit der Verbannten an der Lena. Für mich war sie eine wirksame Impfung gegen den Anarchismus, der sehr ausschweifend in der Ablehnung durch Worte, aber leblos und sogar feig in praktischen Schlußfolgerungen ist.

Einem lebendigen Anarchisten begegnete ich zum erstenmal im Moskauer Etappengefängnis. Das war der Volksschullehrer Lusin, ein verschlossener, wortkarger, harter Mensch. Im Gefängnis zeigte er stets Neigung für die Kriminellen und lauschte mit Interesse ihren Erzählungen über Mord und Raub. In theoretische Diskussionen ließ er sich ungern ein. Nur einmal, als ich ihm immer wieder mit der Frage zusetzte, wie man in den autonomen Gemeinden die Eisenbahnen verwalten würde, antwortete mir Lusin: Zu welchem Teufel werde ich unter dem Anarchismus mit der Eisenbahn zu fahren brauchen? Diese Antwort genügte mir. Lusin versuchte, Arbeiter auf seine Seite zu ziehen, und zwischen uns ging ein versteckter Kampf, der von Gehässigkeiten nicht frei war. Wir machten gemeinsam den Weg nach Sibirien. Während des hohen Wasserstandes beschloß Lusin, mit einem Boot über die Lena zu fahren. Er war nicht ganz nüchtern und warf mir eine Herausforderung hin. Ich erklärte mich bereit, mit ihm zu fahren, Auf dem aus den Ufern getretenen Fluß schwammen Baumstämme, Tierleichen, es gab auch nicht wenig Wasserstrudel. Die Überfahrt vollzog sich nicht ohne Aufregung, aber doch glücklich. Düster stellte mir Lusin ein mündliches Zeugnis aus: ein guter Kamerad oder so etwas Ähnliches, Unsere Beziehungen besserten sich. Bald wurde er weiter nach dem Norden verschickt. Einige Monate später stach er dort mit einem Messer nach einem lsprawnik. Der Isprawnik war nicht bösartig und die Wunde nicht gefährlich. Vor Gericht erklärte Lusin, er habe gegen den Isprawnik persönlich nichts gehabt, er habe in dessen Person nur die Staatswillkür treffen wollen. Lusin kam in die Katorga.

Während man in den fernen, schneebedeckten Kolonien der sibirischen Verbannung leidenschaftlich über die Differenzierung der russischen Bauernschaft diskutierte, über die englischen Trade Unions, über das Verhältnis zwischen dem kategorischen imperativ und den Klasseninteressen, über Darwinismus und Marxismus, vollzog sich in den Regierungssphären ein anderer Ideenkampf. Der Heilige Synod exkommunizierte im Februar 1901 Leo Tolstoi. Die Botschaft des Synods veröffentlichten sämtliche Zeitungen. Tolstoi wurde sechs verschiedener Vergehen beschuldigt: 1. „leugnet den persönlichen lebendigen Gott, den in der Dreieinigkeit gepriesenen“; 2. „leugnet den von den Toten auferstandenen Gottmenschen Christus“; 3. „leugnet die unbefleckte Empfängnis und die Jungfräulichkeit Marias vor und nach Christi Geburt“; 4. „verneint das Leben nach dem Tode und das Jüngste Gericht“; 5. „leugnet die Gnadenwirkung des Heiligen Geistes“; 6. „lästert das Geheimnis des Abendmahls“. Die bärtigen, grauhaarigen Metropoliten, der sie inspirierende Pobedonoszew und alle die anderen Stützen des Staates, die uns Revolutionäre nicht nur als Verbrecher, sondern als wahnsinnige Fanatiker betrachteten, sich selber aber für Vertreter des nüchternen Gedankens hielten, der sich auf die historische Erfahrung der ganzen Menschheit stützt, diese Menschen forderten von dem großen realistischen Künstler, daß er glaube an die unbefleckte Empfängnis und den Heiligen Geist, der sich in Brotoblaten offenbart. Wir lasen wieder und wieder die Aufzählung der „Irrlehren“ Tolstois, jedesmal mit neuem Staunen, und sagten uns: nein, wir sind es, die sich auf die Erfahrung der ganzen Menschheit stützen, die Zukunft verkörpern wir, – und dort oben sitzen nicht nur Verbrecher, sondern auch Wahnsinnige. Und wir waren dessen gewiß, daß wir mit diesem Irrenhaus fertigwerden würden.

Das alte Staatsgebilde krachte in allen Fugen. Die Rolle der Schürer im Kampfe spielten noch immer die Studenten. Von Ungeduld getrieben, griffen sie zu terroristischen Akten. Nach den Schüssen von Kirpowitsch und Balmaschew fuhren die Verbannten auf, als hätten sie das Trompetensignal eines Alarms vernommen. Es entstanden Diskussionen über die Taktik des Terrors. Nach vereinzelttn Schwankun gen sprach sich der marxistische Teil der Verbannten gegen den Terrorismus aus. Die Chemie der Explosionsstoffe kann die Masse nicht ersetzen, sagten wir. Die einzelnen werden im heroischen Kampfe verbrennen ohne die Arbeiterklasse auf die Beine zu bringen. Unsere Sache ist nicht der Mord der zaristischen Minister, sondern die revolutionäre Niederwerfung des Zarismus. An diesem Punkte begann die Trennung der Sozialdemokraten von den Sozialrevolutionären. War für mich das Gefängnis eine Periode der theoretischen Bildung, so wurde mir die Verbannungszeit zu einer Periode der politischen Selbstbesinnung.

So vergingen zwei Jahre des Lebens. In dieser Zeit war viel Wasser unter den Brücken von Petersburg, Moskau und Warschau geflossen. Aus den unterirdischen Verstecken begann sich die Bewegung auf die Straßen der Städte zu ergießen. in manchen Gouvernements geriet die Bauernschaft in Bewegung. Sozialdemokratische Organisationen entstanden nun auch in Sibirien, entlang der Eisenbahn. Sie setzten sich mit mir in Verbindung. Ich schrieb für sie Aufrufe und Flugblätter. Nach einer dreijährigen Unterbrechung schloß ich mich wieder dem aktiven Kampfe an.

Die Verbannten wollten nicht mehr auf ihren Plätzen bleiben. Es begann eine Massenflucht. Man war gezwungen, eine Reihenfolge festzusetzen. Fast in jedem Dorfe begegnete man einzelnen Bauern, die schon als Jünglinge unter dem Einfluß der Revolutionäre der älteren Generation gestanden hatten. Geheim brachten sie die Politischen in Booten, Fuhrwerken oder Schlitten weg und gaben sie von Hand zu Hand weiter. Die sibirische Polizei war eigentlich ebenso ohnmächtig wie wir. Die Riesenflächen waren ihre Verbündeten, aber auch ihre Feinde. Einen Flüchtling einzufangen war schwer. Es gab mehr Chancen, daß er im Flusse ertrinken oder in der Taiga erfrieren würde.

Die revolutionäre Bewegung breitete sich aus, blieb aber noch ohne Zusammenhang. Jeder Bezirk, jede Stadt führte ihren eigenen Kampf. Der Zarismus hatte durch die Einheit seines Vorgehens ein großes Übergewicht. Die Notwendigkeit, eine zentralisierte Partei zu schaffen, bohrte in jener Zeit in vielen Gehirnen. Ich schrieb über dieses Thema ein Referat, das in Köpfen durch die Kolonien ging und eifrig diskutiert wurde. Es schien uns, daß unsere Gesinnungsgenossen im Lande und in der Emigration über diese Frage nicht genügend nachdachten. Aber sie dachten nach, und sie handelten. Im Sommer 1902 erhielt ich über Irkutsk Bücher, in deren Einband die neuesten ausländischen Publikationen, auf dünnstem Papier gedruckt, verborgen waren. Wir erfuhren, daß im Auslande eine marxistische Zeitung Iskra gegründet worden war, die es sich zur Aufgabe machte, eine zentralisierte Organisation der durch die eiserne Disziplin der Tat verbundenen Berufsrevolutionäre zu schaffen. Es kam das in Genf erschienene Buch von Lenin: Was tun?, das völlig dieser Frage gewidmet war. Meine handschriftlichen Referate, Zeitungsartikel und Proklamationen für den Sibirischen Bund erschienen mir nun unwichtig und krähwinkelhaft vor dem Antlitz der neuen grandiosen Aufgabe. Man mußte ein neues Arbeitsfeld suchen. Man mußte fliehen.

Wir hatten zu dieser Zeit schon zwei Töchter: die jüngste war noch nicht vier Monate alt. Das Leben unter den sibirischen Verhältnissen war schwer. Meine Flucht mußte Alexandra Lwowna eine doppelte Bürde auferlegen. Aber sie entschied diese Frage mit den Worten: es muß sein. Die revolutionäre Pflicht war für sie stärker als alle anderen Erwägungen, besonders persönlicher Art. Sie hatte als erste den Gedanken an meine Flucht gefaßt nachdem wir uns über die neuen Aufgaben klargeworden waren. Sie beseitigte alle auf diesem Wege auftauchenden Zweifel. Nach meiner Flucht maskierte sie mehrere Tage erfolgreich vor der Polizei meine Abwesenheit. Vom Auslande aus konnte ich mit ihr nur unter großen Schwierigkeiten den Briefwechsel aufrechterhalten. Für sie kam dann die zweite Verbannung. Wir trafen uns in der Zukunft nur vorübergehend. Das Leben hatte uns auseinandergebracht, aber es hat unsere geistige Verbindung und unsere Freundschaft unerschüttert bewahrt.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003