Leo Trotzki

 

Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale

Erster Teil:
Das Programm der internationalen Revolution oder das Programm des Sozialismus in einem Lande


Die wichtigste Frage auf der Tagesordnung des 6. Kongresses bildet die Annahme eines Programms. Der Charakter eines Programms kann auf lange Zeit das Gesicht der Internationale festlegen und bestimmen. Die Bedeutung eines Programms liegt nicht allein darin, dass es die theoretischen Formeln für die allgemeine Lage gibt. Hierbei läuft die Sache letzten Endes lediglich auf eine Kodifizierung, d.h. auf eine gedrängte Wiedergabe von endgültig erkämpften Wahrheiten und Verallgemeinerungen hinaus. In viel größeren Maße geht es hierbei um die Ziehung eines Fazits der politischen und wirtschaftlichen Erfahrungen in der letzten Periode, insbesondere aber der revolutionären Kämpfe der letzten fünf Jahre, die so reich an Ereignissen und Fehlern waren. Davon, wie diese Ereignisse, Fehler und Unstimmigkeiten in diesem Programm verstanden und bewertet werden, hängt im buchstäblichen Sinne des Wortes das Geschick der Kommunistischen Internationale für die nächste Reihe von Jahren ab.

 

1. Der allgemeine Programmaufbau

In unserem Zeitalter, welches ein Zeitalter des Imperialismus, d.h. der Weltwirtschaft und der Weltpolitik ist, welche durch das Finanzkapital beherrscht werden, vermag keine einzige nationale Sektion ihr Programm lediglich, oder auch nur vorwiegend aus den Bedingungen und Tendenzen der nationalen Entwicklung heraus aufzubauen. Dasselbe gib auch in bezug auf die Partei, welche die Macht innerhalb der UdSSR besitzt. Die Stunde der nationalen Programme hatte zum letzten Male am 4. August 1914 geschlagen. Eine revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des endgültigen Zusammenbruchs des Kapitalismus entspricht. Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme, eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als eines Ganzen hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d.h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der Vergangenheit nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Das bildet den grundlegenden und ursächlichen Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus. Aus diesen Erwägungen heraus schrieben wir im Januar diesen Jahres:

Man muss jetzt mit der Ausarbeitung eines Programms der Komintern beginnen. (Das Programm von Bucharin ist ein schlechtes Programm einer nationalen Sektion der Komintern und nicht das Programm der kommunistischen Weltpartei.) (Siehe Prawda vom 15. Januar 1928.)

Wir haben seit 1923/24, als vor uns das Problem der Weltpolitik und der europäischen Politik im buchstäblichen Sinne des Wortes in seiner ganzen Größe stand, nicht nachgelassen, auf diesen Schlussfolgerungen zu bestehen.

Die Prawda schrieb, als sie den neuen Entwurf empfahl, dass das kommunistische Programm sich von dem Programm der internationalen Sozialdemokratie von Grund aus unterscheide, und zwar nicht allein durch seine grundsätzlichen Hauptforderungen, sondern auch durch den charakteristischen Internationalismus seines Aufbaues. (Prawda vom 29. Mai 1928.)

Durch diese etwas unbestimmte Formulierung wird anscheinend derselbe Gedanke ausgedrückt, den wir weiter oben angeführt haben, der aber früher stets abgelehnt wurde. Man kann nur begrüßen, dass mit dem ersten Programmentwurf, der von Bucharin vorgelegt worden ist und der sogar keinen grundsätzlichen Meinungsaustausch hervorgerufen hat (es gab auch keine Veranlassung dazu), gebrochen wurde. Während der erste Entwurf uns lediglich ein nacktes Schema der Entwicklung eines einzelnen abstrakten Landes zum Sozialismus gab, unternimmt der neue Entwurf – leider, wie wir später sehen werden, wenig konsequent und erfolgreich – den Versuch, von der Weltwirtschaft als einem Ganzen auszugehen, um zu einer Bestimmung der Schicksale ihrer einzelnen Teile zu kommen.

Die Weltwirtschaft, die durch so mächtige Realitäten die Wirtschaften der einzelnen Länder und Kontinente beherrscht, verbindet Länder und Kontinente, die auf verschiedenen Stufen der Entwicklung, der Abhängigkeit und der Widersprüche stehen. Sie gleicht diese einander in der Entwicklung an und trennt sie gleichzeitig unerbittlich, indem sie ein Land dem anderen entgegenstellt. Das ist der Hauptfaktor, der der Idee der kommunistischen Weltpartei selbst einen hohen realen Wert verleiht. Wie es ganz richtig in der Einleitung des Entwurfs heißt: „Der Imperialismus nähert die Weltwirtschaft als Ganzes der höchsten Stufe der Entwicklung, die überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums erreicht werden kann, gleichzeitig verschärft er bis zur Höchstspannung die Gegensätze zwischen den produktiven Kräften der Weltwirtschaft und der nationalen Staatengruppierungen.“ Ohne den Sinn dieses Ausspruchs erfasst zu haben, der zum ersten Male der Menschheit bei dem letzten imperialistischen Kriege klar wurde, könnte man keinen Schritt in den Fragen der Weltpolitik und des revolutionären Kampfes gehen.

Man müsste eigentlich diese radikale Achsenverlegung des Programms in dem neuen Entwurf begrüßen, wenn der Entwurf nicht infolge des Bestrebens, diese richtige Stellungnahme mit entgegengesetzten Tendenzen zu vereinigen, zum Schauplatz größter Widersprüche geworden wäre, die jede Bedeutung seiner prinzipiellen Stellungnahme vernichten.

 

 

2. Vereinigte Staaten und Europa

Es ist bezeichnend für den ersten, zum Glück beiseitegelegten Entwurf, dass darin, soweit ich mich erinnern kann, der Name der USA selbst nicht erwähnt wurde. Die Hauptprobleme des imperialistischen Zeitalters, die man wegen des Charakters dieses Zeitalters nicht nur in einem abstrakten theoretischen, sondern auch in einem materialistischen historischen Querschnitt hätte zeigen müssen, werden in diesem Entwurf in ein blutleeres Schema eines kapitalistischen Landes „überhaupt“ aufgelöst.

Der neue Entwurf, und das ist natürlich ein ernster Fortschritt, spricht bereits davon, „dass das Wirtschaftszentrum der Welt nach den Vereinigten Staaten von Amerika verlegt worden sei“, dass „die Vereinigten Staaten bereits die Welthegemonie erobert haben“, und endlich, dass die Rivalität (in dem Entwurf heißt es wenig treffend „Konflikt“) zwischen den Vereinigten Staaten und dem europäischen Kapitalismus, in erster Linie dem englischen, „zur Achse der Weltkonflikte wird“. Es ist jetzt schon ganz klar, dass ein Programm, welches eine klare und deutliche Aufzeichnung dieser hauptsächlichsten Tatsachen und Faktoren der internationalen Lage nicht enthalten hätte, nichts mit einem Programm der Partei der internationalen Revolution gemein hätte.

Leider sind die eben angeführten Haupttatsachen und Tendenzen in der internationalen Entwicklung der neuesten Epoche in dem Entwurfe nur genannt worden, gleichsam als ob sie bei der theoretischen Aufzählung in diesen Text hineingeschoben wurden, ohne jeden inneren Zusammenhang mit dessen Gesamtaufbau und ohne alle perspektivischen und strategischen Schlussfolgerungen daraus.

Überhaupt nicht in Betracht gezogen ist dabei die neue Rolle Amerikas in Europa seit der Kapitulation der deutschen Kommunistischen Partei und der Niederlage des deutschen Proletariats im Jahre 1923. Vollständig ungeklärt bleibt in dem Entwurf der Umstand, dass „die Stabilisierungswellen“, „die Rationalisierung“, „die Befriedung Europas“ (Pazifizierung), darunter auch die „Wiedergeburt“ der Sozialdemokratie, dass alles dieses sich in engster materieller und ideeller Abhängigkeit von den ersten Schritten der amerikanischen Intervention in europäischen Angelegenheiten entwickelt hat.

Wie dort weiter erklärt wird, bringt die weitere Entwicklung der amerikanischen Expansion und die Verdrängung des europäischen Kapitals von dem Markt, auch in Europa selbst, sehr bald kriegerische, wirtschaftliche und revolutionäre Erschütterungen mit sich, vor denen alles, was bisher gewesen ist, verblassen wird.

Ungeklärt bleibt weiter der unabwendbare fernere Andrang der Vereinigten Staaten, der den Anteil des kapitalistischen Europa an der Weltwirtschaft immer stärker beschränken wird. Und natürlich bedeutet das nicht irgend welche Abschwächung, sondern eine ins Gigantische wachsende Verschärfung der internationalen Beziehungen in Europa, verbunden mit Tollwutanfällen von kriegerischen Konflikten. Denn die Staaten kämpfen ebenso wie die Klassen viel hartnäckiger um einen mageren, sich vermindernden Anteil als um einen reichlichen und anwachsenden.

In dem Entwurf ist nicht erklärt, dass das innere Chaos der staatlichen Gegensätze Europas einen einigermaßen ernsten und erfolgreichen Widerstand gegen die sich immer mehr und mehr zentralisierende Nordamerikanische Republik unmöglich macht. Die Überwindung dieses Chaos in der Form von Vereinigten Sowjetrepubliken von Europa, wird eine der ersten Aufgaben der proletarischen Revolution sein, welche gerade wegen der zahlreichen Staatsgrenzen in Europa viel näher ist als in Amerika, und die sich wahrscheinlich deshalb gegen die nordamerikanische Bourgeoisie zu verteidigen haben wird.

Andererseits wird gar nicht auf jene ebenso wichtige Seite desselben Weltproblems hingewiesen, dass gerade die internationale Macht der Vereinigten Staaten und der daraus wachsende unaufhaltsame Expansionsdrang diese zwingt, dem Fundament ihres Baues das Pulverfass der ganzen Welt, alle Gegensätze des Westens und des Ostens, den Klassenkampf des alten Europas, die Aufstände der Kolonialmassen, alle Kriege und Revolutionen einzufügen. Das macht einerseits den Kapitalismus Nordamerikas zu einem konterrevolutionären Hauptfaktor der Neuzeit, der immer mehr an der Aufrechterhaltung der „Ordnung“ in jedem Winkel der Erdkugel interessiert ist, andererseits aber wird dadurch eine gigantische revolutionäre Explosion dieser selben herrschenden und noch immer wachsenden imperialistischen Weltmacht vorbereitet. Die Logik der internationalen Beziehungen spricht dafür, dass diese Explosion keine allzu lange Frist hinter der proletarischen Revolution Europas zurückbleiben kann.

Die Untersuchung der Dialektik der gegenseitigen Beziehungen zwischen Amerika und Europa hatte in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Beschuldigungen gegen mich hervorgerufen. Man hat mir sowohl die pazifistische Verneinung der europäischen Gegensätze, wie die Annahme der Kautskyschen Theorie des Ultraimperialismus wie auch vieles andere nachgesagt. Hier auf diese „Beschuldigungen“ einzugehen, die im besten Falle durch eine völlige Unkenntnis der wirklichen Vorgänge und meiner Beziehungen zu diesen bedingt sind, liegt keine Veranlassung vor. Jedoch muss ich feststellen, dass es unmöglich wäre, noch mehr Mühe dafür zu verwenden, um diese wichtigste internationale Frage noch mehr zu verwirren und zu verwickeln, als es zum Beispiel auch der Verfasser des Programms in seinem kleinlichen Kampf gegen meine Stellungnahme darin getan hat. Die Entwicklung hat die von mir aufgezeigte Stellungnahme allerdings voll und ganz bestätigt.

In der kommunistischen Presse wurden noch in der letzten Zeit Versuche unternommen, um die Bedeutung der amerikanischen Hegemonie durch die Hinweise auf die in den Vereinigten Staaten herannahende Handelskrise – auf dem Papier – herabzusetzen. Wir können hier die Frage über die Fristen der amerikanischen Krise und über deren mögliche Stärke nicht untersuchen. Das ist keine Programm-, sondern eine Konjunkturfrage. Selbstverständlich ist auch für mich die Unabwendbarkeit der Krise zweifellos. Und entsprechend der gegenwärtigen internationalen Großzügigkeit des amerikanischen Kapitalismus ist eine besondere Tiefe und Schärfe bereits bei der nächsten Krise gar nicht ausgeschlossen. Doch der Versuch, daraus eine Verminderung und Schwächung der nordamerikanischen Hegemonie herleiten zu wollen, ist ganz abwegig und kann nur zu den größten strategischen Fehlern führen. Gerade umgekehrt wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten während der Zeit einer Krise noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken, als während der Zeit des Aufstiegs.

Die Vereinigten Staaten werden ihre Schwierigkeiten und Krankheiten auf Kosten Europas bekämpfen und überwinden. Ganz gleich, ob das in Asien, Indien, Südamerika oder in Europa selbst vor sich gehen wird. Ganz gleich, ob das auf friedlichem oder kriegerischem Weg geschieht.

Man muss verstehen, dass die erste Periode der amerikanischen Intervention für Europa Stabilisation und Pazifikation zur Folge gehabt hat, die zu einem großen Teil noch jetzt nachwirken und sogar episodisch Wiederaufleben und sich verstärken können (besonders bei neuen Niederlagen des Proletariats). Doch bringt die allgemeine Linie der amerikanischen Politik besonders zur Zeit der Schwierigkeiten und Krisen in ihrer eigenen Wirtschaft für Europa und für die ganze Welt die größten Erschütterungen mit sich. Daraus geht die wichtige Folgerung hervor, dass auch im nächsten Jahrzehnt kein Mangel an revolutionären Situationen sein wird, ebenso wenig wie es auch in dem vergangenen nicht der Fall war. Um so wichtiger ist es für uns, die Hauptantriebskräfte der Entwicklung zu begreifen, da deren Wirkungen uns nicht überraschen dürfen. Wenn in dem vergangenen Jahrzehnt die unmittelbaren Folgen des imperialistischen Krieges die Hauptquelle für die revolutionären Situationen bildeten, so werden in dem neuen Nachkriegsjahrzehnt die gegenseitigen Beziehungen zwischen Europa und Amerika die wichtigste Quelle der revolutionären Situationen sein. Eine große Krise in den Vereinigten Staaten würde zu einem Sturmläuten des kommenden Krieges und der Revolution werden. Ich wiederhole, dass kein Mangel an revolutionären Situationen sein wird. Die ganze Frage geht um die internationale Partei des Proletariats, um die Reife und Kampffähigkeit der Komintern, um die Richtigkeit ihrer strategischen Feststellungen und ihrer taktischen Maßnahmen.

Diese Gedankengänge haben in dem Programmentwurf der Komintern ganz und gar keinen Ausdruck gefunden. Der Hinweis auf eine solche nicht unwichtige – wie es scheinen müsste – Tatsache wie die „Verlegung des Wirtschaftszentrums der Welt nach den Vereinigten Staaten“ bleibt lediglich eine so nebenbei gemachte journalistische Bemerkung, und nicht mehr. Sich hierbei etwa durch den Platzmangel entschuldigen zu wollen, ist ganz und gar unmöglich. Denn welche andere Fragen, wenn nicht die grundsätzlichen, müssen überhaupt in einem Programm Platz finden? Zudem muss man bemerken, dass in dem Programm überhaupt viel zuviel Platz auf Fragen zweiter und dritter Ordnung verwendet wird, gar nicht zu sprechen von der allgemeinen literarischen Weitschweifigkeit und den zahlreichen Wiederholungen, auf deren Kosten das Programm um mindestens ein Drittel hätte gekürzt werden können.

 

 

3. Die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa

Die Beseitigung der Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa aus dem neuen Programmentwurf, trotzdem diese bereits im Jahre 1923 von der Komintern nach langen inneren Kämpfen angenommen worden ist, kann durch nichts entschuldigt werden. Oder, vielleicht wollte der Verfasser gerade in dieser Frage zu der Stellungnahme Lenins vom Jahre 1915 „zurückkehren“? Aber dann müsste er diese Stellungnahme erst richtig verstehen.

Wie bekannt ist, hatte Lenin in der Frage der Parole der Vereinigten Staaten von Europa am Anfang des Krieges geschwankt. Erst wurde diese Parole im Sozialdemokrat (dem damaligen Zentralorgan der Partei) aufgenommen. Später verzichtete Lenin auf diese Parole. Schon das allein beweist, dass es sich damals nicht etwa um eine endgültige, prinzipielle Unannehmbarkeit dieser Parole gehandelt hat, sondern um eine rein taktische Bewertung derselben vom Standpunkt der bestimmten Etappe. Es ist überflüssig, zu erwähnen, dass Lenin die Möglichkeit einer Bildung von Vereinigten Staaten im kapitalistischen Europa verneint hat. Auch ich selbst habe die Sache ebenso beurteilt, als ich damals die Parole der Vereinigten Staaten ausschließlich als eine perspektivische Staatsform der proletarischen Diktatur in Europa aufstellte. Ich schrieb damals:

„Ein einigermaßen vollständiger wirtschaftlicher Zusammenschluss Europas von oben herab, durch Verständigung der kapitalistischen Regierungen ist eine Utopie. Weiter wie zu Teilkompromissen und zu halben Maßnahmen kann hier die Sache niemals kommen. Um so mehr wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für den Produzenten wie für den Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt vom größten Vorteil ist, zu einer revolutionären Aufgabe für das europäische Proletariat in seinem Kampfe gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Waffe, den Militarismus.“ (Trotzki: Das Friedensprogramm, Band 3, Teil 1, S.85, russische Ausgabe.)

„Vereinigte Staaten von Europa – das wäre vor allem die einzige denkbare Form der Diktatur des europäischen Proletariats.“ (Trotzki: Das Friedensprogramm, Band 3, Teil 1, S.92.)

Doch auch bei einer solchen Stellungnahme sah Lenin in der damaligen Periode eine Gefahr. Bei dem Fehlen jeder Erfahrung einer proletarischen Diktatur in einem einzelnen Lande und bei der theoretischen Unklarheit, die in dieser Frage sogar auf dem linken Flügel der damaligen Sozialdemokratie herrschte, konnte die Parole der Vereinigten Staaten von Europa die Vorstellung erwecken, als ob die Revolution gleichzeitig zum mindesten auf dem ganzen Kontinent Europa ausbrechen müsste. Gerade vor dieser Gefahr hatte Lenin gewarnt. Doch in dieser Frage gab es zwischen Lenin und mir nicht einmal den Schatten einer Meinungsverschiedenheit. Zur selben Zeit schrieb ich:

„Kein Land darf mit seinem Kampfe auf das andere warten. Der elementare Gedanke, den es notwendig und nützlich zu wiederholen ist, damit die Idee der parallelen internationalen Aktionen nicht zu einer Idee der abwartenden internationalen Untätigkeit verfälscht werde, ist der, dass wir ohne auf die anderen zu warten, unseren Kampf auf nationalem Boden weiterführen müssen, in der festen Überzeugung, dass unsere Initiative einen Anstoß für den Kampf in anderen Ländern gehen wird.“ (Trotzki: 1917, Band 3, Teil 1, S.90.)

Weiter folgen jene meine Worte, die von Stalin auf dem 7. Plenum des EKKI als ein besonders bösartiger Ausdruck des „Trotzkismus“, d.h. des „Unglaubens“ an die inneren Kräfte der Revolution und der Hoffnung auf eine Hilfe von außen zitiert wurden:

„Sollte aber diese Entwicklung der Revolution in anderen Ländern nicht eintreten, so wäre es hoffnungslos, zu glauben – das bezeugen sowohl die geschichtlichen Erfahrungen wie die theoretischen Erwägungen –, dass z.B. ein revolutionäres Russland gegenüber einem konservativen Europa oder ein sozialistisches Deutschland isoliert in der kapitalistischen Welt existieren könnte.“ (Trotzki, Band 3, Teil 1, S.90.)

Das 7. Plenum verurteilte auf Grund dieser und ein paar ähnlicher Zitate die Stellungnahme des „Trotzkismus“ in dieser grundsätzlichen Frage als eine, die mit dem Leninismus nichts gemein habe.

Lassen wir darum hier Lenin selbst sprechen. Am 7. März 1918 spricht er zum Frieden von Brest-Litowsk:

„Das ist eine Lehre, denn es ist eine absolute Wahrheit, dass wir ohne eine deutsche Revolution verloren sind.“ (Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees, 7. März 1918, Lenin, Werke, Band 27, S.73-96, hier S.85)

Eine Woche später:

„Der Weltimperialismus kann nicht Seite an Seite mit einer siegreich fortschreitenden sozialen Revolution existieren.“ (Lenin, Referat über die Ratifizierung des Friedensvertrags, 14. März 1918, Lenin, Werke, Band 27, S.160-178, hier S.163f.)

Und wiederum einige Wochen später, im April, spricht Lenin:

„Unsere Rückständigkeit hat uns vorwärts getrieben, und wir werden untergehen, wenn wir uns nicht so lange zu behaupten verstehen , bis wir eine mächtige Unterstützung durch die aufständischen Arbeiter der anderen Länder erhalten.“ (Lenin, Rede im Moskauer Sowjet der Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten, 23. April 1918, Lenin, Werke Band 27, S.219-24, hier S.222, Unterstreichung von L.T.)

Doch vielleicht sprach er so nur unter dem Einfluss der Krise von Brest-Litowsk? Nein. Im März 1919 wiederholte Lenin wiederum:

„Wir leben nicht nur in einem Staat, sondern in einem System von Staaten, und die Existenz der Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird entweder das eine oder das andere siegen.“ (Lenin, Bericht des Zentralkomitees, 18. März 1919, Lenin, Werke, Band 29, S.131-149, hier S.138)

Noch ein Jahr später, am 7. April 1920, bringt Lenin in Erinnerung:

„Das Kapital ist im internationalen Maßstab auch heute noch nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch stärker als die Sowjetmacht und die Sowjetordnung. Von dieser grundlegenden Feststellung muss man ausgehen und darf sie nie vergessen.“ (Lenin, Rede auf dem 1. Gesamtrussischen Gewerkschaftskongress, Lenin, Werke, Band 30, S.495-508, hier S.498])

Im selben Jahre 1920:

„Der internationale Imperialismus und daneben das siegreiche Vordringen der sozialen Revolution werden sich nie vertragen können.“ (Lenin, Sämtliche Werke, russische Ausgabe, Band 17, S.197)

Am 6. Dezember 1920 sprach Lenin zu der Frage der Konzessionen:

„dass wir jetzt vom Krieg zum Frieden übergegangen seien, wir hätten jedoch nicht vergessen, dass der Krieg wiederkehren wird. Solange es den Kapitalismus neben dem Sozialismus gibt, können sie nicht in Frieden leben. Der eine oder der andere wird zuletzt siegen. Entweder wird man die Sowjetrepublik oder den Weltkapitalismus zu Grabe tragen. Das hier ist ein Aufschub des Krieges.“ Lenin, Rede in der Aktivversammlung der Moskauer Organisation der KPR(B), 6. Dezember 1920, Lenin, Werke, Band 31, S.434-454, hier S.452)

Doch vielleicht hat die weitere Existenz der Sowjetrepublik Lenin später veranlasst, seinen Fehler anzuerkennen und seinem „Unglauben“ an die inneren Kräfte der Oktoberrevolution abzuschwören? Auf dem 3. Weltkongress der Komintern, also noch im Juli 1921, lehrte Lenin folgendermaßen:

„Es entstand ein zwar äußerst unsicheres, äußerst labiles Gleichgewicht, aber immerhin ein Gleichgewicht, das der Sozialistischen Republik, natürlich nicht für lange Zeit, die Möglichkeit gibt, in der kapitalistischen Umwelt fortzubestehen.“ (Lenin, Thesen über die Taktik der RKP, geschrieben 13.6.1921, Lenin, Werke, Band 32, S.475-484, hier S.476)

Noch mehr, auf der Sitzung des Kongresses am 5. Juli 1921, erklärte Lenin geradezu:

„Es war uns klar, dass ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder sofort, oder zumindest sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen. Trotz dieses Bewusstseins taten wir alles, um das Sowjetsystem unter allen Umständen und um jeden Preis aufrechtzuerhalten; denn wir wussten, dass wir nicht nur für uns, sondern auch für die internationale Revolution arbeiten.“ (Lenin, Werke, Band 32, S.501-519, hier S.503, Hervorhebung L.T.)

Wie unendlich weit sind diese wundervollen einfachen, vom Geist des Internationalismus durchdrungenen Worte von den jetzigen selbstzufriedenen Aussprüchen der Epigonen entfernt!

Jedenfalls habe ich das Recht, zu fragen, worin diese Äußerungen Lenins sich von meiner im Jahre 1915 ausgesprochenen Überzeugung unterscheiden, dass das zukünftige revolutionäre Russland oder sozialistische Deutschland, isoliert innerhalb der kapitalistischen Welt, sich werde nicht behaupten können? Die einzelnen Fristen laufen anders, als es in der Voraussage angesetzt wurde – sowohl von mir wie auch von Lenin. Doch der Grundgedanke bleibt in Kraft, auch jetzt noch, und vielleicht augenblicklich mehr als jemals vorher.

Anstatt den Gedanken zu verurteilen, wie es das 7. EKKI-Plenum auf Grund eines unkompetenten und unehrlichen Berichtes getan hat, hätte man ihn in das Programm der Kommunistischen Internationale aufnehmen müssen.

Zur Verteidigung der Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa wies ich im Jahre 1915 darauf hin, dass das Gesetz über die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung kein Argument gegen diese Parole sei. Denn die Ungleichmäßigkeit der historischen Entwicklung ist in bezug auf verschiedene Staaten und Kontinente selbst verschieden. Die Staaten Europas entwickeln sich einander gegenüber ungleichmäßig. Nichtsdestoweniger kann man mit bestimmter historischer Überzeugung behaupten, dass keiner dieser Staaten vermag, jedenfalls nicht in einer absehbaren Zeit, einen solchen Vorsprung gegenüber den anderen Staaten zu gewinnen, wie es Amerika gegenüber Europa erreicht hat. Für Amerika existiert also ein Maßstab der Ungleichmäßigkeit gegenüber Europa. Ein anderes. Geographische und historische Bedingungen haben einen solch engen organischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Ländern Europas vorbestimmt, dass keins derselben daraus herauszuspringen vermag. Die jetzigen bürgerlichen Regierungen Europas ähneln den Mördern, die an eine und dieselbe Kette geschmiedet sind. Es ist bereits gesagt worden, dass eine Revolution in Europa letzten Endes auch für Amerika eine entscheidende Bedeutung haben wird. Doch unmittelbar, als allernächste historische Folge, wird eine Revolution in Deutschland für Frankreich eine weit größere Bedeutung besitzen, als für die Vereinigten Staaten von Amerika. Aus diesen historisch festgelegten Verhältnissen heraus entspringt .die politische Lebensfähigkeit der Parole einer europäischen Sowjetföderation. Wir meinen dabei eine relative Lebensfähigkeit, denn es ist selbstverständlich, dass diese Föderation sich über die große Brücke der Sowjetunion auch nach Asien erstrecken würde und endlich zu einer Vereinigung der sozialistischen Republiken der Welt werden würde. Doch das wird schon eine zweite Epoche, oder das nächste große Kapitel der imperialistischen Epoche sein. Und wenn man ihr näherkommen wird, wird man schon die richtigen Formulierungen für ihre Bedürfnisse finden. Man könnte mit Leichtigkeit durch weitere Zitate beweisen, dass die Meinungsverschiedenheit mit Lenin im Jahre 1915 in der Frage der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa einen rein taktischen und ihrem ganzen Wesen nach vorübergehenden Charakter trug. Doch der Gang der Ereignisse beweist das noch viel besser, im Jahre 1923 nahm die Komintern offiziell die strittige Parole an. Wenn im Jahre 1915 die Unannehmbarkeit dieser Parole von irgendwelchen prinzipiellen Erwägungen diktiert worden wäre, so hätte die Komintern nicht acht Jahre später dieselbe Parole aufnehmen können, denn das Gesetz über die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung hat, wie man meinen müsste, in dieser Zeit seine Geltung noch nicht verloren.

Die gesamte, oben angeführte Fragestellung geht aus der Dynamik des als Ganzes genommenen Revolutionsprozesses hervor. Die internationale Revolution wird als ein Prozess dargestellt, der innerlich verbunden ist. Man kann ihn nicht konkret, sozusagen in seiner ganzen Folgerichtigkeit, voraussagen. Doch seine allgemeinen historischen Umrisse sind vollständig klar. Ohne diese zu verstehen, ist es überhaupt unmöglich, eine richtige politische Orientierung zu bekommen.

Die Sache ändert sich aber radikal, wenn man von der Idee der sozialistischen Entwicklung ausgeht, die in einem einzelnen Lande stattfinden und sogar abschließen kann. Wir besitzen jetzt eine „Theorie“, welche lehrt, dass der völlige Aufbau des Sozialismus in einem Lande möglich ist, und dass die gegenseitigen Beziehungen dieses Landes zu der kapitalistischen Umwelt auf der Grundlage der „Neutralisation“ der internationalen Bourgeoisie aufgebaut werden können. (Stalin.)

Bei einem solchen, seinem Wesen nach national-reformistischen und nicht international-revolutionären Standpunkt fällt die Notwendigkeit der Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa weg, oder wird wenigstens bedeutend geringer. Doch unserer Meinung nach ist diese Parole gerade darum so lebensnotwendig, weil sie die Verurteilung der Idee einer isolierten Entwicklung des Sozialismus mit einschließt. Für das Proletariat eines jeden europäischen Landes wird es in noch viel größerem Maße als für die UdSSR (der Unterschied besteht hier aber nur in der Stufe) äußerst notwendig sein, dass die Revolution auf die benachbarten Länder übergreift. Eine bewaffnete Unterstützung des Aufstandes ist dort keine Erwägung einer abstrakten internationalen Solidarität, die an sich unfähig ist, eine Klassenbewegung zu entfachen, sondern eine Erwägung der Lebensnotwendigkeit, wie es Lenin Hunderte Male bezeichnet hatte: Ohne rechtzeitige Unterstützung der internationalen Revolution können wir nicht bestehen bleiben. Die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten entspricht dieser Dynamik der proletarischen Revolution, welche nicht gleichzeitig in allen Ländern ausbricht, sondern von einem Lande ins andere überspringt, und welche die engste Verbindung miteinander erfordert, zuerst auf dem Gebiet von Europa, um sich sowohl gegen mächtige äußere Feinde verteidigen zu können, als auch um den Wirtschaftsaufbau zu beginnen.

Vielleicht könnte man versuchen, dem zu entgegnen, dass nach der Ruhrkrise, welche doch der letzte Anstoß zur Ausprägung dieser Parole gewesen ist, dieselbe trotzdem keine Rolle in der Agitation der europäischen Kommunistischen Parteien gespielt hatte. Sie hat sozusagen nicht eingeschlagen. Aber dasselbe gilt auch in bezug auf die Parole der Arbeiterregierung, der Räte usw., also in bezug auf alle unmittelbar vorrevolutionären Parolen. Das erklärt sich dadurch, dass nach 1923 im Gegensatz zu der unrichtigen Voraussage des 5. Weltkongresses, die revolutionäre Bewegung abflaute. Doch gerade deshalb wäre es schädlich, das Programm oder dessen einzelne Teile nur unter dem Eindruck dieser Periode aufbauen zu wollen. Es ist kein Zufall, dass die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa trotz aller Vorurteile gerade im Jahre 1923 angenommen wurde, als man den Ausbruch der Revolution in Deutschland erwartete, und als die Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Staaten Europas brennend wurde. Jede neue Verschärfung der europäischen, oder noch mehr, der Weltkrise, die stark genug sein wird, um die politischen Grundprobleme auf die Oberfläche zu bringen, wird unbedingt die Empfänglichkeit für die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa steigern. Darum ist es grundfalsch, dass man diese Parole, ohne sie abzulehnen, im Programm verschweigt und sie irgendwo in der Reserve hält so für alle Fälle. Doch in den grundsätzlichen Fragen der Politik darf es keine Reserve geben.

 

 

4. Die Kriterien des Internationalismus

Der Entwurf macht, wie wir bereits wissen, den Versuch, bei seinem Aufbau von der Weltwirtschaft auszugehen, was aller Anerkennung wert ist. Die Prawda hat ganz recht, wenn sie sagt dass wir uns darin grundsätzlich von der nationalpatriotischen Sozialdemokratie unterscheiden. Nur indem man von der Weltwirtschaft ausgeht, die die einzelnen Teile beherrscht, kann man ein Programm der internationalen Partei des Proletariats aufbauen. Doch gerade bei der Beurteilung der grundsätzlichen Tendenzen der internationalen Entwicklung zeigt der Entwurf, worauf wir bereits oben hingewiesen haben, eine Unvollständigkeit, die dessen Wert herabsetzt, und verfällt sogar in grobe Einseitigkeiten, welche zu schweren Fehlern führen müssen. In dem ersten Kapitel des Entwurfes heißt es:

„Die Ungleichmäßigkeit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Diese Ungleichmäßigkeit steigert und verschärft sich noch mehr im Zeitalter des Imperialismus.“

Das ist richtig. Diese Formulierung verurteilt insbesondere auch die Stellungnahme Stalins in dieser Frage, laut welcher das Gesetz von der ungleichmäßigen Entwicklung angeblich Marx und Engels gar nicht bekannt gewesen war und erst von Lenin entdeckt worden sei. Am 15. September 1925 schrieb Stalin, Trotzki habe gar keine Veranlassung, sich auf Engels zu berufen, der seine Werke zu einer Zeit geschrieben hatte, als von einem Gesetz der Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der kapitalistischen Länder noch gar nicht die Rede sein konnte. Wie unwahrscheinlich diese Worte auch lauten mögen, trotzdem sind sie von Stalin, einem der Verfasser des Programms, mehrmals wiederholt worden. Der Text des Entwurfes bildet in dieser Hinsicht, wie wir gesehen haben, einen Schritt vorwärts. Wenn man aber von dieser Korrektur eines Elementarfehlers absieht, so erkennt man, dass das, was in dem Entwurf über das Wesen des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung steht, einseitig und ungenügend ist.

Es wäre richtiger, vor allem zu sagen, dass die ganze Menschheitsgeschichte unter dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung vor sich geht. Der Kapitalismus trifft bereits die verschiedenen Teile der Menschheit auf verschiedenen Entwicklungsstufen und mit größten inneren Widersprüchen an. Eine äußerst mannigfache Verschiedenheit der erreichten Entwicklungsstufen und eine außerordentliche Ungleichmäßigkeit des Entwicklungstempos der einzelnen Teile der Menschheit – das waren die Ausgangspunkte des Kapitalismus. Der Kapitalismus nimmt nur allmählich diese vererbte Ungleichmäßigkeit in Besitz und verändert sie durch seine Methoden und auf seinen Wegen. Im Unterschied von den ihm vorausgegangenen Wirtschaftssystemen besitzt der Kapitalismus die Eigenschaft, ständig nach einer wirtschaftlichen Expansion, nach einer Durchdringung von neuen Gebieten, nach einer Überbrückung von wirtschaftlichen Unterschieden und nach einer Verwandlung von abgeschlossenen provinziellen und nationalen Wirtschaftsgebieten in ein System der verbundenen Gefäße zu streben, um so die wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstufen der mehr fortgeschrittenen und der weiter zurückgebliebenen Länder einander anzugleichen. Ohne diesen Grundprozess wäre die verhältnismäßige Nivellierung zuerst von Europa und England, später von Amerika und Europa gar nicht denkbar. Ebenso wenig wie die Industrialisierung der Kolonien, welche z.B. die Entfernung zwischen England und Indien überbrückt. Auf den Folgerungen, die aus den eben geschilderten Prozessen entstehen, beruht nicht nur das Programm der Kommunistischen Internationale, sondern auch deren Existenz überhaupt.

Indem aber die Kapitalisten die einzelnen Länder einander näher bringen und die Entwicklungsstufen derselben nivellieren, gehen sie dabei mit ihren eigenen anarchischen Methoden vor, welche ständig ihre eigene Arbeit unterwühlen, ein Land dem anderen und einen Industriezweig dem anderen entgegenstellt. Während sie die Entwicklung des einen Teils der Weltwirtschaft fördern, hemmen und werfen sie gleichzeitig die Entwicklung einiger anderer Teile zurück.

Nur das Zusammentreffen dieser beiden Grundtendenzen, der zentrifugalen und der zentripetalen Nivellierung und der Ungleichmäßigkeit vermag uns das lebendige Gewebe des historischen Prozesses zu erklären.

Der Imperialismus hat, dank seiner allgegenwärtigen, alles durchdringenden leichtbeweglichen dampfartigen Triebkraft – dem Finanzkapital – diese beiden Tendenzen noch verstärkt. Er verbindet die einzelnen Länder und Kontinente noch viel rascher und stärker miteinander. Er bringt sie in engste lebendige Abhängigkeit und gleicht deren Wirtschaftsmethoden, gesellschaftliche Formen und Entwicklungsstufen einander an. Er erreicht das aber durch solche feindseligen Methoden, durch solche Löwensprünge und Überfälle auf zurückgebliebene Länder und Gebiete, dass die von ihm angestrebte Vereinigung und Nivellierung der Weltwirtschaft noch viel stürmischer und konvulsionsartiger gestört wird, als es in der vorangehenden Epoche der Fall war. Nur eine solche dialektische Auffassung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung und nicht eine rein mechanische, gestattet uns, jenen Grundfehler zu vermeiden, der von dem, dem Kongress vorgeschlagenen Programmentwurf nicht vermieden worden ist. Unmittelbar nach der obenerwähnten einseitigen Charakterisierung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung heißt es in dem Programmentwurf weiter:

„Daraus folgt, dass die internationale proletarische Revolution nicht als ein einmaliger zu gleicher Zeit überall stattfindender Vorgang betrachtet werden darf, dass vielmehr der Sieg des Sozialismus anfangs in einigen wenigen Ländern, ja sogar in einem einzelnen isolierten kapitalistischen Lande möglich ist.“

Darüber, dass die internationale proletarische Revolution kein gleichzeitiger Vorgang sein kann, dürfte unter erwachsenen Menschen keine Meinungsverschiedenheit bestehen. Besonders nach den Erfahrungen der Oktoberrevolution, die von dem Proletariat eines rückständigen Landes durchgeführt wurde, als dieses durch den Druck der historischen Notwendigkeit dazu gezwungen wurde und nicht wartete, bis das Proletariat der fortgeschrittenen Länder ihre Front angleichen würde. In diesen Grenzen bleibt die Anziehung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung ganz richtig und ist vollkommen am Platze. Doch ganz anders steht es mit der zweiten Hälfte der Folgerung, mit der unbewiesenen Behauptung, dass der Sieg des Sozialismus „in einem einzelnen isolierten Lande möglich ist“. Zum Beweis bot uns der Programmentwurf nur, „daraus folgt“. Das heißt also, als ob das aus dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung folgt. Das folgt aber ganz und gar nicht daraus. „Daraus folgt“ etwas ganz Entgegengesetztes. Wenn der historische Prozess darin bestünde, dass die einzelnen Länder sich nicht allein ungleichmäßig, sondern auch unabhängig von einander entwickeln, dann würde aus dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem einzelnen kapitalistischen Lande hervorgehen. Erst in den mehr fortgeschrittenen Ländern, später, sobald diese reif würden, in den rückständigeren Ländern. So war gewöhnlich sozusagen die Durchschnittsvorstehung von dem Übergang zum Sozialismus bei der Sozialdemokratie der Vorkriegszeit. Und gerade diese Vorstellung gab später dem Sozialpatriotismus die theoretische Weihe. Der Entwurf steht natürlich nicht auf diesem Standpunkt. Doch er rutscht dahin ab. Der theoretische Fehler des Entwurfs besteht darin, dass er versucht, aus dem Gesetze von der ungleichmäßigen Entwicklung etwas zu entnehmen, was nicht darin liegt und auch nicht darin liegen kann. Wohl stört die Ungleichmäßigkeit und Sprunghaftigkeit in der Entwicklung der einzelnen Länder ständig die wirtschaftlichen Verbindungen und die gegenseitige Abhängigkeit derselben, doch auf keinen Fall beseitigt sie diese. Waren doch diese Länder am anderen Tage nach dem vierjährigen schrecklichen Schlachten gezwungen, einander Brot, Kohlen, Öl und Hosenträger zu verkaufen. Dieser grundsätzliche Punkt wird in dem Entwurf so dargestellt, als ob die historische Entwicklung aus lauter Sprüngen besteht, die wirtschaftliche Grundlage aber, aus der diese Sprünge herauswachsen und wo sie stattfinden, ist völlig aus dem Gesichtsfeld der Verfasser des Entwurfs entschwunden oder wird von ihnen mit Gewalt entfernt. Das geschieht zur Verteidigung einer Theorie, die sich nicht verteidigen lässt – der Theorie des Sozialismus in einem Lande. Nach dem Gesagten ist es nicht schwer zu verstehen, dass die einzig richtige Fragestellung hier folgendermaßen lauten müsste. – Bereits in dem vorimperialistischen Zeitalter sind Marx und Engels zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die Ungleichmäßigkeit, d.h. Sprunghaftigkeit in der historischen Entwicklung, die proletarische Revolution auf ein ganzes Zeitalter auseinanderzieht, währenddes die Völker, eins nach dem anderen, in den Revolutionsstrom treiben werden, dass aber andererseits die organische gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Länder, die aus der internationalen Arbeitsteilung entstanden ist, den Aufbau des Sozialismus in einem Lande ausschließt. Dies gilt um so mehr von der neuen Epoche, als der Imperialismus diese beiden Tendenzen noch verschärft hat. Die Marxsche Behauptung, dass man eine sozialistische Revolution nur auf nationalem Boden beginnen könne, dass man aber eine sozialistische Gesellschaftsordnung im nationalen Rahmen nicht aufbauen könne, ist jetzt doppelt und dreifach richtig. Lenin hat in dieser Frage die Marxsche Stellungnahme lediglich weiterentwickelt und konkretisiert.

Unser altes Programm ging in seinem Inhalt vollständig von der internationalen Bedingtheit der Oktoberrevolution und von dem sozialistischen Aufbau aus. Um das zu beweisen, müsste man den gesamten theoretischen Teil des Programms durchblättern. Wir werden hier nur eins anführen .Als der verstorbene Podbelski auf einem Parteitag verschiedene Formulierungen des Programms beanstandete, weil diese sich angeblich nur auf die Revolution in Russland beziehen, antwortete ihm Lenin am 19. März 1919 in seinem Schlusswort zur Programmfrage:

„Genösse Podbelski fiel darüber her, dass in einem Paragraphen von der bevorstehenden sozialen Revolution die Rede ist. Ein solches Argument ist offensichtlich nicht stichhaltig, denn in unserem Programm handelt es sich um die soziale Revolution im Weltmaßstab“ (Lenin, 19. März 1919, Lenin, Werke, Band 29, S.172-182, hier S.173, zweite Hervorhebung L.T.).

Es ist nicht überflüssig, hier noch anzuführen, dass ungefähr zu derselben Zeit Lenin den Vorschlag machte, die Partei nicht RKP (Russische Kommunistische Partei), sondern KP (Kommunistische Partei) zu nennen, um so noch schärfer zu unterstreichen, dass das die Partei der internationalen Revolution ist. Dieser Vorschlag erhielt im ZK nur meine Stimme. Auf dem Parteitag selbst hatte Lenin diesen Antrag im Hinblick auf die Organisierung der 3. Internationale nicht mehr gestellt. Bei dieser Sachlage konnte damals der Gedanke des Sozialismus in einem Lande gar nicht erst entstehen. Nur aus diesem Grunde hatte das Parteiprogramm diese „Theorie“ nicht verurteilt, sondern nur ausgemerzt.

Doch in dem Programm der Kommunistischen Jugend, welches zwei Jahre später angenommen wurde, war man bereits genötigt, um die Jugend im Geiste des Internationalismus zu erziehen, diese vor der Illusion einer nationalen Begrenztheit in der Frage der proletarischen Revolution zu warnen. Doch darüber wird noch später die Rede sein. Ganz anders steht es aber in dem neuen Entwurf des Programms der Komintern. Entsprechend der revisionistischen Evolution seiner Verfasser nach dem Jahre 1924, stellt sich der Entwurf auf einen direkt entgegengesetzten Standpunkt. Außerdem bestimmt die Art der Stellungnahme zu der Frage des Sozialismus in einem Lande zugleich die Bedeutung des ganzen Entwurfs als eines unmarxistischen bzw. revisionistischen Dokuments. Gewiss wird in dem Programmentwurf der Unterschied zwischen einer kommunistischen und einer reformistischen Stellungnahme mehrfach eindringend betont, unterstrichen und erklärt. Allein diese Frage wird durch bloße Beteuerungen nicht gelöst. Die Lage ist ungefähr so wie auf einem Schiff, das wohl mit zahlreichen marxistischen Apparaten und Ausrüstungen überfüllt ist, dessen Hauptsegel aber so eingestellt ist, dass es von jedem revisionistischen, reformistischen Wind getroffen wird. Jeder, der aus den Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte und insbesondere aus der schlagenden Erfahrung in China in den letzten Jahren gelernt hat, die starke gegenseitige dialektische Abhängigkeit zwischen dem Klassenkampf und den programmatischen Dokumenten der Partei zu begreifen, der wird verstehen, wenn wir ihm sagen, dass das revisionistische Segel alle vorbeugenden Rettungsgeräte des Marxismus und Leninismus zunichte machen kann. Aus diesem Grunde sind wir genötigt, diese grundsätzliche Frage, welche für lange Zeit die Entwicklung und das Geschick der Kommunistischen Internationale bestimmen wird, ausführlicher zu behandeln.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008