Leo Trotzki

Die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands
und die Perspektiven der Weltrevolution

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Die Weltlage und die revolutionären Perspektiven

Wie gesagt, die Prophezeiungen der Sozialdemokraten über die Folgen unserer neuen ökonomischen Politik entspringen ganz ihrer Hoffnungslosigkeit in bezug auf die proletarische Revolution in Europa in der nächsten historischen Epoche. Wir können diese Herren nicht hindern, Pessimisten bezüglich des Proletariats und Optimisten bezüglich der Bourgeoisie zu bleiben: darin besteht ja die historische Mission der Epigonen der II. Internationale. Wir aber haben keinen Grund, an unserer Auffassung zu zweifeln oder Aenderungen vorzunehmen, an der Auffassung, die wir in den vom 3. Kongreß der Kommunistischen Internationale angenommenen Thesen niedergelegt haben. In den anderthalb Jahren, die seitdem verflossen sind, hat der Kapitalismus keinen Schritt vorwärts getan zur Wiederherstellung seines Gleichgewichtes, das durch den Krieg und seine Folgen endgültig zerstört wurde. Recht gut hat der englische Außenminister, Lord Curzon, die Weltlage charakterisiert in einer Rede, die er am 9. November, genau am Geburtstage der deutschen Republik, gehalten hat. Ich weiß nicht, ob Ihr sie gelesen habt. Ich will einige Sätze aus dieser Rede vorlesen, – sie verdienen es:

„Alle Mächte gehen aus dem Kriege mit geschwächten und gebrochenen Kräften hervor. Wir (Engländer) tragen eine schwere Steuerlast, unter der die Industrie des Landes leidet. Wir haben eine Menge Arbeitsloser in allen Arbeitszweigen ... Was die Lage Frankreichs anbelangt, so ist dieses Land mit einer ungeheuren Verschuldung belastet und ist nicht imstande, die Reparationen zu erhalten ... Deutschland befindet sich im Zustande politischer Labilität und sein wirtschaftliches Leben ist durch eine furchtbare Währungskrise gelähmt ... Rußland bleibt immer noch außerhalb der Familie der europäischen Völker. Es steht noch immer unter dem Banner des Kommunismus – Curzon ist also nicht ganz mit Otto Bauer einverstanden (Heiterkeit) – und führt seine kommunistische Propaganda in allen Weltteilen fort – was gar nicht wahr ist! (Heiterkeit) Italien – fährt Curzon fort – ist durch eine Reihe innerer Erschütterungen und Regierungskrisen durchgegangen, – noch gar nicht durchgegangen, sondern geht erst durch (Heiterkeit) ... Der Nahe Osten befindet sich im Zustande eines völligen Chaos. Eine solche Lage ist schrecklich.“

Eine bessere Propaganda im Weltmaßstab könnten wir, auch wir russische Kommunisten nicht leisten. „Eine solche Lage ist schrecklich“, konstatiert zum 5. Jubiläum der Sowjetrepublik der berufenste Vertreter des stärksten Reiches Europas. Und er hat recht. Die Lage ist schrecklich. Aus dieser schrecklichen Lage – fügen wir hinzu – gilt es hinauszukommen. Der Ausweg ist einzig die Revolution.

Ich habe gelegentlich auf die Frage eines italienischen Korrespondenten, wie wir jetzt die Weltlage einschätzen, folgende, übrigens ziemlich banale Antwort gegeben: Die Bourgeoisie ist schon unfähig, zu herrschen (was, wie Sie soeben gehört haben, Herr Curzon eigentlich bestätigt), die Arbeiterklasse ist noch nicht fähig, die Macht zu erobern. Dadurch wird der unglückselige Charakter unserer Epoche bestimmt. Das waren ungefähr meine Worte. Und nun, vor drei, vier Tagen, erhalte ich von einem Freunde aus Berlin einen Ausschnitt aus einer der letzten Nummern der sterbenden Freiheit, in dem unter der Ueberschrift Kautskys Sieg über Trotzki (Heiterkeit) davon die Rede ist, daß die Rote Fahne nicht genügend Mut habe, sich gegen meine Kapitulation vor Kautsky zu wenden, obwohl die Rote Fahne, wie Sie, Genossen, wissen, immer Mut genug hatte, sich gegen mich zu wenden, selbst dann, wenn ich recht hatte. Dies gehört übrigens zum 3. Kongreß und nicht zum 4. (Beifall und Heiterkeit) Ich sagte also zu dem italienischen Journalisten: „Die Kapitalisten sind schon unfähig, die Arbeiter noch nicht fähig zur Macht, das ist der Charakter unserer Epoche.“ Und über diese Worte schreibt die selige Freiheit: „Was Trotzki hier als seine Ansicht erklärt, war bisher Kautskys Meinung.“ Also ich mache mich fast eines Plagiates schuldig. Das ist die schwere Strafe für ein banales Interview. Ich muß Ihnen sagen, daß das Interviewgeben keine angenehme Beschäftigung ist und es geschieht bei uns nicht aus freien Stücken, sondern auf Befehl unseres Freundes Tschitscherin. Wie Sie sehen, bleibt auch in der Periode der neuen Wirtschaftspolitik, da wir auf überflüssigen Zentralismus verzichtet haben, manches bei uns noch zentralisiert: jedenfalls sind die Orders für Interviews im Volkskommissariat des Auswärtigen zentralisiert. (Heiterkeit) Wenn man sich einem Interview unterwerfen muß, so sagt man natürlich immer die plattesten Dinge, die man gerade auf Lager hat. Ich muß gestehen, daß ich in dem Fall, von dem die Rede ist, am wenigsten ahnte, daß meine Bemerkung über den intermediären Charakter unserer Epoche ein Erfindungspatent sei. Nun stellt es sich heraus, wenn man der Freiheit glauben soll, daß der geistige Vater dieses Aphorismus Kautsky ist. Wenn das wahr wäre, so wäre ich für mein Interview schon allzustreng bestraft. Denn alles, was Kautsky jetzt spricht oder schreibt, hat offenbar einzig zum Ziele, nachzuweisen, daß Marxismus eine Sache für sich und Marasmus etwas ganz anderes ist. Ja, ich konstatierte und konstatiere jetzt die unleugbare Tatsache, daß das europäische Proletariat in seinem jetzigen Zustande momentan unfähig ist, die Macht zu erobern. Und warum? Eben darum, weil die breiten Kreise der Arbeiterklasse sich von dem zersetzenden Einfluß der Ideen, Vorurteile und Traditionen noch nicht frei gemacht haben, als deren Ausdruck das Kautskytum erscheint. (Heiterkeit) Namentlich dadurch und sogar nur dadurch wird momentan die politische Zerrissenheit des Proletariats und seine Unfähigkeit, die Macht zu erobern, erzeugt. Diesen einfachen Gedanken habe ich eben dem italienischen Korrespondenten gegenüber geäußert. Freilich, ich nannte dabei nicht Kautsky, aber nur deshalb, weil gescheite Leute dabei ohnehin verstehen müssen, gegen wen und gegen was sich mein Gedanke richtete. Das war meine „Kapitulation“ vor Kautsky.

Die Kommunistische Internationale hat keinen Grund, sie kann keine Gründe haben, vor irgend jemand zu kapitulieren, sei es theoretisch oder praktisch. Die Thesen des 3. Kongresses über die Weltlage charakterisierten absolut richtig die Grundzüge unserer Epoche als eine Epoche der großen historischen Krise des Kapitalismus. Auf dem 3. Kongreß beharrten wir auf der Notwendigkeit, zu unterscheiden zwischen der großen und historischen Krise des Kapitalismus und den kleineren oder Konjunkturkrisen, die eine notwendige Etappe jedes handels-industriellen Zyklus darstellen. Sie erinnern sich wohl, daß diesbezüglich große Diskussionen stattfanden, sowohl in der Kommission des Kongresses als auch im Plenum. Wir verteidigten gegen viele Genossen die Auffassung, daß in der historischen Entwicklung des Kapitalismus zwei Reihen von Kurven streng auseinander zuhalten sind: die Grundkurve, die die Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte, das Wachstum der Arbeitsproduktivität, die Akkumulation des Reichtums usw. charakterisiert; und eine zyklische Kurve, die die periodischen Wellen von Konjunktur und Krise kennzeichnet, die sich durchschnittlich alle neun Jahre wiederholen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Kurven wurde in der marxistischen Literatur – und soweit ich weiß, in der ökonomischen Literatur überhaupt – bisher nicht genügend beleuchtet. Die Frage ist indes von kolossaler Wichtigkeit, in theoretischer wie in politischer Hinsicht.

Seit der Mitte der 90er Jahre ist die Grundkurve der kapitalistischen Entwicklung im steilen Aufstieg begriffen. Der europäische Kapitalismus geht durch seinen Kulminationspunkt hindurch. Im Jahre 1913 ist eine Krise ausgebrochen, die nicht nur eine übliche zyklische Schwankung darstellte, sondern auch den Anfang der Epoche einer langwierigen ökonomischen Stagnation bildete. Der imperialistische Krieg war der Versuch, aus der Sackgasse herauszukommen. Der Versuch mißlang und die tiefe historische Krise des Kapitalismus spitzte sich nur noch zu. In den Grenzen dieser historischen Krise sind jedoch zyklische Wellen unvermeidlich, d. h. Krisen und Blüteperioden, jedoch mit dem Unterschied gegenüber der Vorkriegszeit, daß die jetzigen zyklischen Krisen einen scharf ausgeprägten Charakter tragen, während die jetzigen Konjunkturen einen viel oberflächlicheren und wenig ausgeprägten Charakter haben. 1920 setzte – auf der Basis des allgemeinen kapitalistischen Zerfalls – eine scharfe zyklische Krise ein. Manche Genossen unter den sogenannten „Linken“ glaubten, diese Krise würde sich immer mehr vertiefen und zuspitzen bis zur proletarischen Revolution. Wir aber sagten voraus die Unvermeidlichkeit des Umschlagens der Wirtschaftskonjunktur im Sinne einer gewissen Besserung für die mehr oder weniger nahe Zukunft. Noch mehr, wir gaben der Gewißheit Ausdruck, daß ein solcher Umschwung der Konjunktur der revolutionären Bewegung nicht nur keinen Abbruch tun, sondern im Gegenteil neue Kräfte verleihen wird. Die scharfe Krise von 1920, die nach einer Reihe von revolutionären Niederlagen des Proletariats eingetreten ist, das der Sozialdemokratie folgte und durch sie gespalten wurde, diese Krise traf hart die Arbeitermassen und erzeugte vorübergehend in ihrer Mitte die Stimmung von abwartender Passivität und sogar Hoffnungslosigkeit. Unter diesen Umständen mußte die Besserung der Konjunktur eine Steigerung des Kraftgefühls der Massen und eine Belebung des Klassenkampfes erzeugen. Manche Genossen dachten damals ernsthaft, daß in dieser Prognose ein Hinneigen zum Opportunismus liege und ein Bestreben, die Revolution auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Ein Widerhall dieser naiven Auffassungen ist deutlich niedergelegt im Protokoll des Jenaer Parteitags der K. P. D.

Nun stellen wir uns, Genossen, vor, in welcher Lage wir heute wären, wenn wir vor 1½ Jahren diese rein mechanische Theorie der „Linken“ über die fortwährend sich zuspitzende Krise im Handel und in der Industrie angenommen hätten! Momentan wird kein gesund denkender Mensch leugnen, daß ein Umschwung in der Konjunktur eingetreten ist. In den Vereinigten Staaten, d. h. in dem mächtigsten kapitalistischen Lande, nehmen wir einen offensichtlichen Industrieaufschwung wahr. In Japan, in England, in Frankreich ist die Besserung der wirtschaftlichen Konjunktur bedeutend schwächer, aber die Tatsache des Umschwunges bleibt bestehen. Wie lange die Blüteperiode anhalten und welche Höhe sie erreichen wird, ist eine andere Frage. Wir dürfen keinen Augenblick vergessen, daß die Besserung der Konjunktur sich entfaltet auf der Grundlage des internationalen und insbesondere europäischen kapitalistischen Zerfalls. Die Ursachen dieses Zerfalls werden von den Konjunkturveränderungen des Marktes nicht betroffen. Aber andererseits schaltet auch der Zerfall die Konjunkturveränderungen nicht aus. Wir wären heute gezwungen, unsere grundsätzliche Auffassung des revolutionären Charakters dieser Epoche einer neuen theoretischen Kritik zu unterwerfen, wenn wir vor 1½ Jahren der Linken nachgegeben hätten, die die historische Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die zyklischen Konjunkturschwankungen des Marktes in einen Topf warfen und von uns verlangten, daß wir die rein metaphysische Auffassung akzeptierten, daß die Krise unter jeglichen Umständen einen revolutionären Faktor bilde. Nun haben wir nicht die geringste Veranlassung, unsere Beschlüsse einer Revision zu unterwerfen. Wir hielten unsere Epoche für revolutionär, nicht deshalb, weil im Jahre 1920 die scharfe Konjunkturkrise den scheinbaren Aufschwung des Jahres 1919 abgelöst hatte, sondern wir taten es auf Grund unserer allgemeinen Einschätzung des Weltkapitalismus und des Kampfes seiner grundlegenden Kräfte. Damit diese Lektion für niemanden nutzlos vorübergehe, mußten wir die absolute Richtigkeit der Thesen des 3. Kongresses bestätigen, die ihre volle Kraft auch für den jetzigen Moment behalten.

Die Grundidee des 3. Kongresses war die: Nach dem Kriege waren die Massen von revolutionären Stimmungen und der Bereitwilligkeit zum offenen Kampfe erfaßt. Es fehlte aber die revolutionäre Partei, die imstande gewesen wäre, sie zum Siege zu führen. Daraus ergab sich in den verschiedenen Ländern die Niederlage der revolutionären Massen, Depression und Passivität. Jetzt gibt es revolutionäre Parteien in allen Ländern, aber sie stützen sich unmittelbar nur auf einen Teil der Arbeiterklasse, richtiger auf deren Minorität. Die kommunistischen Parteien müssen das Vertrauen der überwiegenden Majorität der Arbeiterklasse gewinnen. Nachdem die Arbeiterklasse sich erfahrungsgemäß von der Richtigkeit, Festigkeit und Zuverlässigkeit der kommunistischen Leitung überzeugt haben wird, wird sie die Enttäuschung, die Passivität, die abwartende Haltung abschütteln, und dann wird die Epoche des letzten Ansturms beginnen. Wie nahe ist diese Stunde? Wir sagen es nicht voraus. Aber als Aufgabe des Tages hat der 3. Kongreß den Kampf um den Einfluß auf die Majorität der Arbeiterklasse definiert. Seither sind 1½ Jahre verflossen. Wir haben entschieden große Erfolge zu verzeichnen. Aber die Aufgabe bleibt nach wie vor dieselbe: es gilt das Vertrauen der überwiegenden Majorität der Werktätigen zu erobern. Das kann und muß im Prozeß des Kampfes um die Uebergangsforderungen unter der allgemeinen Parole der proletarischen Einheitsfront erreicht werden.

Gegenwärtig steht die internationale Arbeiterbewegung im Zeichen der Offensive des Kapitals. Zugleich sehen wir sogar in Ländern wie Frankreich, wo die Arbeiterbewegung vor einem Jahre, vor anderthalb Jahren eine Periode lähmenden Stillstandes durchgemacht hat, jetzt ein unzweifelhaftes Wachstum, sehen die Bereitschaft der Arbeiterklasse zur Abwehr. Ungeachtet der mangelhaften Leitung mehren sich die Streiks in Frankreich und nehmen einen sehr intensiven Charakter an, der von der wachsenden Kampffähigkeit der Arbeitermassen zeugt. Daraus ergibt sich eine stetige Vertiefung und Verschärfung des Klassenkampfes. Der Offensive des Kapitals entspricht die Konzentrierung der Staatsmacht in den Händen der reaktionärsten Elemente der Bourgeoisie. Aber zu gleicher Zeit sehen wir, wie die bürgerliche öffentliche Meinung, der Zuspitzung des Klassenkampfes entgegengehend, mit der stillschweigenden Zustimmung der regierenden Cliquen eine neue Orientierung vorbereitet, eine Linksorientierung im Sinne des reformistischen und pazifistischen Betruges. In Frankreich steht am Ruder der erzreaktionäre bloc national, geleitet von Poincaré, zugleich bereitet sich systematisch der Sieg des linken Blocks vor, dem sich natürlich auch die Herren Sozialisten anschließen werden. In England finden momentan allgemeine Wahlen statt. Infolge des Zerfalls der Koalition Lloyd Georges sind sie früher eingetreten als man erwartet hat. Man weiß noch nicht, wer siegen wird. Vielleicht wird die frühere extrem imperialistische Gruppe wieder an die Spitze kommen. [1] Aber selbst wenn sie siegen wird, wird das nicht für lange sein. Sowohl in England als auch in Frankreich bereitet sich offenkundig eine neue parlamentarische Orientierung der Bourgeoisie vor. Die offen imperialistischen, aggressiven Methoden des Versailler Vertrages des Generals Foch, Poincarés und Curzons geraten in eine Sackgasse. Frankreich kann nicht von Deutschland das bekommen, was Deutschland nicht hat. Frankreich kann seinerseits seine Schulden nicht bezahlen. Der Antagonismus zwischen England und Frankreich wächst beständig. Amerika will auf die Zurückerstattung der Schulden nicht verzichten. Und in den mittleren und besonders den kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung wachsen die reformistisch-pazifistischen Stimmungen: man sollte mit Deutschland Übereinkommen, mit Rußland Verträge schließen, den Völkerbund erweitern, die Lasten des Militarismus lindern, eine Anleihe von Amerika bekommen usw. usw. Die kriegerischen Illusionen, die Gedankengänge und Parolen des Nationalismus, des Chauvinismus, dann die Hoffnungen auf die herrlichen Früchte des Sieges, kurz und gut die Illusionen, die in den Ländern der Entente auch einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse selbst gefangengehalten haben, machen jetzt der Ernüchterung und der Enttäuschung Platz; sie geben den Boden für das Anschwellen des linken Blocks in Frankreich, der sogenannten Arbeiterpartei und der Unabhängigen Liberalen in England. Freilich, irgendeine ernsthafte Aenderung in der Politik ist von der reformistisch-pazifistischen Orientierung der Bourgeoisie nicht zu erwarten. Die objektiven Verhältnisse der kapitalistischen Welt eignen sich heute für Reformismus und Pazifismus weniger denn je. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß noch ein praktischer Zusammenbruch dieser Illusionen wird eintreten müssen, bevor der revolutionäre Sieg möglich werden wird.

Wir sprachen bisher nur von der Entente, aber es ist klar, daß, wenn in Frankreich die Radikalen und Sozialisten und in England die Arbeiteropportunisten und die Unabhängigen Liberalen am Ruder wären, dies unvermeidlich auch in Deutschland eine neue Welle der opportunistischen und pazifistischen Hoffnungen hervorrufen müßte: mit den demokratischen Regierungen Englands und Frankreichs läßt sich ja reden, man kann die Schulden aufschieben und sogar abhandeln, man kann mit ihrer Hilfe sogar eine Anleihe von Amerika bekommen usw. Und wer wäre für Abkommen mit den französischen Radikalen, Sozialisten und den englischen Arbeiterparteilern besser geeignet als die deutschen Sozialisten? ...

Gewiß, die Ereignisse können sich auch in schärferer Form entfalten. Nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, daß das Reparationsproblem, der französische Imperialismus und der italienische Faszismus die Sache zum revolutionären Abschluß bringen, ohne der Bourgeoisie Zeit zu lassen, ihren linken Flügel vorzuschieben.

Aber zuviel Momente sprechen dafür, daß die Bourgeoisie gezwungen sein wird, zu einer reformistischen und pazifistischen Orientierung ihre Zuflucht zu nehmen, bevor das Proletariat sich für den entscheidenden Angriff vorbereitet fühlen wird. Das wird eine „Kerenski-Epoche“ im europäischen Maßstabe bedeuten. Gewiß, es wäre besser, sie zu vermeiden: diese Kerenskirei ist kein leckerer Bissen, dazu noch im Weltausmaß. Aber die Wahl der historischen Wege hängt von uns nur bis zu einem gewissen Grade ab. Unter gewissen Verhältnissen werden wir auch eine europäische Kerenski-Etappe auf uns nehmen, wie wir seinerzeit die russische genommen haben. Unsere Aufgabe wird darin bestehen, die Periode des reformistischen und pazifistischen Betruges in einen direkten Angriff zur Eroberung der Macht durch das revolutionäre Proletariat zu verwandeln. Bei uns dauerte die Kerenski-Periode im ganzen zirka neun Monate. Wie lange wird sie bei Euch dauern, wenn sie überhaupt eintreten sollte? Diese Frage läßt sich jetzt natürlich nicht beantworten. Das hängt davon ab, wie rasch die Liquidierung der reformistischen und pazifistischen Illusionen vonstatten gehen wird, d. h. in hohem Grade davon, mit welcher Geschicklichkeit Eure Kerenskis manövrieren werden, die zum Unterschied von den unsrigen wenigstens das Einmaleins beherrschen. Aber das hängt auch davon ab, mit welcher Energie, Entschlossenheit, Elastizität unsere eigene Partei manövrieren wird.

Es ist ja klar, daß die Periode der reformistisch-pazifistischen Regierungen zu einer Zeit des wachsenden Ansturms der Arbeitermassen werden müßte. Unsere Aufgabe würde darin bestehen, dieses Ansturms Herr zu werden, ihn zu führen. Aber dazu ist es notwendig, daß unsere Partei in die Periode des pazifistischen Betrugs ganz geläutert von pazifistischen und reformistischen Illusionen eintritt. Wehe jener kommunistischen Partei, die selbst mehr oder minder von der pazifistischen Welle überschwemmt würde! Der unvermeidliche Schiffbruch der pazifistischen Illusionen würde dann auch den Schiffbruch einer solchen Partei bedeuten. Die Arbeiterklasse müßte sich dann von neuem, wie es 1919 bereits der Fall war, daranmachen, um sich jene Partei zu suchen, von der sie noch nicht irregeführt worden ist ...

Aus diesen Gründen bildet die Ueberprüfung unserer Reihen und deren Säuberung von fremdartigen Elementen unsere erste Aufgabe in dieser Epoche der revolutionären Vorbereitung. Ein französischer Genosse, nämlich Frossard, sagte einmal: „Le parti c’est la grande amitié“ (Die Partei ist die große Freundschaft). Diese Formel wurde daraufhin auch von anderen oft wiederholt. In der Tat, man kann nicht leugnen, daß diese Formel an sich sehr hübsch ist, so daß im gewissen Sinne jeder von uns sie zu unterschreiben bereit ist. Man darf aber nicht aus dem Auge verlieren, daß die Partei nicht wie eine große Freundschaft geboren wird, sondern zur großen Freundschaft erst wird durch einen tiefen äußeren und nötigenfalls auch inneren Kampf, durch die Säuberung der Reihen, durch eine sorgfältige und, wenn nötig, schonungslose Auslese der besten Elemente der Arbeiterklasse, die der Sache der Revolution restlos ergeben sind. Mit anderen Worten: bevor die Partei zur großen Freundschaft wird, muß sie erst hindurchgehen durch die große Auslese! (Stürmischer, langanhaltender Beifall)

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Anmerkung

1. Gesiegt haben bekanntlich die Konservativen.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019