Leo Trotzki

Die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands
und die Perspektiven der Weltrevolution

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Ueber die sozialdemokratische Kritik

Zu unserer 4. Jahresfeier, d. h. vor einem Jahre, hat Otto Bauer unserer Wirtschaft eine Broschüre gewidmet, in der er von unserer neuen Wirtschaftspolitik in korrekt geschniegelter Form all das sagt, was unsere temperamentvolleren Feinde aus dem sozialdemokratischen Lager gewöhnlich mit geiferndem Maul auseinanderzusetzen pflegen. Erstens sei unsere neue ökonomische Politik eine „Kapitulation vor dem Kapitalismus“, aber gerade deswegen sei sie nach Bauer gut. Dadurch sei sie realistisch (diese Herren sahen stets und sehen das Realistische, damit sie bei der ersten besten Gelegenheit vor der Bourgeoisie auf dem Bauch rutschen). Letzten Endes, belehrt uns Bauer, könne die russische Revolution zu nichts anderem führen, als zur bürgerlich-demokratischen Republik, und er, Bauer, habe es ja schon 1917 vorausgesagt. Wir erinnern uns jedoch, daß im Jahre 1919 die „Weissagungen“ dieser traurigen Helden aus der 2½ Internationale etwas anders klangen. Damals redeten sie vom Zusammenbruch des Kapitalismus und dem Beginn einer sozialrevolutionären Epoche. Aber kein Narr wird daran glauben, daß zu einer Zeit, da in der ganzen Welt der Kapitalismus dem Untergang entgegengeht, im revolutionären Rußland, wo die Arbeiterklasse die Herrschaft hat, noch eine Periode der kapitalistischen Blüte beginnen muß. Also 1917, als Otto Bauer noch den jungfräulichen austromarxistischen Glauben an die Unerschütterlichkeit des Kapitalismus und der Habsburger Monarchie hatte, schrieb er, daß die russische Revolution nur zur Entstehung eines bürgerlichen Staates führen könne; doch, der sozialistische Opportunist ist in der Politik immer impressionistisch. Von der Revolution überrumpelt, und in ihren Wellen ertrinkend, mußte er 1919 anerkennen: das ist der Untergang des Kapitalismus, das ist der Beginn der sozialrevolutionären Epoche! Da aber jetzt die Wellen der Revolution Gott sei Dank wieder zurückgeflutet sind, so kehrt unser Weiser eilig zu seiner Prophezeiung vom Jahre 1917 zurück, denn wie wir wissen, hat er zum Glück zwei Weissagungen auf Lager und kann sie auf Wunsch gebrauchen. (Heiterkeit) Des weiteren argumentiert Bauer so: wir sehen also, daß die kapitalistische Wirtschaft (in Rußland) wieder aufersteht; die kapitalistische Wirtschaft, die von einer neuen Bourgeoisie beherrscht wird, die sich auf Millionen von Bauernwirtschaften stützt; an sie, an diese Bourgeoisie mußten notgedrungen die Gesetzgebung und die Staatsverwaltung angepaßt werden. – Jetzt sehen Sie, was unser Sowjetrußland darstellt? Schon vor einem Jahre erklärte dieser Herr, daß Wirtschaft und Staat bei uns unter der Herrschaft der neuen Bourgeoisie stehen. Diese Verpachtung von Betrieben, die schlecht installiert sind, und, wie ich Ihnen erzählt habe, ca. 50.000 Arbeiter beschäftigen – gegenüber 1 Million Arbeitern in den besten Staatsbetrieben – soll eine „Kapitulation der Sowjetregierung vor dem Industriekapital“ sein.

Um diesen ebenso unsinnigen wie unverschämten Behauptungen die nötige historische Einfassung zu verleihen, behauptet Bauer: „Nach langem Zögern hat sich die Sowjetregierung jetzt endlich (!!) entschlossen, die zaristischen Auslandsschulden anzuerkennen“, kurzum eine Kapitulation nach der anderen!

Da natürlich nicht alle Genossen genau unsere Geschichte im Kopfe haben, so will ich daran erinnern, daß wir schon am 4. Februar 1919 durch ein Radio an alle kapitalistischen Regierungen folgendes Angebot gerichtet hatten:

  1. Anerkennung der Schuldenverpflichtungen der früheren Regierungen Rußlands,
     
  2. Verpfändung unserer Rohmaterialien als Sicherstellung für die Zahlung der Anleihen und der Prozente,
     
  3. Verleihung von Konzessionen – nach ihrem Belieben,
     
  4. territoriale Zugeständnisse in Gestalt von militärischen Okkupationen gewisser Distrikte durch Streitkräfte der Entente oder ihrer russischen Agenten.

All das haben wir durch ein Radio vom 4. Februar 1919 der kapitalistischen Welt angeboten als Entgelt dafür, daß sie uns in Ruhe läßt. Und im April desselben Jahres haben wir unser Anerbieten noch ausführlicher und genauer dem nichtoffiziellen amerikanischen Bevollmächtigten, – wie hieß er, dieser Barsche – (Heiterkeit) ... ja Bullit ... Nun Genossen, wenn man diese Vorschläge mit denjenigen vergleicht, die von unseren Vertretern in Genua und im Haag abgelehnt worden sind, so sieht man, daß wir uns auf diesem Wege nicht in der Richtung der Erweiterung der Zugeständnisse bewegten, sondern im Gegenteil in der Richtung einer festeren Haltung zum Schutz unserer revolutionären Errungenschaften. Jetzt haben wir keinerlei Schulden anerkannt; wir verpfänden keine Rohstoffe und gedenken es auch nicht zu tun, in der Frage der Konzessionen sind wir sehr zurückhaltend und jedenfalls wollen wir keinerlei Okkupationstruppen auf unserem Territorium dulden! Manches hat sich seit 1919 doch geändert ...

Wir hörten bereits von Otto Bauer, daß diese ganze Entwicklung zur „Demokratie“ führe. „Es bestätigt sich wieder einmal“, belehrt uns der Schüler Kautskys und der Lehrer Martows, „daß auf eine Umwälzung in der ökonomischen Basis auch eine Umwälzung im ganzen politischen Ueberbau folgen muß.“ Ganz richtig – zwischen der Basis und dem Ueberbau besteht im großen und ganzen namentlich jenes Wechselverhältnis, von dem Bauer spricht. Aber erstens ändert sich die ökonomische Basis Sowjetrußlands nicht ganz so, wie es Otto Bauer darstellt, und auch nicht ganz so, wie es Leslie Urquhart möchte, der ja in dieser Frage, sei’s gesagt, ein gewichtigeres Wort mitzureden hat als Otto Bauer; und zweitens, insofern die ökonomische Basis sich in Wirklichkeit verändert im Sinne der kapitalistischen Beziehungen, vollziehen sich diese Veränderungen in einem Tempo und einem Maßstab, daß wir keineswegs Gefahr laufen, die politische Kontrolle über den ökonomischen Prozeß zu verlieren.

Unter rein politischem Gesichtspunkt läuft die Frage einstweilen darauf hinaus, daß die regierende Arbeiterklasse diese oder jene, sehr bedeutenden Zugeständnisse an die Bourgeoisie macht. Aber von hier bis zur „Demokratie“, d. h. bis zur Uebergabe der Macht an die Kapitalisten, ist es noch sehr weit. Um dieses Ziel zu erreichen, würde die Bourgeoisie eine siegreiche konterrevolutionäre Umwälzung brauchen. Für diese Umwälzung aber brauchte sie die entsprechenden Kräfte. Wir haben in dieser Hinsicht manches von der Bourgeoisie selbst gelernt. Im Verlauf des ganzen 19. Jahrhunderts tat sie nichts anderes als Repressalien und Zugeständnisse an das Kleinbürgertum, das Bauerntum, an die Spitzen der Arbeiterklasse aufeinanderfolgen zu lassen, indem sie zugleich die werktätigen Massen erbarmungslos ausbeutete. Diese Zugeständnisse trugen bald einen politischen, bald einen ökonomischen und bald einen kombinierten Charakter. Aber sie waren stets Zugeständnisse seitens der regierenden Klasse, die in ihren Händen die Staatsmacht behielt. Manche ihrer Experimente auf diesem Gebiete schienen am Anfang sehr riskiert zu sein, so z. B. die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Marx hat die gesetzliche Verkürzung des Arbeitstages in England als den Sieg eines neuen Prinzips bezeichnet. Eines welchen Prinzips? Des Prinzips der Arbeiterklasse. Aber der Weg von dem partiellen Siege dieses Prinzips bis zur Eroberung der politischen Macht durch die englische Arbeiterklasse erwies sich, wie wir es wohl wissen, als ein sehr langer Weg. Die regierende Bourgeoisie pflegte die Zugeständnisse genau zu bemessen. Die staatliche Buchhalterei verblieb in ihren Händen. Ihre regierenden Politiker entschieden, wieviel man geben könnte, nicht allein ohne Gefahr für die Erhaltung der Macht, sondern umgekehrt, zugunsten und zur Befestigung der bürgerlichen Herrschaft. Wir Marxisten behaupteten wiederholt, daß die Bourgeoisie ihre historische Mission erschöpft hat. Indes behält sie bis auf den heutigen Tag die Macht in ihren Händen. Das bedeutet, daß das Wechselverhältnis zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Ueberbau keineswegs so gradlinig ist. Wir sehen, daß die Klassenherrschaft sich jahrzehntelang hält, nachdem sie schon in einen klaren Widerspruch mit den Bedürfnissen der ökonomischen Entwicklung geraten ist.

Mit welchem theoretischen Grunde darf man behaupten, daß die Zugeständnisse des Arbeiterstaates an die bürgerlichen Beziehungen automatisch die Ablösung des Arbeiterstaates durch einen Staat des Kapitals nach sich führen muß? Wenn es wahr ist, daß der Kapitalismus sich in internationalem Maßstab erschöpft hat – und das ist unbedingt wahr – , so wird damit auch die fortschrittliche historische Rolle des Arbeiterstaates bejaht. Die Zugeständnisse, die von dem Arbeiterstaat an die Bourgeoisie gemacht werden, stellen bloß Kompromisse dar, die von den Schwierigkeiten der Entwicklung erzeugt werden, aber die Entwicklung selbst ist historisch vorbestimmt und gesichert. Natürlich würden unsere Zugeständnisse sich schrankenlos entfalten, vermehren und anhäufen, würden wir immer neue Gruppen von nationalisierten Industrieunternehmen verpachten, würden wir Konzessionen auf die wichtigsten Quellen der Produktion oder die Eisenbahnen geben; würde unsere Politik auf der schiefen Ebene der Zugeständnisse viele Jahre lang anhalten, – dann müßte die Umgestaltung der ökonomischen Basis zum Zusammenbruch des politischen Ueberbaues führen. Wir sprechen von Zusammenbruch und nicht von einer Umgestaltung, denn das Kapital könnte dem kommunistischen Proletariat nicht anders die Macht entreißen, als infolge eines erbitterten harten Bürgerkrieges. Wer aber die Frage so stellt, der setzt dadurch die Lebensfähigkeit und die Dauerhaftigkeit der Herrschaft der europäischen und der Weltbourgeoisie voraus. Darauf läuft ja schließlich alles hinaus. Die sozialdemokratischen Theoretiker, die einerseits in Sonntagsleitartikeln anerkennen, daß der Kapitalismus, besonders in Europa, sich überlebt habe und zum Hemmschuh der historischen Entwicklung geworden sei, und andererseits ihrer Ueberzeugung Ausdruck verleihen, daß die Evolution Sowjetrußlands unvermeidlich zum Triumph der bürgerlichen Demokratie führe, verfallen in den erbärmlichsten und plattesten Widerspruch, der dieser flachköpfigen und aufgeblasenen Konfusionisten durchaus würdig ist. Die neue Wirtschaftspolitik ist auf bestimmte Verhältnisse in Raum und Zeit berechnet. Sie ist das Manövrieren des Arbeiterstaates, der noch in kapitalistischer Umkreisung lebt und fest auf die revolutionäre Entwicklung Europas rechnet. In der Entscheidung der Frage des Schicksals der Sowjetrepublik mit absoluten Kategorien des Kapitalismus und Sozialismus operieren, denen der entsprechende politische Ueberbau „adäquat“ ist, heißt, von den Bedingungen der Uebergangsperiode nichts verstehen, heißt, Scholast und nicht Marxist sein. Ein solcher Faktor wie die Zeit läßt sich aus der politischen Berechnung nicht ausschalten. Wenn wir zugeben, daß der Kapitalismus in der Tat noch in Europa ein Jahrhundert oder ein halbes Jahrhundert bestehen wird, und daß Sowjetrußland daran seine Wirtschaftspolitik wird anpassen müssen, dann wird die Frage von selbst gelöst, denn mit dieser Zulassung setzen wir von vornherein den Zusammenbruch der proletarischen Revolution in Europa und den Beginn einer neuen Epoche der kapitalistischen Renaissance voraus. Aus welchem Grunde sollten wir das tun? Wenn Otto Bauer im heutigen Oesterreich wunderbare Merkmale der kapitalistischen Auferstehung entdeckt hat, dann müßte darnach auch das Geschick Sowjetrußlands vorbestimmt sein? Aber einstweilen sehen wir keine Wunder und glauben an keine Wunder. Von unserem Standpunkt aus würde die Sicherung der Staatsmacht der europäischen Bourgeoisie für eine Reihe von Jahrzehnten unter den jetzigen Verhältnissen der Welt nicht einen neuen Aufschwung des Kapitalismus, sondern die wirtschaftliche Stagnation und den kulturellen Zerfall Europas bedeuten. Daß ein solcher Prozeß auch Sowjetrußland mit in den Abgrund fortreißen könnte, das läßt sich, allgemein gesprochen, nicht leugnen. Ob Rußland dann ein Stadium der Demokratie passieren oder unter anderen Formen stagnieren müßte – das ist eine nebensächliche Frage. Aber wir sehen keinen Grund, uns unter das Banner der Spenglerschen Philosophie zu stellen. Wir rechnen fest auf die revolutionäre Entwicklung in Europa. Die neue ökonomische Politik ist lediglich eine Anpassung an das Tempo dieser Entwicklung.

Otto Bauer fühlt scheinbar selbst, daß aus den Veränderungen, die sich in unserer Wirtschaft vollziehen, sich noch keineswegs unmittelbar das Regime der Demokratie ergibt. Deshalb redet er uns sehr rührend zu, die kapitalistischen Entwicklungstendenzen gegen die sozialistischen Tendenzen zu fördern. Bauer sagt: „Der Wiederaufbau einer kapitalistischen Wirtschaft kann nicht unter der Diktatur einer kommunistischen Partei erfolgen. Der neue Kurs in der Volkswirtschaft erheischt einen neuen Kurs in der Politik.“ Ist das nicht bis zu Tränen rührend? Derselbe Mann, der es wirtschaftlich und politisch in Oesterreich so herrlich weit gebracht hat (Heiterkeit), beteuert uns: „So seht doch um Gottes willen ein, daß der Kapitalismus unter der Diktatur Eurer Partei nicht auf einen grünen Zweig kommen kann.“ Nun eben deshalb – allen Bauers sei’s gesagt – behalten wir ja die Diktatur unserer Partei bei! (Große Heiterkeit, Beifall)

Die Zugeständnisse an den Kapitalismus werden bei uns von der Kommunistischen Partei als Leiterin des Arbeiterstaates bemessen. Gerade jetzt wird in unserer Presse die Frage der Urquhartschen Konzessionen diskutiert. Soll man die Konzessionen erteilen oder nicht? Die Diskussion hat zum Ziel, die konkreten materiellen Bedingungen des Vertrages festzustellen, und die Konzession vom Gesichtspunkt ihres Platzes im allgemeinen System der Sowjetwirtschaft einzuschätzen. Ist die Konzession nicht zu groß? Wird durch diese Konzession das Kapital nicht allzu tief in das Innere unserer Industriewirtschaft eindringen? Das sind die Fragen. Wer löst sie? Der Arbeiterstaat. Natürlich schließt die Nep in sich ein gewaltiges Zugeständnis an die bürgerlichen Beziehungen und an die Bourgeoisie selbst ein. Aber die Dimensionen dieses Zugeständnisses werden von uns selbst bestimmt. Wir sind die Herren im Hause. Wir haben den Schlüssel von der Tür. Der Staat ist an sich ein außerordentlich wichtiger Faktor des Wirtschaftslebens und wir denken nicht im entferntesten daran, diesen Faktor aus der Hand zu geben.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019