Leo Trotzki

Die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands
und die Perspektiven der Weltrevolution

* * *

Das Kriterium der Arbeitsproduktivität

Es gibt jedoch ein wichtiges und eigentlich grundlegendes Moment zur Bestimmung der Lebensfähigkeit eines gesellschaftlichen Regimes (wir haben es bisher noch nicht berührt), – das ist die Frage der Produktivität der Wirtschaft, und zwar nicht nur der Produktivität der individuellen Arbeit, sondern der Produktivität des ganzen wirtschaftlichen Regimes. Der historische Aufstieg der Menschheit besteht eben darin, daß das Regime mit geringerer Leistungsfähigkeit abgelöst wird von einem Regime, das eine höhere Leistungsfähigkeit der Arbeit sichert. Wenn die alte Feudalgesellschaft vom Kapitalismus abgelöst wurde, so geschah es nur dank dem Umstande, daß unter der Herrschaft des Kapitals die menschliche Arbeit leistungsfähiger ist. Und der Sozialismus wird den Kapitalismus nur deshalb und nur dadurch endgültig besiegen, daß er eine viel größere Menge von Produkten pro Einheit der menschlichen Arbeitskraft sichern wird. Dürfen wir jetzt schon sagen, daß unsere Staatsbetriebe produktiver arbeiten, als sie unter dem Kapitalismus gearbeitet haben? Nein, das ist noch nicht der Fall. Nicht nur die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen oder die Deutschen arbeiten in ihren kapitalistischen Betrieben besser und produktiver als wir – dies war auch vor der Revolution so, – sondern wir selbst haben vor der Revolution besser gearbeitet, als wir jetzt arbeiten. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick vom Standpunkt der Beurteilung des Sowjetregimes sehr beunruhigend erscheinen. Unsere bürgerlichen Feinde und hinter ihnen her natürlich auch die sozialdemokratischen Kritiker, nutzen die Tatsache der geringen Produktivität unserer Wirtschaft auf jede Weise gegen uns aus. Der französische Vertreter Collerat in Genua erklärte in seiner Antwort an Tschitscherin mit bürgerlicher Unverfrorenheit, die Sowjetdelegation hätte ja überhaupt kein Recht, in Wirtschaftsfragen mitzureden, in Anbetracht des wirtschaftlichen Zustandes, in dem sich jetzt Rußland befinde. Dieses Argument mag auf den ersten Blick sehr schlagend erscheinen. Aber in Wirklichkeit zeugt es nur von einer außerordentlichen historischen und ökonomischen Ignoranz. Gewiß, es wäre sehr gut, wenn wir jetzt schon imstande wären, nicht durch theoretische Beweisführungen, die wir von der Erfahrung ableiten, sondern durch materielle Argumente die Vorzüge des Sozialismus zu offenbaren, d. h. zu zeigen, daß unsere Fabriken dank einer zentralisierteren und geregelteren Organisation eine höhere Arbeitsleistung ergeben als dieselben Betriebe der kapitalistischen Länder oder wenigstens als diese Betriebe vor der Revolution ergeben haben. Aber das ist nicht da, das kann einstweilen nicht sein, das läßt sich nicht so rasch erreichen. Das, was wir jetzt haben, ist nicht Sozialismus im Gegensatz zum Kapitalismus, sondern ein schwerer Uebergangsprozeß vom Kapitalismus zum Sozialismus, sind die ersten qualvollsten Schritte dieses Ueberganges. In Modifizierung der bekannten Worte von Marx kann man sagen, daß wir darunter leiden, daß wir noch sehr mächtige Ueberreste des Kapitalismus und erst Anfänge des Sozialismus haben.

Ja, die Arbeitsproduktivität ist bei uns zurückgegangen. Der Wohlstand ist gesunken. In der Landwirtschaft beträgt z. B. die Ernte des letzten Jahres ungefähr ¾ der durchschnittlichen Ernte der Vorkriegszeit. Mit der Industrie steht es noch trauriger: wir haben in diesem Jahr ungefähr ¼ der Vorkriegsproduktion, der Transport leistet ungefähr ⅓ der Vorkriegsarbeit. Diese Tatsachen sind sehr traurig. Aber war es denn anders beim Uebergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen? Die kapitalistische Gesellschaft, die reich ist, die sich mit ihrem Reichtum und ihrer Kultur brüstet, entstand ebenfalls aus einer Revolution, und zwar einer sehr zerstörenden Revolution. Die objektive historische Aufgabe: die Bedingungen für eine höhere Arbeitsproduktivität zu schaffen, wurde schließlich durch eine bürgerliche Revolution oder richtiger durch eine Reihe von Revolutionen gelöst. Aber auf welchem Wege? Auf dem Wege außerordentlicher Verwüstungen und eines vorübergehenden Niederganges der materiellen Kultur. Nehmen wir ein Beispiel aus Frankreich selbst. Natürlich ist Herr Collerat in seiner Eigenschaft als französischer Minister nicht verpflichtet, die Geschichte seines heißgeliebten Vaterlandes zu kennen. Wir aber kennen die Geschichte Frankreichs und seiner Revolution. Ob wir den Reaktionär Taine oder den Sozialisten Jaurès wählen, wir finden bei ihnen sprechende Tatsachen genug, die den erschreckenden Zustand Frankreichs nach der Revolution charakterisieren. Und das Maß der Verwüstungen war so groß, daß nach dem 9. Thermidor, d. h. im 5. Revolutionsjahre das Elend nicht abnahm, sondern im Gegenteil immer vertieft wurde. Im 10. Jahre der französischen Revolution, als Napoleon Bonaparte bereits erster Konsul war, bekam Paris, das damals eine Bevölkerung von einer halben Million zählte, täglich 300 – 500 Sack Mehl, während die Stadt für eine Hungerexistenz 1.500 Sack brauchte; dabei verfolgte der erste Konsul tagein tagaus die Anzahl der gelieferten Säcke Mehl. Das war – man vergesse es nicht! – im zehnten Jahr nach dem Beginn der großen französischen Revolution. Zu dieser Zeit war die Bevölkerung Frankreichs infolge des Hungers, der Seuchen und der Kriege in 37 Departements von 58 zurückgegangen. Es erübrigt sich zu sagen, daß die englischen Collerats und die Poincarés der damaligen Zeit mit der größten Verachtung vom verarmten Frankreich sprachen.

Wir stehen nicht im zehnten Jahre der Revolution, – man vergesse es nicht! – sondern am Anfänge des sechsten Jahres, und unsere Revolution geht tiefer als die französische gegangen ist, die bloß eine Form der Ausbeutung durch eine andere ersetzt hat, während wir die auf Ausbeutung aufgebaute Gesellschaft durch eine Gesellschaftsform ersetzen, die auf Solidarität beruht. Die Erschütterung ist sehr groß, die Zerstörungen sind sehr groß, es gibt viel zerschlagenes Geschirr dabei, – und das, was jetzt vor allem ins Auge springt, das sind die Unkosten der Revolution. Was die großen Errungenschaften der Revolution betrifft, so werden sie nur nach und nach im Verlauf von Jahren und Jahrzehnten realisiert.

Gerade in den letzten Tagen fiel mir eine Rede in die Hände, die auf die uns interessierende Frage Bezug hat: eine Rede des französischen Chemikers Berthelot, des Sohnes des berühmten Berthelot. Als Abgeordneter der Akademie der Wissenschaften äußerte er neulich folgenden Gedanken (ich zitiere nach dem Temps):

„In allen Perioden der Geschichte, sowohl auf dem Gebiet der Wissenschaften als auch auf dem Gebiete der Politik und der sozialen Erscheinungen, gehörte den bewaffneten Konflikten stets das grandiose und schreckliche Vorrecht, die Entstehung der Neuzeit mit Blut und Eisen zu beschleunigen.“

Herr Berthelot meint natürlich vor allem die Kriege, aber im Grunde genommen hat er doch recht, denn auch die Kriege gaben, insofern sie der Sache der revolutionären Klasse dienten, der historischen Entwicklung einen gewaltigen Anstoß; insofern sie aber (und das geschah viel häufiger) der Sache der Unterdrücker dienten, stießen sie mitunter die Bewegung der Unterdrückten vorwärts. In noch weit größerem Grade gelten die Worte Berthelots für die Revolutionen. Die „bewaffneten Konflikte“ zwischen den Klassen, die große Zerstörungen mit sich bringen, kennzeichnen zu gleicher Zeit die „Entstehung neuer Epochen“. Die Unkosten der Revolution sind also nicht überflüssige Kosten oder, wie die Franzosen sagen, „faux frais“. Man darf bloß bis zum Ablauf der Frist keine Zinsen fordern. Wir bitten unsere Freunde, noch fünf Jahre zu warten, damit wir im zehnten Jahre der Revolution – d. h. einer Frist wie die, nach deren Ablauf Napoleon die Mehlsäcke für das hungrige Paris zählte – den Vorzug des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus beweisen können, nicht allein durch Schlußfolgerungen, sondern durch materielle Tatsachen. Und wir hoffen, daß die ersten überzeugenden Tatsachen zu der Zeit schon vorliegen werden.

Aber besteht denn nicht immerhin auf dem Wege zu diesen künftigen Erfolgen die Gefahr der kapitalistischen Umgestaltung unseres Regimes – gerade infolge der äußerst traurigen Lage der Industrie im gegenwärtigen Moment? Die Bauernschaft hat in diesem Jahre wie gesagt ca. ¾ der Vorkriegsernte gesammelt. Die Industrie hat jedoch im ganzen etwa ¼ der Vorkriegsproduktivität geleistet. Dadurch ist das Verhältnis zwischen Stadt und Land außerordentlich gestört und zwar zum Nachteil der Stadt. Die Staatsindustrie wird unter diesen Umständen nicht imstande sein, dem Bauern ein äquivalentes Produkt für sein Getreide zu liefern, und die Ueberschüsse der Bauern werden, auf den Markt geworfen, zur Grundlage der privatkapitalistischen Akkumulation werden. Gewiß, diese Argumentation ist in ihrer Grundlage richtig; die Marktverhältnisse haben, zu welchem Ziele wir sie auch wiederhergestellt haben mögen, ihre Logik. Aber hier ist wiederum von Wichtigkeit, ein richtiges quantitatives Verhältnis aufzustellen. Würde das Bauerntum eine ganze Ernte auf den Markt werfen, so hätte das bei einer Schwächung der Industrie um das Vierfache die schlimmsten Folgen für die sozialistische Entwicklung haben können. In Wirklichkeit aber produziert der Bauer hauptsächlich für den Eigenbedarf. Außerdem zahlt er in diesem Jahr über 350.000.000 Pud Naturalsteuer an den Staat. Nur die Ueberschüsse nach Abzug des Eigenbedarfs und der Naturalsteuer werden von ihm auf den Markt geworfen. Und das wird in diesem Jahr kaum 100.000.000 Pud übersteigen, wobei ein großer oder sogar der größte Teil dieser 100.000.000 von den Genossenschaften oder Staatsinstitutionen gekauft wird. So sehen wir, daß die Staatsindustrie nicht der Bauernwirtschaft in ihrer Gesamtheit gegenübersteht, sondern jenem einstweilen noch unbedeutenden Teil der Bauernwirtschaft, der auf dem Markt auftritt. Nur dieser Teil (oder richtiger, ein Teil dieses Teiles) wird zur Quelle der privatkapitalistischen Akkumulation. Im weiteren Verlauf wird dieser Teil unzweifelhaft wachsen. Aber parallel damit wird auch die Produktivität der zusammengefaßten staatlichen Industrie wachsen. Es liegt absolut kein Grund vor, zu denken, daß das Wachstum der Staatsindustrie hinter dem landwirtschaftlichen Aufschwung Zurückbleiben wird. Wir werden bald sehen, daß die hochweise und höchst tiefsinnige Kritik der Herren Theoretiker der seligen 2½ Internationale sich hauptsächlich gründet auf das Verkennen oder Mißverstehen der elementarsten wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands, wie sie im konkreten Milieu von Raum und Zeit entstehen.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019