Leo Trotzki

Die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands
und die Perspektiven der Weltrevolution

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Der Kriegskommunismus

Für die Charakteristik des Kriegskommunismus sind besonders drei Fragen kennzeichnend: wie die Nahrungsmittel beschafft wurden; wie sie verteilt wurden; wie die Arbeit der Staatsindustrie geregelt wurde.

Die Sowjetregierung fand nicht einen freien Getreidehandel vor, sondern ein Getreidemonopol, das sich auf den alten Handelsapparat stützte. Der Bürgerkrieg zerstörte diesen Apparat, und dem Arbeiterstaat blieb nichts anderes übrig, als in aller Eile einen Staatsapparat zur Requirierung des Getreides von den Bauern und Konzentrierung desselben in eigenen Händen zu schaffen.

Die Lebensmittel wurden fast unabhängig von der Arbeitsproduktivität verteilt. Anders konnte es auch nicht sein. Um irgendeinen Einklang zwischen der Arbeit und dem Lohn zustandezubringen, hätte man einen unvergleichlich vollkommeneren Verwaltungsapparat der Wirtschaft und größere Lebensmittelressourcen haben müssen. In den ersten Jahren des Sowjetregimes handelte es sich vor allem darum, der städtischen Bevölkerung die Möglichkeit zu leben zu sichern. Dies wurde auch mit Hilfe des gleichmachenden „Pajoks“ (Ration) erreicht. Die Requisition der Ueberschüsse der Bauernschaft und die Verteilung der Pajoks waren eigentlich Maßnahmen einer belagerten Festung, aber nicht einer sozialistischen Wirtschaft. Unter bestimmten Umständen, namentlich bei einem rascheren Vormarsch der Revolution im Westen, wäre der Uebergang vom Regime der belagerten Festung zum sozialistischen Regime für uns natürlich außerordentlich erleichtert und beschleunigt worden. Doch darüber weiter unten ...

Worin bestand das Wesen des Kriegskommunismus in bezug auf die Industrie? Jede Wirtschaft kann existieren und sich entfalten allein bei Vorhandensein einer gewissen Proportionalität zwischen ihren verschiedenen Teilen. Die einzelnen Industriezweige stehen zueinander in einem bestimmten quantitativen und qualitativen Wechselverhältnis. Es bedarf einer bestimmten Proportionalität zwischen den Zweigen, die Gebrauchsgegenstände produzieren, und denjenigen, die Produktionsmittel erzeugen. Es bedarf auch einer Proportionalität innerhalb eines jeden dieser Zweige. Mit anderen Worten, die materiellen Mittel und die lebendige Arbeitskraft der Nation und der ganzen Menschheit müssen in einem bestimmten Wechselverhältnis zwischen der Landwirtschaft und der Industrie und den einzelnen Zweigen der Industrie angeordnet sein, damit die weitere Existenz und die Fortentwicklung der Menschheit möglich sind.

Wodurch wird das erreicht?

Unter dem Kapitalismus wird das durch den Markt erreicht, durch die freie Konkurrenz, die Mechanik der Nachfrage und des Angebotes, das Spiel der Preise, die Ablösung der Konjunkturperioden durch Krisen. Wir bezeichnen diese Methode als anarchisch und tun es mit Recht. Sie ist verbunden mit einer Vergeudung einer großen Menge von Kräften und Werten infolge der periodischen Krisen und führt unbedingt zu Krisen, die die menschliche Kultur mit völligem Untergang bedrohen. Aber diese anarchische kapitalistische Methode statuiert innerhalb ihres historischen Wirkungskreises immerhin eine gewisse Proportionalität zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen, das notwendige Wechselverhältnis, durch das allein die bürgerliche Gesellschaft leben kann, ohne zu ersticken und ohne unterzugehen.

Unsere Vorkriegswirtschaft hatte ihre innere Proportionalität, die durch das Spiel der kapitalistischen Klüfte auf dem Markte bestimmt war. Da kam der Krieg, der im Wechselverhältnis der verschiedenen Wirtschaftszweige gewaltige Umgruppierungen erzeugte. Wie giftige Pilze schossen die Betriebe der Kriegsindustrie auf Kosten der allgemeinen Industrie aus dem Boden. Darauf kam die Revolution, der Bürgerkrieg mit seinen Zerstörungen, die Sabotage mit ihrer schleichenden Krankheit. Welches Erbteil bekamen wir dann? Eine Wirtschaft, in der die schwache Erinnerung an jene Proportionalität der Teile erhalten war, die unter dem Kapitalismus bestand, die dann vom imperialistischen Kriege verzerrt und vom Bürgerkriege endgültig zugrunde gerichtet wurde, – das war das Erbteil, das wir bekamen. Durch welche Mittel konnten wir wieder auf den Weg der wirtschaftlichen Entwicklung zurückfinden?

Im Sozialismus wird die Wirtschaft zentralistisch verwaltet werden, und folglich wird die nötige Proportionalität der einzelnen Zweige erreicht werden durch einen streng bemessenen Plan, – freilich bei einer großen Autonomie der Teile, aber wiederum unter allgemein staatlicher, und später unter internationaler Kontrolle.

Eine solche allumfassende Beherrschung der Gesamtwirtschaft, eine solche vollkommene sozialistische Planmäßigkeit, von der wir reden, kann nicht a priori, aus der Spekulation heraus, kanzleimäßig geschaffen werden; sie kann nur aus einer allmählichen Anpassung der laufenden praktischen wirtschaftlichen Berechnung sowohl an die vorhandenen materiellen Ressourcen und Möglichkeiten, als auch an die neuen Bedürfnisse der sozialistischen Gesellschaft entstehen. Es ist ein langer Weg. Womit konnten und sollten wir 1917–18 anfangen? Der kapitalistische Apparat – der Markt, die Banken, die Börse – war zerstört. Der Bürgerkrieg war in vollem Gange. Von einer wirtschaftlichen Verständigung mit der Bourgeoisie oder auch nur mit einem Teil der Bourgeoisie, in dem Sinne, daß ihr gewisse wirtschaftliche Rechte eingeräumt werden konnten, konnte nicht die Rede sein. Der bürgerliche Verwaltungsapparat der Wirtschaft war nicht allein im Rahmen des Staates, sondern auch in jedem einzelnen Betriebe zerstört. Daraus erwuchs die elementare Lebensaufgabe: einen, sei es auch nur groben provisorischen Apparat zustandezubringen, um aus der übernommenen chaotischen Erbschaft in der Industrie die allernotwendigsten Produkte für die Armee im Kriege und für die Arbeiterklasse ziehen zu können. Dies war eigentlich keine wirtschaftliche Aufgabe im breiten Sinne dieses Wortes, sondern eine militär-industrielle. Unter Mitwirkung der Gewerkschaften erfaßte der Staat materiell die Industriebetriebe und schuf einen höchst umständlichen und schwerfälligen zentralisierten Apparat, der es aber immerhin möglich machte, die aktive Armee mit Ausrüstung und Kriegsmaterial zu versorgen – zwar in ungenügendem Maße, aber immerhin soweit, daß wir aus dem Kampfe nicht als Besiegte, sondern als Sieger hervorgingen.

Die Politik der Zwangserfassung der Getreidevorräte führte unvermeidlich zum Abbau und Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. Die Politik des gleichen Arbeitslohnes führte notwendigerweise ein Sinken der Arbeitsleistung herbei. Die Politik der zentralisierten bürokratischen Leitung der Industrie machte eine zentralisierte und vollkommene Ausnutzung der technischen Ausrüstung und der vorhandenen Arbeitskräfte unmöglich. Aber diese ganze Politik des Kriegskommunismus war uns aufgedrängt durch das Regime der blockierten Festung bei einer desorganisierten Wirtschaft und erschöpften Ressourcen.

Man wird fragen: haben wir denn nicht gehofft, vom Kriegskommunismus zum Sozialismus ohne größere wirtschaftliche Umwälzungen, Erschütterungen und Rückzüge, d. h. mehr oder weniger auf gerader, auf steigender Linie überzugehen? Ja, in der Tat. In jener Periode glaubten wir fest, daß die revolutionäre Entwicklung in Westeuropa ein rascheres Tempo einschlagen würde. Das unterliegt keinem Zweifel. Wenn das Proletariat in Deutschland, in Frankreich, überhaupt in Europa 1919 die Macht ergriffen hätte, so hätte unsere wirtschaftliche Entwicklung eine ganz andere Form angenommen. Marx schrieb 1883 an Nikolaj Danielsohn, einen Theoretiker der russischen Narodniki, wenn das europäische Proletariat die Macht ergreifen wird, bevor die russische Dorfgemeinde von der Geschichte endgültig liquidiert sein wird, so kann in Rußland auch die Gemeinde zum Ausgangspunkt der kommunistischen Entwicklung werden. Und Marx hatte vollkommen recht. Mit um so größerem Recht konnten wir annehmen: wenn das europäische Proletariat 1919 die Macht ergreifen wird, so wird es unser im wirtschaftlichen und kulturellen Sinne rückständiges Land ins Schlepptau nehmen, wird uns technisch und organisatorisch zu Hilfe kommen und uns auf diese Weise die Möglichkeit geben, durch Verbesserung und Veränderung der Methoden unseres Kriegskommunismus zu einer wahrhaft sozialistischen Wirtschaft zu gelangen. Ja, wir haben darauf gehofft. Unsere Politik stützte sich niemals auf eine Unterschätzung der revolutionären Möglichkeiten und Perspektiven. Im Gegenteil, als lebendige revolutionäre Kraft waren wir stets bestrebt, diese Möglichkeiten auszudehnen, sie restlos auszuschöpfen. Die Herren Scheidemann und Ebert sind es, die am Vorabend der Revolution die Revolution leugnen, an die Revolution nicht glauben und sich vorbereiten, kaiserliche Minister zu werden; die Revolution überrascht sie, sie zappeln hilflos und verwandeln sich dann bei der erstbesten Gelegenheit in ein Werkzeug der Konterrevolution. Was die Herren aus der 2½ Internationale betrifft, so ging ihr Streben in jener Periode besonders darauf hin, sich von der 2. Internationale zu unterscheiden; so verkündeten sie den Beginn der revolutionären Aera und anerkannten die Diktatur des Proletariats. Freilich war das nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Bei der ersten Ebbe der revolutionären Welle kehrte dieses ganze superkluge Gesindel unter die Fittiche Scheidemanns zurück. Aber die Tatsache der Bildung der 2½ Internationale selbst zeugte davon, daß die revolutionäre Perspektive der Kommunistischen Internationale und insbesondere unserer Partei keineswegs „utopisch“ war – nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Entwicklungstendenz, sondern auch hinsichtlich des Tempos.

Was dem revolutionären Proletariat nach dem Kriege fehlte, das war die revolutionäre Partei. Die Sozialdemokratie hatte den Kapitalismus gerettet, d. h. die Stunde seines Unterganges für Jahre hinausgeschoben oder richtiger seinen Todeskrampf verlängert, denn die jetzige Existenz der kapitalistischen Welt ist nichts anderes als ein Todeszucken.

Aber jedenfalls wurden durch diese Tatsache für die Sowjetrepublik und ihre wirtschaftliche Entwicklung die weniger günstigen Bedingungen geschaffen. Die Arbeiter- und Bauernrepublik geriet in einen Ring der wirtschaftlichen Blockade. Vom Westen kam zu uns nicht technische und organisatorische Hilfe, sondern eine militärische Intervention nach der anderen. Und nachdem es sich gezeigt hatte, daß wir in militärischer Hinsicht als die Sieger hervorgehen würden, wurde gleichzeitig klar, daß wir in wirtschaftlicher Hinsicht noch eine lange Zeit auf unsere eigenen Mittel und Kräfte zu rechnen haben werden.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019