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„Die alliierten Mächte haben nicht die Absicht, von dem großen Prinzip der Selbstbestimmung der kleinen Völker abzuweichen. Nur dann werden sie auf dieses verzichten, wenn sie sich von der Tatsache überzeugen müssen, daß irgend eine zeitweilig unabhängige Nation durch ihre Unfähigkeit, die Ordnung aufrechtzuerhalten, durch Streitsucht und aggressive Akte und sogar durch die ständige kindische und unnötige Betonung ihrer eigenen Würde zeigen wird, daß sie eine eventuelle Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Eine solche Nation werden die Großmächte nicht dulden, da sie beschlossen haben, daß der Friede der ganzen Welt gewahrt bleiben muß.“
Mit so energischen Worten paukte der englische General Wakker den georgischen Menschewiki das Verständnis der Relativität des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung ein. Politisch stand Henderson ganz hinter seinem General und steht auch jetzt noch hinter ihm. Aber „prinzipiell“ ist er vollständig bereit, die nationale Selbstbestimmung in ein absolutes Prinzip zu verwandeln und dieses gegen die Sowjetrepublik zu richten.
Die nationale Selbstbestimmung ist eine Grundformel der Demokratie für unterdrückte Nationen. Dort, wo die Klassen- oder die ständische Unterdrückung durch nationale Unterdrückung kompliziert wird, nehmen die Forderungen der Demokratie vor allem die Form der nationalen Gleichberechtigung, der Autonomie oder der selbständigen Existenz an.
Das Programm der bourgeoisen Demokratie enthielt auch das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Aber dieses demokratische Prinzip trat in schroffen und offenen Widerspruch zu den Interessen der Bourgeoisie der mächtigsten Nationen. Die republikanische Staatsform erwies sich als vollständig vereinbar mit der Herrschaft der Börse. Über dem technischen Bau des allgemeinen Wahlrechts ließ sich mühelos die Diktatur des Kapitals errichten. Aber das Hecht auf nationale Selbstbestimmung nahm und nimmt in vielen Fällen den Charakter einer akuten und unmittelbaren Gefahr der Zerspaltung des bourgeoisen Staates oder der Abspaltung von Kolonien an.
Die mächtigsten bourgeoisen Demokratien verwandelten sich in imperialistische Aristokratien. Die Finanzoligarchie der City herrscht durch Vermittlung des von ihr auf „demokratische Weise“ zu seinen Fronknechten gemachten Volkes der Metropole über den rechtlosen Menschenozean Asiens und Afrikas. Die französische Republik mit einer Bevölkerung von 38 Millionen Seelen, bildet nur einen Bestandteil des Kolonialreiches, das heute bis 60 Millionen farbige Sklaven zählt. Die Neger der französischen Kolonien müssen, in immer zunehmendem Grade, die Armee komplettieren, die sowohl zur Aufrechterhaltung der Kolonialsklaverei, als auch zum Schutze der Herrschaft der Kapitalisten über die Werktätigen in Frankreich selbst dient. Das Streben nach möglichster Erweiterung des Marktes auf Kosten der Nachbarvölker, der Kampf um die Erweiterung der Kolonialmacht, für die Herrschaft über die Meere – der Imperialismus – trat immer mehr in unversöhnlichen Widerspruch zu den separatistischen nationalen Tendenzen der unterdrückten Völker. Da aber die kleinbürgerliche Demokratie, darunter auch die Sozialdemokratie, in ein vollständiges politisches Fronverhältnis zum Imperialismus geriet, so lief das Programm der nationalen Selbstbestimmung faktisch auf Null hinaus.
Das große imperialistische Schlachten trug scharfe Veränderungen in diese Frage hinein: alle bourgeoisen und sozialpatriotischen Parteien klammerten sich an die nationale Selbstbestimmung, – jedoch vom anderen Ende. Die kriegführenden Regierungen strebten aus allen Kräften danach, sich dieser Losung zu bemächtigen, zuerst in Kriege gegeneinander, dann im Kampfe gegen Sowjetrußland. Der deutsche Imperialismus spielte mit der nationalen Unabhängigkeit der Polen, Ukrainer, Litauer. Letten, Esten, Finnen, der kaukasischen Völker zuerst gegen den Zarismus, dann in umfassenderer Weise gegen uns. Die Entente hielt zusammen mit dem Zarismus den Kurs auf die „Befreiung“ der Völker Österreich-Ungarns, Deutschlands und der Türkei ein, und dann, nachdem sie die Mitarbeit des Zarismus verloren hatte, ging sie zur „Befreiung“ der Randvölker Rußlands über.
Indem die Sowjetrepublik das durch Gewaltherrschaft und Unterdrückung zusammengeschmiedete Zarenreich erbte, proklamierte sie offen die Freiheit der nationalen Selbstbestimmung und die Freiheit der nationalen Losgliederung. Indem unsere Partei die ungeheure Bedeutung dieser Losung in der Übergangsepoche zum Sozialismus begriff, verwandelte sie das demokratische Prinzip der Selbstbestimmung auch nicht für eine Minute in etwas Absolutes, das über allen übrigen historischen Bedürfnissen und Aufgaben dominiert. Die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Menschheit hat tief zentralistischen Charakter. Der Kapitalismus schuf die Hauptvoraussetzungen für die Planwirtschaft im Weltmaßstäbe. Der Imperialismus ist nur ein räuberischer kapitalistischer Ausdruck dieses Bedürfnisses nach einer geeinten Führung der ganzen Weltwirtschaft. Jedem mächtigen imperialistischen Lande ist es zu eng in den Grenzen der nationalen Wirtschaft, und es strebt nach einem umfassenderen Markt. Sein Ziel, wenigstens das ideale, ist das Wirtschaftsmonopol der ganzen Welt. In der Sprache der kapitalistischen Räuberei und Piraterie kommt hier die Hauptaufgabe unserer Epoche zum Ausdruck: die Herstellung einer Übereinstimmung des Wirtschaftslebens aller Weltteile und die Errichtung der im Interesse der ganzen Menschheit liegenden harmonischen Weltproduktion, die durchdrungen ist von dem Prinzip der höchsten Ökonomie der Kräfte und Mittel. Das aber ist gerade die Aufgabe des Sozialismus.
Es ist ganz klar, daß das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung keinesfalls über den Einigungstendenzen des sozialistischen Wirtschaftsaufbaues steht. In dieser Hinsicht nimmt es im historischen Entwicklungsverlauf jenen untergeordneten Platz ein, der der Demokratie überhaupt eingeräumt ist. Der sozialistische Zentralismus kann jedoch nicht den imperialistischen Zentralismus unmittelbar ablösen. Die unterdrückten Nationalitäten müssen die Möglichkeit erhalten, ihre Gliedmaßen, die unter den Ketten des kapitalistischen Zwanges mit Blut unterlaufen sind, frei auszustrecken. Wie lange die Periode der Selbstbestimmung Finnlands, der Tschechoslowakei, Polens usw. usw. sich hinziehen wird, das hängt vor allem von dem allgemeinen Entwicklungsverlauf der sozialen Revolution ab. Aber die wirtschaftliche Insolvenz der einzelnen national-staatlichen Zellen, die voneinander isoliert sind, macht sich in ihrer ganzen Schärfe schon am zweiten Tage nach der Geburt jedes neuen Nationalstaates bemerkbar.
Die proletarische Revolution hat keinesfalls die mechanische nationale Entpersönlichung und Zwangszusammenschließung zur Aufgabe und Methode. Der Kampf auf dem Gebiete der Sprache, der Schule, der Literatur, der Kultur ist ihr absolut fremd, da ihr leitendes Prinzip nicht die professionellen Interessen der Intelligenz und die „nationalen“ Interessen der Krämer sind, sondern die Hauptinteressen der Arbeiterklasse. Die siegreiche soziale Revolution wird jeder nationalen Gruppe die volle Möglichkeit einer unbehinderten Lösung der Aufgaben der nationalen Kultur gewähren, indem sie zu gleicher Zeit – zum allgemeinen Vorteil und mit dem allgemeinen Einverständnis der Werktätigen – die wirtschaftlichen Aufgaben vereinheitlicht, die nach einer planmäßigen Lösung in Abhängigkeit von den natürlich-historischen und technischen Daten, keinesfalls aber von den nationalen Gruppierungen verlangen. Die Sowjetföderation schafft eine für die Koordination der nationalen und wirtschaftlichen Bedürfnisse maximal bewegliche und elastische Staatsform.
Zwischen dem Westen und dem Osten ist Sowjetrußland in der vollen Rüstung zweier Losungen auf marschiert: Diktatur des Proletariats und nationale Selbstbestimmung. In einzelnen Fällen können diese zwei Stufen nur durch einige Jahre oder sogar Monate voneinander getrennt sein. Hinsichtlich des großen Reiches des Ostens muß dieser Zeitraum eher nach Jahrzehnten bemessen werden.
Unter den revolutionären Bedingungen Rußlands erwiesen sich neun Monate des demokratischen Regimes Kerenski-Zeretelli als ausreichend, um die Bedingungen für den Sieg des Proletariats vorzubereiten. Im Vergleich zu dem Regime von Nikolai und Rasputin war das Regime Kerenski-Zeretelli ein historischer Schritt vorwärts: in diesem Eingeständnis, das wir natürlich niemals geleugnet haben, liegt nicht eine formale, professorale, pfäffische, Macdonaldische, sondern eine revolutionäre, historische, materialistische Bewertung der wirklichen Bedeutung der Demokratie. Ihre selbständige progressive Bedeutung konnte sich bereits im Laufe von drei viertel Jahren Revolution erschöpfen. Das bedeutet natürlich nicht, daß man im Oktober 1917 durch ein Referendum eine formal exakte Antwort von der Mehrzahl der Arbeiter und Bauern auf die Frage darüber hätte erhalten können, ob sie annehmen, daß für sie der demokratische Vorbereitungskurs der historischen Schule genüge. Das bedeutet vielmehr, daß nach neun Monaten demokratischen Regimes die Eroberung der Macht durch die proletarische Avantgarde schon nicht mehr auf den Widerstand des Unverständnisses und der Vorurteile der Mehrzahl der Werktätigen zu stoßen riskierte, sondern daß sie im Gegenteil auf einmal in die Möglichkeit versetzt wurde, ihre Positionen zu erweitern und zu befestigen, das Bewußtsein immer breiterer werktätiger Massen aktiv anziehend und erobernd. Hierin besteht gerade, wenn die dickköpfigen Pedanten der Demokratie gestatten, die große Bedeutung des Sowjetsystems.
Die nationale Loslösung der ehemaligen Randgebiete des Zarenreiches und ihre Verwandlung in selbständige kleinbürgerliche Republiken hatte die gleiche relativ progressive Bedeutung, wie auch die Demokratie im ganzen. Nur Imperialisten und Sozialimperialisten können unterdrückten Völkern das Recht auf Loslösung absprechen. Nur Fanatiker und die Scharlatane des Nationalismus können hierin einen Selbstzweck sehen. Für uns war und bleibt die nationale Selbstbestimmung eine historische, in vielen Fällen unvermeidliche Stufe zur Diktatur der Arbeiterklasse, die schon kraft der Gesetze der revolutionären Strategie im Prozeß des Bürgerkrieges, als Gegengewicht zum nationalen Separatismus, tief zentralistische Tendenzen entwickelt, die im weiteren Verlauf vollständig mit den Bedürfnissen der sozialistischen Planwirtschaft übereinstimmen.
Wie bald der Klassenwiderstand gegen die Illusionen der „selbständigen“ staatlichen Existenz die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse möglich machen wird, das hängt sowohl von dem allgemeinen Tempo der revolutionären Entwicklung ab (hiervon war schon die Rede), als auch von den speziellen inneren und äußeren Bedingungen des betreffenden Landes. In Georgien hat sich die fiktive nationale Unabhängigkeit drei Jahre lang gehalten. Ob die werktätigen Massen Georgiens tatsächlich drei Jahre gebraucht haben, um in genügendem Maße ihre nationalen Illusionen los zu werden – und ob hierfür drei Jahre genügt haben –, auf diese Frage kann man keine akademische Antwort geben. Referendum und Plebiszit verwandeln sich unter den Bedingungen eines erbitterten Kampfes zwischen Imperialismus und Revolution auf jedem Fetzen des Weltterritoriums in eine Fiktion. Wie sie veranstaltet werden, darüber kann man sich bei den Herren Korfanty, Sheligowsky oder in den entsprechenden Kommissionen der Entente erkundigen. Für uns wird die Frage nicht durch die Methoden der formal demokratischen Statik, sondern durch die Methoden der revolutionären Dynamik entschieden. Worin besteht das tatsächliche Wesen der Angelegenheit? Darin, daß der Sowjetumsturz in Georgien, der zweifellos unter der aktiven Beteiligung der Roten Armee vollzogen wurde – es wäre Verrat gewesen, den Arbeitern und Bauern Georgiens nicht mit bewaffneter Macht zu helfen, zumal wir eine solche hatten! –, sich nach der politischen Erfahrung von drei Jahren „Unabhängigkeit“ Georgiens unter Bedingungen abspielte, die ihm vollständig einen weiteren politischen, und nicht nur einen zeitweiligen militärischen Erfolg sicherten, d. h. eine fernere Erweiterung und Befestigung des Sowjetfundaments von Georgien selbst. Darin aber gerade besteht, wenn die dickköpfigen Pedanten der Demokratie gestatten, die revolutionäre Aufgabe.
Die Politiker der Zweiten Internationale schneiden, ihre Lehrer aus den bürgerlich-diplomatischen Kanzleien kopierend, Grimassen tödlicher Ironie anläßlich der Anerkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung durch uns. – Das ist eine Falle für Einfältige! Ein Köder des roten Imperialismus! – In der Tat aber verteilt diese Köder die Geschichte selbst, die ihre Aufgaben nicht geradlinig löst. Und auf jeden Fall sind nicht wir es, die die Zickzacklinien der historischen Entwicklung in Fallen verwandeln. Denn, indem wir das Recht auf national-staatliche Selbstbestimmung durch die Tat anerkennen, machen wir immer den Massen seine beschränkte historische Bedeutung klar, und ordnen ihm keinesfalls die Interessen der proletarischen Revolution unter.
Die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung von Seiten eines Arbeiterstaates ist zugleich auch eine Anerkennung dessen, daß die revolutionäre Gewalt kein allmächtiger historischer Faktor ist. Die Sowjetrepublik beabsichtigt keinesfalls, die revolutionären Bemühungen des Proletariats anderer Länder durch ihre bewaffnete Macht zu ersetzen. Die Eroberung der Macht durch dasselbe muß aus seiner eigenen politischen Erfahrung her aus wachsen. Das bedeutet nicht, daß die revolutionären Anstrengungen der Werktätigen, meinetwegen in demselben Georgien, keine bewaffnete Unterstützung von außen her finden könnten. Es ist nur notwendig, daß diese Unterstützung in einem solchen Moment eintritt, da das Bedürfnis nach ihr vorbereitet ist durch die vorhergehende Entwicklung und herangereift ist in dem Bewußtsein der revolutionären Avantgarde, die die Sympathie der Mehrheit der Werktätigen besitzt. Das sind Fragen der revolutionären Strategie, nicht aber des formal demokratischen Rituals.
Die Realpolitik des heutigen Tages fordert von uns, daß die Interessen des Arbeiterstaates nach Möglichkeit in Übereinstimmung gebracht werden mit den Bedingungen, die hervorgehen aus seiner Einkreisung durch die großen und kleinen bürgerlichen nationaldemokratischen Staaten. Gerade durch diese Erwägungen, die aus der Berücksichtigung der tatsächlichen Kräfte hervorgehen, wurde unsere nachgiebige, geduldige, abwartende Politik in bezug auf Georgien bestimmt. Als aber dieses Kompromißlertum, sich selbst politisch erschöpfend, nicht einmal elementare Garantien der Gefahrlosigkeit gewährte; als das Prinzip der Selbstbestimmung in den Händen des Generals Wakker und des Admirals Dumenille zu einer juristischen Garantie der Gegenrevolution wurde, die einen neuen Schlag gegen uns vorbereitete, sahen wir keinerlei prinzipielle Hindernisse und konnten sie nicht sehen, nach einer Aufforderung von Seiten der revolutionären Avantgarde Georgiens, die roten Truppen nach Georgien zu führen und den ärmsten Bauern zu helfen, in kürzester Frist und mit minimalen Opfern jene traurige Demokratie zu stürzen, die durch ihre Politik sich selbst zugrunde gerichtet hat.
Wir erkennen das Prinzip der Selbstbestimmung nicht nur an, sondern unterstützen es auch nach Kräften dort, wo es gegen die feudalen, kapitalistischen, imperialistischen Staaten gerichtet ist. Dort aber, wo die Fiktion der Selbstbestimmung sich in den Händen der Bourgeoisie in eine Waffe verwandelt, die gegen die Revolution des Proletariats gerichtet ist, haben wir gar keinen Grund, uns zu dieser Fiktion anders zu verhalten, als zu den andern „Prinzipien“ der Demokratie, die durch das Kapital in ihr Gegenteil verwandelt worden sind. Daß in bezug auf den Kaukasus die Sowjetpolitik auch in nationaler Beziehung sich als richtig erwiesen hat, davon zeugt am besten das heutige gegenseitige Verhältnis der kaukasischen Völker zueinander.
Die Epoche des Zarismus war eine Epoche barbarischer nationaler Pogrome im Kaukasus. Das armenisch-tatarische Gemetzel flammte periodisch auf. Die blutigen Explosionen unter dem gußeisernen Deckel des Zarismus bildeten eine Fortsetzung des seit Jahrhunderten bestehenden Kampfes der transkaukasichen Völker untereinander.
Die Epoche der sogenannten Demokratie verlieh dem nationalen Kampfe einen viel ausgesprocheneren und organisierteren Charakter. Es begannen gleich in den ersten Zeiten sich nationale Armeen zu formieren, die gegeneinander feindlich gesinnt waren und nicht selten kriegerische Aktionen gegeneinander eröffneten. Der Versuch der Schaffung einer bourgeoisen föderativ-demokratischen transkaukasischen Republik erlitt ein trauriges und schmachvolles Fiasko. Fünf Wochen nach ihrer Schaffung zerfiel die Föderation. Nach einigen Monaten führten die „demokratischen“ Nachbarn bereits offen Krieg gegeneinander. Schon allein diese Tatsache entscheidet die Frage. Denn wenn die Demokratie, gleich nach dem Zarismus, sich als unfähig erwiesen hat, Bedingungen wenigstens eines friedlichen Zusammenlebens der Völker Transkaukasiens zu schaffen, so war es offenbar notwendig, neue Bahnen einzuschlagen.
Erst die Sowjetmacht trug Beruhigung in die nationalen Wechselbeziehungen hinein. Bei den Sowjetwahlen wählen die Arbeiter von Baku und Tiflis einen Tataren, Armenier oder Georgier, ohne sich nach ihrer Nationalität zu erkundigen. In Transkaukasien leben Schulter an Schulter mohammedanische, armenische, georgische und russische Rote Regimenter. Sie fühlen sich als eine einige Armee. Keine Macht wird sie gegeneinander in Bewegung setzen. Dagegen werden sie alle Sowjet-Transkaukasien gegen jedes äußere oder innere Attentat verteidigen.
Die Herstellung des nationalen Friedens in Transkaukasien, die durch die Sowjetrevolution erreicht wurde, ist schon an sich eine Tatsache von ungeheurer politischer und kultureller Bedeutung. Hier wird wirklicher und lebendiger Internationalismus geschaffen, den wir getrost den hohlen und leeren pazifistischen Reden der Helden der Zweiten Internationale gegenüberstellen können, die die chauvinistische Praxis ihrer nationalen Bestandteile ergänzen.
Die Forderung des Abtransportes der Sowjettruppen aus Georgien und der Organisation eines Referendums „unter der Kontrolle gemischter Kommissionen aus Sozialisten und Kommunisten“ stellt eine der wertlosesten imperialistischen Fallen unter der demokratischen Flagge der nationalen Selbstbestimmung dar.
Wir lassen eine Reihe von Kardinalfragen beiseite: Mit welcher Begründung wollen die Demokraten uns die demokratische Form der Befragung der Bevölkerung statt der von unserem Gesichtspunkt höheren Sowjetform aufzwingen? Warum beschränkt sich die Anwendung des Referendums auf Georgien allein? Warum wird eine solche Forderung nur an die Sowjetrepublik gerichtet? Warum wollen die Sozialdemokraten bei uns das Referendum durchführen, während sie nichts derartiges bei sich zu Hause durchführen?
Stellen wir uns auf die Position unserer Gegner, wenn sie etwas derartiges wie eine Position haben. Sondern wir die Frage Georgiens heraus und betrachten wir sie isoliert. Es wird folgendes zur Aufgabe gestellt: die Schaffung von Bedingungen einer freien (demokratischen, und nicht sowjetistischen) Willenskundgebung des georgischen Volkes.
Usw. usw. usw.
Wir haben uns bereit erklärt, die Frage so zu stellen, wie sie unsere Gegner zu stellen bemüht sind, d. h. in der Ebene der demokratischen Prinzipien und Garantien. Es hat sich herausgestellt, daß man uns in der rücksichtslosesten Weise zu betrügen versucht: man verlangt von uns eine materielle Entwaffnung des Sowjetterritoriums als Garantie gegen imperialistische und weißgardistische Eroberungen, aber man schlägt uns vor ... eine Resolution der Zweiten Internationale.
Oder drohen vielleicht dem Kaukasus keinerlei imperialistische Gefahren? Hat Mistreß Snowden nichts über das Naphtha von Baku gehört? Möglich, möglich. Wir können ihr mitteilen, daß der Weg nach Baku über Batum-Tiflis führt. Dieser letztere Punkt ist der strategische Brennpunkt Transkaukasiens, was den englischen und französischen Generälen nicht unbekannt ist. Im Kaukasus bestehen auch gegenwärtig weißgardistische Verschwörerorganisationen unter dem sehr feierlichen Namen „Befreiungskomitee“, der sie nicht daran hindert, Geldunterstützungen von Seiten englischer und russischer Naphthaindustrieller, italienischer Manganindustrieller usw. zu erhalten. Auf dem Seewege werden den weißen Banden Waffen zugestellt. Der Kampf geht um das Naphtha und das Mangan. Den Naphthaindustriellen ist es ganz gleich, wie sie zu ihrem Naphtha gelangen: ob durch Denikin, ob durch die mohammedanische Partei Mussawat oder durch die Tore der „nationalen Selbstbestimmung“ mit den Torwächtern der Zweiten Internationale. Wenn es Denikin nicht gelungen ist, die Rote Armee zu zerschlagen, so wird es vielleicht Macdonald gelingen, sie auf friedlichem Wege fortzuführen? Das Resultat wäre das gleiche.
Aber Macdonald wird es nicht gelingen. Solche Fragen werden nicht durch Resolutionen der Zweiten Internationale entschieden, selbst wenn diese Resolutionen auch nicht so traurig, widerspruchsvoll, diebisch und stammelnd wären wie die Resolution über Georgien.
Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2019