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Jetzt, nachdem wir die historische Skizze abgeschlossen haben, ist es statthaft, bei einigen Verallgemeinerungen haltzumachen.
Gerade die Geschichte Transkaukasiens der letzten fünf Jahre stellt einen lehrreichen Kurs über das Thema der Demokratie in der revolutionären Epoche dar. Bei den Wahlen für die Allrussische Konstituierende Versammlung stellte keine einzige kaukasische Partei das Programm der Loslösung von Rußland auf. Nach 4–5 Monaten, im April 1918, beschloß der Transkaukasische Sejm, der aus den gleichen Deputierten der Konstituierenden Versammlung zusammengesetzt war, sich loszulösen und einen selbstständigen Staat zu bilden. Es hat also in der Hauptfrage des Staatslebens: ob mit Sowjetrußland oder getrennt von ihm und gegen dasselbe – niemand die Bevölkerung Transkaukasiens befragt; von einem Referendum, einem Plebiszit oder neuen Wahlen war gar keine Rede. Die gleichen Deputierten, die dafür gewählt worden waren, Transkaukasien in Petersburg auf der Grundlage der formlosen allgemein-demokratischen Plattform der ersten Periode der Revolution zu vertreten, beschlossen die Loslösung Transkaukasiens von Rußland.
Ursprünglich wurde die Transkaukasische Republik als Vereinigung aller Nationalitäten proklamiert. Aber die Lage, die schon durch die Tatsache der Loslösung von Rußland und durch das Suchen nach neuen internationalen Orientierungen geschaffen wurde, entwickelte sich so, daß Transkaukasien sich in drei nationale Teile spaltete: Asserbeidshan, Armenien Und Georgien. Schon am 26. Mai 1918, d. h. fünf Wochen nach der Loslösung, erklärte der gleiche Sejm, der aus Deputierten der Allrussischen Konstituierenden Versammlung bestand und die Transkaukasische Republik geschaffen hatte, diese für liquidiert. Wiederum befragte niemand die Volksmassen: es fanden weder neue Wahlen statt, noch eine Befragung in anderen Formen. Zuerst trennte man die Bevölkerung, ohne sie zu befragen, von Rußland – im Namen der engeren Vereinigung der Tataren, Armenier und Georgier, wie die Führer des Sejm erklärten. Darauf, beim ersten äußeren Anlaß, spaltete man die Tataren, Armenier und Georgier in drei Staaten, wiederum ohne sie zu befragen.
An dem gleichen Tage proklamierte der georgische Sektor des Sejm die Unabhängigkeit der Georgischen Republik. Niemand fragte die Arbeiter und Bauern Georgiens. Sie wurden vor eine vollendete Tatsache gestellt.
Im Laufe weiterer zehn Monate befestigten die Menschewiki die „vollendete Tatsache“: sie jagten die Kommunisten ins Kellerloch, traten zu den Türken und Deutschen in Beziehung, schlossen Friedensverträge, tauschten die Deutschen gegen die Engländer und die Amerikaner ein, führten ihre Hauptreformen durch, vor allem aber schufen sie ihre prätorianische bewaffnete Macht in der Volksgarde, und erst nach alledem entschlossen sie sich, die Konstituierende Versammlung einzuberufen (im Mai 1919), indem sie die Massen vor die Notwendigkeit stellten, Vertreter in das Parlament der Unabhängigen Georgischen Republik zu wählen, von der diese Massen früher niemals etwas gehört und an die sie auch nicht einmal gedacht hatten.
Was hat dies alles zu bedeuten? Wenn, angenommen, Macdonald sich des historischen Denkens schuldig gemacht hätte, d. h. wenn er fähig wäre, die lebendigen Kräfte und Interessen der Geschichte zu sehen und deren wahres Gesicht von ihrer Maske, ihre wirklichen Triebfedern von ihren Winkelzügen zu unterscheiden, so würde er vor allem den Schluß ziehen, daß die menschewistischen Politiker, diese Demokraten par excellence, bestrebt waren, die allerwichtigsten Maßnahmen unter Umgehung der Methoden der politischen Demokratie durchzuführen und sie tatsächlich so durchgeführt haben. Sie haben sich zwar das Transkaukasische Bruchstück der Allrussischen Konstituierenden Versammlung hierfür zunutze gemacht. Sie benutzten es aber für Zwecke, die jenem entgegengesetzt waren, für den es gewählt wurde. Sie hielten diesen Rest des gestrigen Tages der Revolution künstlich am Leben, um ihrem Morgen entgegenzuwirken. Sie beriefen die Georgische Konstituierende Versammlung erst ein, nachdem sie Georgien in eine Lage hineingetrieben hatten, aus der es für die Bevölkerung keinen anderen Ausweg gab, als jenen, den sie ihr aufgezwungen hatten: Transkaukasien war von Rußland getrennt, Georgien von Transkaukasien, die Engländer hielten Batum besetzt, die unzuverlässigen Freunde, die Weißen, standen an den Grenzen der Republik, die georgischen Bolschewiki waren als vogelfrei erklärt, die menschewistische Partei war der einzig mögliche Vermittler zwischen Georgien und der Entente, von der die Getreidezustellung abhing. Unter diesen Bedingungen bedeuteten die „demokratischen“ Wahlen nur eine unvermeidliche Sanktionierung einer ganzen Kette von Tatsachen, die mit Hilfe der gegenrevolutionären Gewalt durch die Menschewiki selbst und ihre fremdländischen Teilnehmer und Protektoren zustande gebracht worden waren.
Man vergleiche hiermit den Oktoberumsturz, den wir offen vorbereiteten, indem wir die Massen um das Programm „Alle Macht den Sowjets“ sammelten, indem wir die Sowjets aufbauten, für die Sowjets kämpften und in ihnen überall die Mehrheit in unversöhnlichem Kampfe gegen die Menschewiki, Revolutionäre und Sozialrevolutionäre eroberten. Das ist die wahrhaft revolutionäre Demokratie!
Hier müssen wir noch einmal zu einigen Fragen der Mechanik der Revolution zurückkehren, wie wir sie aus der ganzen Erfahrung der neuen Geschichte kennen.
Eine Revolution erschien bis zur Gegenwart nur in dem Falle möglich, daß die Interessen der Mehrzahl des Volkes, folglich verschiedener Klassen, dem bestehenden System der Besitz- und Staatsverhältnisse widersprachen. Die Revolution begann darum mit elementaren „gesamtnationalen“ Forderungen, in denen die Klassenüberlegung der Besitzenden, die Stupidität der Kleinbourgeoisie, die politische Zurückgebliebenheit des Proletariats ihren Ausdruck fanden. Kur im Prozeß der tatsächlichen Verwirklichung dieses Programms äußern sich die Widersprüche der Interessen im Lager der Revolution selbst. Ihre besitzenden, konservativen Elemente werden allmählich oder mit einem Schlage in das gegenrevolutionäre Lager hinübergeworfen. Schicht für Schicht erheben sich die unterdrückten Massen zum Kampfe. Die Forderungen werden entschiedener, die Methoden des Kampfes unerbittlicher. Die Revolution erreicht ihren Kulminationspunkt. Für ihren weiteren Aufstieg fehlen entweder die materiellen Voraussetzungen (in den Produktionsbedingungen) oder die bewußte politische Macht (Partei). Darauf beginnt die Kurve sich zu senken, für eine kurze Frist oder für eine lange historische Epoche. Die extreme Revolutionspartei wird entweder von der Macht entfernt oder sie beschneidet selbst ihr Aktionsprogramm, indem sie auf günstige Veränderungen im Kräfteverhältnis wartet. Wir geben hier ein algebraisches Schema der Revolution, ohne ihre genauen Klassenbedeutungen; das genügt aber augenblicklich für uns, da es sich für uns um das Wechselverhältnis zwischen dem Verlauf des Kampfes der lebendigen Kräfte und den Formen der Demokratie handelt.
Die Vertretungsinstitution, die wir aus der Vergangenheit geerbt haben (Generalstaaten in Frankreich, Reichsduma in Rußland), kann in einem gewissen Moment der Revolution einen Antrieb geben, um sich dann sofort in Widerspruch zu ihr zu stellen.
Eine in der ersten Epoche der Revolution gewählte Vertretungskörperschaft spiegelt unvermeidlich ihre ganze politische Formlosigkeit, Naivität, Gutmütigkeit, Unentschiedenheit wieder. Gerade deshalb wird sie sehr schnell zu einem Hemmschuh der revolutionären Entwicklung. Wenn keine revolutionäre Macht zur Stelle ist, die über dieses Hindernis hinwegzusteigen fähig ist, wird die Revolution sofort aufgehalten und zurückgeworfen. Die Konstituante wird von der Konterrevolution weggefegt. So war es in der Revolution 1848. Der General Wrangel liquidierte die preußische Konstituierende Versammlung, die außerstande war, den General Wrangel zu liquidieren und die selbst nicht rechtzeitig von einer revolutionären Partei liquidiert worden war. Wir haben bekanntlich auch einen General Wrangel gehabt, offenbar mit den gleichen ererbten Neigungen. Aber wir haben ihn liquidiert. Wir haben dies nur deshalb tun können, weil wir rechtzeitig die Konstituierende Versammlung liquidierten. Die Konstituante von Samara hat das preußische Experiment reproduziert, indem sie ihren Totengräber in Gestalt Koltschaks fand.
Die französische Revolution konnte bis zu einem gewissen Zeitpunkt mit Hilfe schwerfälliger und stets nachhinkender Vertretungskörperschaften nur dank dem Umstande operieren, daß das damalige Deutschland unbedeutend war, während England sich damals, ebenso wie heute, nur schwer dem kontinentalen Lande nähern konnte. Auf diese Weise hat die französische Revolution zum Unterschiede von der unseren ganz zu Anfang eine lange äußere „Atempause“ gehabt, die es ihr gestattete, bis zu einem gewissen Zeitpunkt die aufeinanderfolgenden demokratischen Vertretungen den Bedürfnissen der Revolution gemächlich anzumessen und anzupassen. Als die Situation aber drohender wurde, orientierte die führende revolutionäre Partei die Politik nicht nach der Diagonale der formalen Demokratie, sondern hieb die Demokratie in Eile mit dem Messer der Guillotine nach den Bedürfnissen der Politik zurecht: die Jakobiner rotteten die rechten Mitglieder des Konvents aus und schüchterten die Zentristen des Sumpfes ein. Die Revolution verlief nicht weiter in dem Strombett der Demokratie, sondern wälzte sich durch die Engpässe und über die Stromschnellen der terroristischen Diktatur hinweg. Die Geschichte kennt überhaupt keine Revolutionen, die auf demokratischem Wege zum Abschluß gekommen wären, denn eine Revolution ist ein sehr ernster Gerichtsprozeß, der nicht der Form, sondern immer dem Wesen nach entschieden wird. Es kommt vor, und zwar nicht selten, daß einzelne Leute ihr Vermögen und sogar die sogenannte Ehre nach den konventionellen Regeln des Kartenspiels verspielen; aber die Klassen erklären sich niemals bereit, Vermögen, Macht und „Ehre“ nach den konventionellen Spielregeln des „demokratischen" Parlamentarismus zu verspielen. Sie entscheiden diese Frage immer ernsthaft, d. h. in Abhängigkeit von dem wirklichen Verhältnis der materiellen Kräfte und nicht ihrer halbillusorischen Widerspiegelung.
Man braucht nicht daran zu zweifeln, daß sogar in Ländern mit absoluter Mehrheit der proletarischen Bevölkerung, wie England es ist, eine von der Arbeiterrevolution geborene Vertretungsinstitution neben den ersten Forderungen der Revolution die ungeheuerlichen konservativen Traditionen dieses Landes widerspiegeln wird. Das Bewußtsein eines heutigen englischen trade-unionistischen Führers ist ein Amalgam aus den religiös-gesellschaftlichen Vorurteilen der Epoche der Restauration der St. Pauls-Kathedrale und noch früherer Zeiten, aus den praktischen Fertigkeiten eines Beamten einer Arbeiterorganisation in der Epoche der höchsten kapitalistischen Reife, aus der Aufgeblasenheit eines Kleinbürgers, der respektabel sein möchte, und aus dem schlechten Gewissen eines Arbeiterpolitikers, der viele Verrätereien begangen hat. Hierzu muß man die intelligenzlerischen, professoralen und fabianischen Einflüsse hinzurechnen: das sozialistische Moralisieren der Sonntagsprediger, die rationalistischen Schemata der Pazifisten, den Dilettantismus der Gildensozialisten, die eigensinnige und hochmütige Beschränktheit der Fabier. Wenn auch die heutigen sozialen Verhältnisse Englands äußerst revolutionäre sind, so hat seine machtvolle historische Vergangenheit als äußerster Konservatismus nicht nur im Bewußtsein der Arbeiterbürokratie einen Niederschlag gebildet, sondern auch in dem der obersten Schicht der qualifizierten Arbeiter. In Rußland sind die Hindernisse für eine sozialistische Revolution objektiver Art: das Vorherrschen einer zersplitterten Bauernwirtschaft und technische Rückständigkeit; in England sind sie subjektiver Art: Verknöcherung des Bewußtseins der kollektiven Henderson und der vielköpfigen Snowden. Die Arbeiterrevolution wird mit diesen Hindernissen durch die Methoden der Säuberung und Selbstsäuberung fertig werden. Es besteht aber keinerlei Hoffnung darauf, daß sie mit ihnen auf dem Wege der Demokratie fertig wird. Gerade Mister Macdonald wird dies verhindern: nicht durch sein Programm, sondern durch die Tatsache seiner konservativen Existenz.
Wenn die russische Revolution – bei der Unbeständigkeit der sozialen Verhältnisse im Innern, bei den schroffen und stets gefährlichen Veränderungen von außen her – sich die Fesseln des bürgerlichen Demokratismus angelegt hätte, so läge sie schon lange mit durchschnittener Gurgel auf der großen Straße. Zwar schreibt Kautsky, daß der Untergang der Sowjetrepublik heute keinen ernsthaften Schlag für die internationale Revolution bedeuten würde. Aber das ist bereits eine andere Sache! Wir zweifeln sogar nicht daran, daß der Zusammenbruch der Republik des russischen Proletariats einen schweren Stein von vielen heute schwer bedrückten Herzen wälzen würde. Sie würden sofort erklären, daß sie dies schon stets vorausgesehen hätten. Kautsky würde seine tausendunderste Broschüre schreiben, in der er erklären würde, warum die Macht der russischen Arbeiter zusammengebrochen sei, aber er würde zu erklären vergessen, warum er selbst zur Nichtigkeit verurteilt ist. Wir aber sind nach wie vor der Meinung, daß gerade die Tatsache, daß die Sowjetrepublik in den schwersten Jahren nicht zusammengebrochen ist, als bestes Zeugnis zugunsten des Sowjetsystems dient. Selbstverständlich verfügt es über keinerlei wundertätige Kräfte, aber es bat sich als genügend elastisch gezeigt, um, indem es die Kommunistische Partei in engster Weise mit den Massen verbunden bat, der Partei das notwendige Manövrieren zu erleichtern, um ferner ihre Initiative nicht zu paralysieren, um sie gegen die in bezug auf die Hauptaufgaben der Revolution zweitwichtigen und drittwichtigen Chancen des parlamentarischen Spiels zu sichern. Was die entgegengesetzte Gefahr anbelangt – sich von dem Wechsel der Stimmungen und von den Veränderungen in dem Verhältnis der Kräfte loszulösen –, so hat gerade auf diesem Gebiete das Sowjetsystem im Laufe des letzten Jahres seine sehr hohe Lebensfähigkeit bewiesen. Die Menschewiki der ganzen Welt griffen das Wort von der Thermidoretappe der russischen Revolution auf. Es waren doch aber nicht sie, sondern wir, die diese Diagnose stellten. Und, was noch wichtiger ist, die für den Schutz der Macht des Proletariats notwendigen Zugeständnisse an die thermidorianischen Stimmungen und Tendenzen der Kleinbourgeoisie hat die Kommunistische Partei gemacht, ohne Verletzung des Systems und ohne das Steuer aus der Hand zu lassen. Ein philosophierender russischer Professor, der manches von der Revolution gelernt hat, hat unsere neue ökonomische Politik nicht ohne Witz eine „Talfahrt mit Hemmschuh“ genannt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß unser Professor, wie viele andere, sich diese Talfahrt, deren Ausmaß und Bedeutung wir keineswegs schmälern wollen, als etwas Endgültiges und Entscheidendes vorstellt. Er wird sich überzeugen müssen, daß unsere Politik bei aller Entschiedenheit ihrer einzelnen Schwankungen stets ihre Grundrichtung wiederherstellt und einhält. Zu diesem Zwecke muß man sie nicht nur im Maßstab der Zeitungssensation, sondern im Maßstab der Epoche betrachten. Auf jeden Fall hat die „Talfahrt mit Hemmschuh“ vom Gesichtspunkt des die Macht in den Händen haltenden Proletariats die gleichen Vorzüge, als welche für ein bürgerliches Regime rechtzeitige Reformen erscheinen, die die Wucht des revolutionären Ansturmes schwächen: ein Vergleich, der Henderson viel sagen sollte, da seine ganze Partei nur ein Hemmschuh innerhalb der bourgeoisen Gesellschaft ist.
Wie verhält es sich nun mit der „Entartung“ des Sowjetsystems, von der die internationalen Menschewiki so viel reden und schreiben, allerdings nicht den ersten Monat und sogar nicht das erste Jahr. Was sie „Entartung“ nennen, steht im engsten Zusammenhang damit, was oben eine „Talfahrt mit Hemmschuh“ genannt wurde. Die internationale Revolution macht einen Prozeß des molekularen Kräftesammelns durch, bei äußerer Stagnation und sogar bei äußerem Rückzug. Eine der Ausdrucksformen dieses Prozesses ist unsere neue ökonomische Politik. Es ist natürlich, daß diese Periode schwerer internationaler Hindernisse sich in der Lage und den Stimmungen der werktätigen Massen Rußlands ausdrückt und folglich sich in der Arbeit des Sowjetsystems bemerkbar macht. Sein administrativer und wirtschaftlicher Apparat hat während dieser Periode große Erfolge gehabt. Aber das Leben der Sowjets, als Massenvertretungen, konnte selbstverständlich nicht jene Spannkraft bewahren, durch die es sich in der Periode der ersten inneren Siege oder in allen Momenten der akuten äußeren Gefahr auszeichnete. Das selbstgenügsame Lärmen der parlamentarischen Parteien, ihre Kombinationen und Intrigen können außerordentliche „Dramatik“ in den Zeiten größter Bedrücktheit der Volksmassen erreichen und erreichen sie auch in der Tat nicht selten. Das Sowjetsystem hat keine solche Unabhängigkeit. Es spiegelt viel unmittelbarer die Massen und ihre Stimmungen wider. Es ist aber eine Ungeheuerlichkeit, ihm das als Minus anzurechnen, was sein Hauptplus bildet. Kur die Entwicklung der Revolution in Europa wird dem Sowjetsystem von neuem einen mächtigen Antrieb geben. Oder kann man vielleicht die „Stimmung“ der Werktätigen "heben“ mit Hilfe der menschewistischen Opposition und anderer Mysterien des Parlamentarismus? Es besteht kein Mangel an Ländern mit parlamentarischer Demokratie. Und was sehen wir? Kur der stumpfsinnigste Professor des Staatsrechts oder nur der schamloseste Renegat des Sozialismus kann leugnen, daß die Arbeitermassen Rußlands gegenwärtig, bei dem sogenannten „Verfall“ des Sowjetsystems, sich in allen Zweigen des öffentlichen Lebens hundertmal aktiver, unmittelbarer, ununterbrochener, entschiedener beteiligen, als in einer beliebigen parlamentarischen Republik.
In den Ländern mit alter parlamentarischer Kultur hat sich eine ganze Reihe komplizierter und mannigfaltiger Uebertragungsmechanismen herausgearbeitet, mit deren Hilfe der Wille des Kapitals durch Vermittlung des Parlaments seinen Ausdruck findet, das aus allgemeiner Abstimmung hervorgegangen ist. In den jungen und kulturell zurückgebliebenen Ländern nimmt die Demokratie auf bäuerlicher Grundlage einen unvergleichlich offeneren und dadurch auch lehrreicheren Charakter an. Wie das Studium der tierischen Organismen bei der Amöbe beginnt, so sollte man das Studium der Mysterien des großbritannischen Parlamentarismus mit dem Studium der Praxis der Balkanverfassungen beginnen. Die in Bulgarien seit seiner selbständigen Existenz herrschenden Regierungsparteien führten einen erbarmungslosen Kampf gegeneinander, während sie sich in ihren Programmen fast gar nicht voneinander unterschieden. Jede von dem Pürsten zur Macht berufene Partei, ob sie nun russophilen oder germanophilen Einschlag hatte, löste die Nationalversammlung auf und nahm Neuwahlen vor, die ihr immer wieder die erdrückende Mehrheit verschafften und für die mit ihr konkurrierenden Parteien zwei oder drei Plätze übrig ließen. Eine von den durch die demokratischen Wahlen zur Nichtigkeit verurteilten Parteien wurde dann durch den Fürsten nach zwei bis drei Jahren zur Macht berufen, löste die Nationalversammlung auf und bekam bei den neuen Wahlen eine erdrückende Mehrheit an Mandaten. Die bulgarische Bauernschaft, die ihrem Kulturniveau und ihrer politischen Erfahrung nach keineswegs niedriger steht als die georgische, brachte ihren politischen Willen beständig dadurch zum Ausdruck, daß sie für die Regierungspartei stimmte. Und auch in der Revolution unterstützt die Bauernschaft nur jene Partei, von der sie durch die Tat überzeugt ist, daß sie eine Macht werden kann oder schon zu einer Macht geworden ist. So war es mit den Sozialrevolutionären nach der Märzrevolution 1917. So war es mit den Bolschewiki nach dem Oktober. Die demokratische Herrschaft der Menschewiki in Georgien hatte im Grunde genommen „Balkancharakter“, nur auf dem Hintergründe einer revolutionären Epoche – d. h. sie stützte sich auf die durch die ganze Erfahrung der Geschichte bezeugte Ohnmacht der Bauernschaft, unter den Bedingungen einer bourgeoisen Ordnung eine selbständige Partei zu schaffen, die den Staat zu leiten fähig wäre. Programm und Führung lieferten in der neuen Geschichte stets die Städte. Die Revolutionen bekamen einen umso entscheidenderen Charakter, in je größerem Maße die Bauernmassen ihr Schicksal mit dem Schicksal der äußersten linken Partei der Städte verbanden. So war es bereits in Münster am Ende der Reformation. So war es in der Großen Französischen Revolution, wo der städtische Jakobinerklub es verstanden hatte, sich auf das Dorf zu stützen. Die Revolution des Jahres 1848 zerschellte bei ihren ersten Schritten gerade deshalb, weil ihr schwacher linker Flügel es nicht verstanden hatte, im Dorfe eine Stütze zu finden, und weil die Bauernschaft, in Gestalt der Armee, eine Stütze der bestehenden Ordnung blieb. Die heutige russische Revolution verdankt ihren Schwung gerade dem Umstande, daß die Arbeiter es verstanden haben, sich der Bauernschaft politisch zu bemächtigen, indem sie ihr zeigten, daß sie fähig sind, eine Macht zu schaffen.
In Georgien hat die geringe Zahl und die Rückständigkeit des Proletariats, das zudem von den Zentren der Revolution isoliert ist, dem politischen Bündnis der kleinbürgerlichen Intelligenz und der konservativen Arbeitergruppen gestattet, unvergleichlich länger die Macht in den Händen zu halten. Die georgische Bauernschaft versuchte, durch Unruhen und Aufstände der Regierung ihre radikalen Forderungen aufzuzwingen. Es zeigte sich aber, wie immer, daß sie unfähig war, eine Macht zu schaffen. Ihre vereinzelten Aufstände wurden unterdrückt. Neben der Unterdrückung geht der parlamentarische Betrug einher.
Die relative Widerstandsfähigkeit des menschewistischen Regimes war bedingt durch die politische Ohnmacht der zersplitterten Bauernmassen, die von den Menschewiki künstlich aufrechterhalten wurde.
Dieses Ziel erreichten sie um so besser, da sie die Frage der faktischen Macht, unabhängig von den Formen der Volksmacht, durch die Organisation einer selbständigen, durch nichts mit den Institutionen der Demokratie verbundenen bewaffneten Macht lösten. Wir meinen die Volksgarde, die bis jetzt nur nebenher erwähnt wurde. Sie ist aber der wichtigste Schlüssel zu den Mysterien der menschewistischen Demokratie. Die Volksgarde war unmittelbar dem Präsidenten der Republik untergeordnet und bestand aus sorgfältig ausgewählten und gut bewaffneten Anhängern des Regimes. Kautsky weiß dies: „Nur erprobte, organisierte Genossen sollten Waffen erhalten.“ (S. 61) Als erprobter und organisierter Menschewik wurde Kautsky selbst zum Ehrensoldaten der georgischen Volksgarde ernannt. Das ist sehr rührend, aber die Garde verträgt sich dennoch schlecht mit der Demokratie. Indem Kautsky gegen die Bolschewiki polemisiert, schreibt er in der gleichen Broschüre: „Wo das Proletariat oder eine proletarische Partei nicht über das Monopol auf Bewaffnung verfügt, wird es sich – in einem agrarischen Staat – an der Macht nur behaupten können unter der Zustimmung der Bauernschaft.“ (S. 48) Was ist denn die Nationalgarde, wenn nicht ein Monopol auf Bewaffnung in den Händen der menschewistischen Partei? Zwar wurde neben der bewaffneten Garde der menschewistischen Diktatur in Georgien eine Armee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht geschaffen. Aber die Bedeutung dieser Armee war fast gleich Null. Während des Sturzes der Menschewiki im Februar–März 1921 beteiligte sich die nationale Armee fast nicht an den Kämpfen und ging in der Regel auf die Seite der Bolschewiki über oder ergab sich einfach ohne Kampf. Vielleicht hat Kautsky hierüber irgend welche anderen Daten? So möge er sie erzählen. Vor allem aber möge er erklären: wozu war eine streng ausgewählte und rein prätorianische bewaffnete Macht notwendig, wenn die georgische „Demokratie“ sich durch die Zustimmung der werktätigen Massen hielt? Warum lag dieses Monopol der Bewaffnung in den Händen erfahrener Menschewiki und überhaupt patentierter Anhänger des Regimes? Hiervon finden wir bei Kautsky kein Wort. Macdonald hält es überhaupt, wie wir wissen, nicht für notwendig, „sich zu beunruhigen“ durch das Nachdenken über die Fragen der Revolution, um so weniger, da er innerhalb der Grenzen Großbritanniens an das Schauspiel der Bewachung der „Demokratie“ durch reaktionäre Söldnertruppen gewöhnt ist. Ja, bei einer solchen Kleinigkeit, wie die bewaffnete Macht des Regimes, machen die Apologeten der menschewistischen Demokratie nicht halt. Indessen konzentrierte sich faktisch die ganze Macht in den Händen der Volksgarde, Hand in Hand mit der Besonderen Abteilung strafte und begnadigte, verhaftete, erschoß und verbannte sie. Ohne die Konstituierende Versammlung zu befragen, führte sie durch eigene Verfügungen die Arbeitspflicht durch. Schon Ferdinand Lassalle erklärte in sehr populärer Weise, daß die Kanonen den wesentlichsten Teil jeglicher Konstitution bilden. Ueber der georgischen „Konstitution“ reckte sich, wie wir sehen, die bis zu den Zähnen bewaffnete Volksgarde empor, die nach Kautskys Worten die Zahl von 30.000 [1] Menschewiki erreichte, die nicht mit dem Programm der Zweiten Internationale, sondern mit Gewehren und Geschützen, diesem ernstesten Teil der Konstitution manövrierten.
Wir erinnern uns außerdem, daß sich in Georgien fortwährend fremdländische Truppen befanden, die von den Menschewiki speziell eingeladen waren und deren Aufgabe die Unterstützung des Regimes war.
Die Konterspionage der Entente ging Hand in Hand mit der Konterspionage der Denikin-Wrangel und mit der menschewistischen Besonderen Abteilung in breiter Front vor, indem sie jederzeit der Volksgarde oder den Okkupationstruppen für die Bedürfnisse des „Kampfes gegen die Anarchie“ zur Verfügung standen, und sie stellten den entwickeltsten Teil der „Konstitution“ des georgischen Menschewismus dar.
Unter diesen Bedingungen waren 82 Prozent Menschewiki in der Konstituierenden Versammlung nur eine parlamentarische Widerspiegelung der Geschütze der Volksgarde, der Besonderen Abteilung, der englischen Kriegsexpedition und des Tifliser Einzelgefängnisses. Das sind die Mysterien der Demokratie.
Und wie steht es bei euch? hören wir schon die jähzornige Stimme der kollektiven Mistreß Snowden fragen.
Bei uns, gnädige Frau? Vor allem, gnädige Frau, wenn man die Institutionen mit den Ausmaßen des Landes und der Zahl der Bevölkerung vergleicht, so werden die Mittel der Diktatur des georgischen Menschewismus den Staatsapparat der Sowjetmacht um mehrere Male übersteigen. Wenn Ihnen die vier Regeln der Arithmetik bekannt sind, so werden Sie sich unschwer hiervon überzeugen können. Ferner, gnädige Frau, hat in der ganzen Zeit die ganze kapitalistische Welt Krieg gegen uns geführt, während Georgien beständig das Protektorat der gleichen siegreichen imperialistischen Länder genoß, die gegen uns Krieg führten. Schließlich, gnädige Frau – und dies ist nicht unwichtig –, haben wir nie und nirgends geleugnet, daß unser Regime das Regime einer revolutionären Klassendiktatur ist, nicht aber einer reinen, über den Klassen stehenden Demokratie, die angeblich aus sich selbst die Garantien ihrer Festigkeit schöpft. Wir haben nicht gelogen während die georgischen Menschewiki und ihre Beschützer gelogen haben. „Brennesseln sind wir gewohnt, Brennesseln zu nennen.“ Wenn wir die Bourgeoisie und ihre politischen Lakaien der politischen Rechte berauben, so nehmen wir nicht zur demokratischen Maskierung unsere Zuflucht, wir handeln offen, indem wir das revolutionäre Recht des siegreichen Proletariats verwirklichen. Wenn wir unsere Feinde erschießen, so sagen wir nicht, daß dies der Gesang der Aeolsharfen der Demokratie sei. Eine ehrliche revolutionäre. Politik schließt vor allem aus, daß man den Massen Sand in die Augen streut.
1. Die Zahl ist außerordentlich übertrieben: die Menschewiki haben sich auch hier die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Ehrenvolksgardisten anzuschwindeln.
Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2019