Leo Trotzki

Zwischen Imperialismus und Revolution

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Die Lösung des Knotens

Indem Georgien Wrangel mit Menschen und Material versorgte, war es auch im Laufe des ganzen Jahres 1920 das Konspirationsquartier für die russischen und besonders für die transkaukasischen Weißgardisten verschiedener Gruppierungen. Es diente als Vermittler zwischen Petljura, der Ukraine, dem Kuban-Gebiet, Dagestan, den weißen Gebirgsbewohnern. Nach der Niederlage finden diese aktiven Männer bei den Menschewiki Zuflucht, hier errichten sie ihre Stäbe, von hier aus entfalten sie ihre Tätigkeit. Aus Georgien lenken sie ihre Abteilungen von Aufständischen auf folgenden Wegen nach dem Territorium der Sowjetmacht: 1. Suchum – Kale – Maruch-Paß und ferner am oberen Lauf des Flusses Kuban und den Fluß Laba entlang; 2. Suchum – Kale – Gagry, Adler – Krasnaja Poljana, Atschcha-Paß – oberer Lauf des Flusses Laba; 3. Kutais – Oni – Naltschik.

Sie gehen mehr oder weniger konspirativ vor – genau in dem Maße, daß das diplomatische Dekorum gewahrt bleibt, sind aber der georgischen Besonderen Abteilung gut bekannt.

„Durch meinen Aufenthalt in Georgien – schreibt am 12. November 1920 ein weißgardistischer Oberleutnant an die Besondere Abteilung – werde ich keinerlei Anlaß für irgendwelche Unannehmlichkeiten mit der Sowjetmission schaffen, da meine Arbeit noch konspirativer verlaufen wird. Wenn für mich Bürgen aus der Zahl der georgischen Politiker verlangt werden, so wird sich eine genügende Anzahl finden.“

Dieses Dokument wurde unter vielen anderen in den menschewistischen Archiven durch die Kommission der Kommunistischen Internationale aufgefunden. Die weißen Verschwörerorganisationen stehen in engster Verbindung mit den Missionen der Entente und im besonderen mit ihrer Gegenspionage. Wenn Henderson in dieser Hinsicht Zweifel hegt, so könnte er Erkundigungen in den Archiven der Gegenspionage Großbritanniens einholen. Wir wollen hoffen, daß sein patriotischer Standpunkt ihm den Zugang zu diesem Heiligtum sichert.

Batum ist in dieser Periode der wichtigste Knotenpunkt der Intrigen und Verschwörungen der Entente und ihrer Vasallen. Im Juli 1920 hat England Batum unmittelbar in die Hände des menschewistischen Georgiens übergeben, das sich sofort genötigt sah, sich mit Hilfe von Artillerie einen Weg zu den Herzen der adsharischen Bevölkerung zu bahnen. Indem das britische Kommando Batum nach vorhergehender Zerstörung der Mittel seiner Meeresverteidigung evakuierte, hat es dadurch sein volles Vertrauen zu dem guten Willen Georgiens in bezug auf Wrangel bezeugt. Die Vernichtung der Armee des letzteren veränderte die Situation sofort. Die Generäle und Diplomaten der Entente kannten mir zu gut den wahren Charakter der gegenseitigen Beziehungen Georgiens, Wrangels und der Sowjetrepubliken, um über die verzweifelte Lage, in die die Liquidation Wrangels die georgischen Menschewiki gebracht hatte, nicht im Zweifel zu sein. Man muß annehmen, daß auch sie selbst, ,,Garantien“ verlangend, nicht geschwiegen haben. In den englischen Regierungskreisen wird die Frage einer neuen Okkupation Batums aufgeworfen, unter dem Vorwande der Pacht des Freihafens oder unter irgend einer anderen Etikette, deren der Diplomat nicht weniger hat, als der Dieb Dietriche. Die führende georgische Presse berichtete über die bevorstehende Okkupation eher mit demonstrativer Befriedigung als mit Unruhe. Es handelte sich ganz offenbar um die Schaffung einer neuen Front gegen uns. Wir erklärten, daß wir die Besetzung Batums durch die Engländer als eine direkte Eröffnung der Kriegshandlungen betrachten würden.

Fast zu gleicher Zeit begann sich für das Schicksal des unabhängigen Georgiens das Frankreich des Herrn Millerand, der bekannte Beschützer aller Schwachen, eingehend zu interessieren. Der in Georgien eingetroffene „oberste Kommissar Transkaukasiens“, Herr Abel Chevalier, erklärte, ohne Zeit zu verlieren, durch die georgische Telegraphenagentur:

„Die Franzosen lieben Georgien brüderlich, und ich bin glücklich, daß ich dies zur allgemeinen Kenntnis bringen kann. Die Interessen Frankreichs fallen absolut mit den Interessen Georgiens zusammen ...“

Die Interessen jenes Frankreichs, das Rußland mit der Hungerblockade umzingelte und eine Reihe von Zarengeneralen auf es hetzte, „fielen absolut zusammen“ mit den Interessen des demokratischen Georgiens. In der Tat, nach den lyrischen und etwas dummen Reden über die glühende Liebe der Franzosen zu den Georgiern erklärte Herr Chevalier, wie es sich auch für einen Vertreter der Dritten Republik gehört:

„Die Staaten der ganzen Welt lechzen und hungern gegenwärtig nach Rohstoffen und Fabrikaten: Georgien aber ist der große und natürliche Weg zwischen dem Osten und dem Westen.“

Mit anderen Worten, außer der Liebe zu den Georgiern lockte die sentimentalen Freunde des Herrn Millerand auch der Duft des Naphthas von Baku.

Fast gleich nach Chevalier traf der französische Admiral Dumenille in Georgien ein. Hinsichtlich der glühenden Liebe zu den Stammesgenossen Noi Dschordanias stand der Seemann dem Festlanddiplomaten in keiner Weise nach. Zu gleicher Zeit und sofort erklärte der Admiral: Da Frankreich „die Beschlagnahme fremden Eigentums nicht anerkennt“ (wer hätte es glauben können?), werde er, Dumenille, sich auf dem Territorium des „unabhängigen“ Georgiens befindend, der Sowjetregierung nicht gestatten, sich in den Besitz jener russischen Schiffe zu setzen, die in georgischen Häfen liegen und für die Uebergabe an Wrangel und seine eventuellen Nachfolger bestimmt seien. Das Recht gelangt zuweilen auf sehr komplizierten Wegen zu seinem Triumph!

Die Zusammenarbeit der Vertreter der französischen Demokratie mit den Demokraten Georgiens entfaltete sich in vollem Umfange. Das französische Minenschiff Sakiar beschoß und verbrannte den russischen Schoner Seinab. Die französischen Konterspione überfielen unter Beteiligung der Agenten der georgischen Besonderen Abteilung den diplomatischen Sowjetkurier und beraubten ihn. Französische Minenschiffe deckten die Entführung des in einem georgischen Hafen liegenden russischen Dampfers Prinzip nach Konstantinopel. Die Arbeit auf dem Gebiete der Organisation von Aufständen in den benachbarten Sowjetrepubliken und Gebieten Rußlands wurde in verstärktem Maßstabec betrieben. Die Zahl des aus Georgien dorthin beförderten Waffenmaterials wuchs sofort. Die Hungerblockade Armeniens, das zu jener Zeit bereits sowjetistisch geworden war, dauerte fort. Batum wurde aber nicht okkupiert. Es ist möglich, daß Lloyd George zu jener Zeit auf den Gedanken einer neuen Front verzichtet hatte. Es ist auch möglich, daß die glühende Liebe der Franzosen zu Georgien die aktive Aeußerung des gleichen Gefühles von Seiten der Engländer verhindert hat. Unsere Erklärung hinsichtlich Batums ist natürlich auch nicht ohne Folgen geblieben. Indem die Entente in letzter Stunde für die Verdienste der Vergangenheit mit dem metaphysischen Wechsel der Anerkennung de jure quittierte, beschloß sie, nichts weiter auf dem unzuverlässigen Fundament des menschewistischen Georgiens aufzubauen.

Nach dem unversöhnlichen Kampfe, den die georgischen Menschewiki gegen uns geführt hatten, zweifelten sie noch im Frühjahr 1920 nicht im geringsten daran, daß unsere Truppen, den Sieg über Denikin zum Abschluß bringend, ohne Halt zu machen bis nach Tiflis und Batum gelangen und die menschewistische Demokratie in das Meer fegen würden ... Wir aber, die wir von dem Sowjetumsturz in Georgien keine irgendwie bedeutsamen revolutionären Folgen erwarteten, waren vollständig bereit, die menschewistische „Demokratie“ neben uns zu dulden, unter der Bedingung der gemeinsamen Front gegen die russische Gegenrevolution und den europäischen Imperialismus.

Aber gerade diese unsere Bereitschaft, die durch politische Berechnung diktiert war, wurde in Tiflis als Ausdruck unserer Schwäche aufgefaßt. Unsere Freunde in Tiflis schrieben uns, daß in der ersten Periode die regierenden Menschewiki sich vollständig weigerten, die Motive unseres friedliebenden Verhaltens zu verstehen: es war ihnen ganz klar, daß wir Georgien ohne Kampf hätten besetzen können. Sie fanden bald eine phantastische Erklärung darin, daß England angeblich die Führung von irgendwelchen Verhandlungen mit uns von unserem friedlichen Verhalten in bezug auf Georgien abhängig gemacht habe! Ob das nun so ist oder nicht, aber die ursprüngliche Angst verwandelte sich schnell in Frechheit, die eine Provokation nach der anderen über uns hereinbrechen ließ. In der Periode unserer Mißerfolge an der polnischen Front und der Schwierigkeiten an der Wrangelfront stellte Georgien sich offen in das Lager unserer Feinde. Die traurige, kleinbürgerliche Demokratie, ohne revolutionären Schwung ohne politischen Fernblick, ohne Perspektiven, gestern noch sich vor dem Hohenzollern windend, heute bereit, vor Wilson auf dem Bauche zu kriechen, Wrangel unterstützend und morgen bereit, sich im geeigneten Moment von ihm loszusagen, mit Sowjetrußland ins Einvernehmen tretend, in der Hoffnung es zu betrügen, die feige menschewistische Demokratie, die sich endgültig verstrickt hat – sie hat sich selbst zum Untergange verurteilt.

Da wir alles Recht dazu hatten, so sahen wir, wie schon gesagt, kein politisches Interesse in der militärischen Liquidation des menschewistischen Georgiens. Im besonderen wußten wir von vornherein sehr gut, daß die Herren menschewistischen Politiker, wenn man ihnen auf den Fuß tritt, in allen Sprachen der demokratischen Zivilisation schreien würden. Das sind nicht die Arbeiter von Rostow, Nowo-Tscherkask oder Jekaterinodar, die von den Denikin-Leuten, unter freundschaftlicher „Neutralität“ und tatsächlicher Mitwirkung der georgischen Menschewiki zu Hunderten und Tausenden vernichtet wurden und die namenlos und unbekannt für Europa zugrunde gingen. Die georgischen menschewistischen Politiker, durchweg Intelligenzler, ehemalige Studenten verschiedener Universitäten Europas, die gastfreundlichen Wirte Renaudels, Vanderveldes und Kautskys – war es nicht von vornherein klar, daß sie die Herzen aller Organe der Sozialdemokratie, des Liberalismus und der Reaktion für sich gewinnen würden? War es nicht klar, daß alle Politiker, die sich durch die Unterstützung des imperialistischen Schlachtens entehrt haben, alle Verräter und Bankrotteure des offiziellen Sozialismus, als Antwort auf die Klagen der beleidigten georgischen Brüder ein Geheul des Unwillens erheben würden, um umso deutlicher ihre frische Empfänglichkeit für die Stimme der Gerechtigkeit und ihre Ergebenheit den Idealen der Demokratie gegenüber zu bekunden? Um so mehr, da man dies alles an einer Frage zeigen konnte, die sie in keinerlei Unkosten stürzte. Wir kannten sie nur zu gut, um von vornherein nicht daran zu zweifeln, daß sie einen so vortrefflichen Vorwand sich nicht entgehen lassen würden für Resolutionen, Manifeste, Adressen, Deklarationen, Memoranda, Artikel und Reden, für die pathetischsten Modulationen ihrer Stimme – unter Sympathie der Bourgeoisie und Unterstützung ihrer Regierungen. Schon allein aus diesem Grande, d. h. allein aus dem Wunsche, keinen bequemen Anlaß für die internationale „demokratische“ Hysterie zu schaffen, wären wir bereit gewesen, die menschewistischen Führer der Gegenrevolution in ihrem georgischen Zufluchtsort in Frieden zu lassen, selbst wenn wir hierfür keine anderen ernsthafteren Ursachen gehabt hätten. Wir wollten Uebereinkunft. Wir schlugen den Menschewiki gemeinsame Aktionen gegen Denikin vor. Sie weigerten sich. Wir schlossen mit ihnen einen Vertrag, der in viel geringerem Maße als das Protektorat der Entente ihre Unabhängigkeit berührte. Wir bestanden auf der Ausführung des Vertrages, entlarvten das feindliche Verhalten der georgischen Menschewiki in einer endlosen Reihe von Noten und Protesten.

Wir strebten danach, durch den Druck der werktätigen Massen Georgiens selbst uns in Georgien einen Nachbar zu sichern, der sogar ein für uns nicht unvorteilhafter Vermittler zwischen der Sowjetföderation und dem kapitalistischen Westen hätte sein können. Unsere ganze Politik in bezug auf Georgien war in dieser Richtung orientiert. Aber für die Menschewiki gab es bereits keine Möglichkeit einer Wendung. Beim Studium der Geschichte unserer Beziehungen zu der Regierung der Menschewiki an der Hand der Dokumente wunderte ich mich mehr als einmal über unsere Langmut und zollte zu gleicher Zeit den Tribut der Anerkennung jener gigantischen bourgeoisen Maschine der Fälschung und der Lüge, mit deren Hilfe der unvermeidliche Sowjetumsturz in Georgien als eine plötzliche, durch nichts hervorgerufene, militärische Vernichtung, als ein Ueberfall des Sowjetwolfes auf das unschuldige Rotkäppchen des Menschewismus dargestellt wurde. O, ihr Börsenpoeten, ihr Märchendichter der Diplomatie, ihr Mythendichter der großen Presse, o ihr besoldetes Gesindel des Kapitals!

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Mit dem ihm allein eigenen Scharfblick enthüllt Kautsky die diabolische Mechanik des bolschewistischen Umsturzes in Georgien: der Aufstand begann nicht in Tiflis, wie es sich gehört hätte, wenn er von den Arbeitermassen ausgegangen wäre, sondern an den Grenzen des Landes, in der Nachbarschaft der Sowjettruppen; er entwickelte sich von der Peripherie zum Zentrum hin; ist es nicht klar, daß das menschewistische Regime der militärischen Gewalt von außen her zum Opfer gefallen ist? Diese Argumentationen hätten einem angehenden Untersuchungsrichter Ehre gemacht. Sie bieten aber nichts für das Verständnis historischer Ereignisse.

Die Sowjetrevolution breitete sich von dem Petrograder und Moskauer Zentrum her über das ganze alte Zarenreich aus. Die Revolution hatte in dieser Periode keine Armee. Ihre Träger waren Abteilungen eilig bewaffneter Arbeiter. Sie rückten fast ohne Widerstand in die zurückgebliebensten Gebiete ein und errichteten unter der ungeteilten Sympathie der Werktätigen die Sowjetmacht. In den Fällen, da die bourgeois-gutsherrliche Reaktion sich des Zentrums des Gebietes bemächtigte, wie am Don oder im Kuban-Gebiet, ging der Aufstand von der Peripherie zum Zentrum weiter, nicht selten unter der Mitwirkung der Agitatoren und Kämpfer der Großstädte.

Der Gegenrevolution aber gelang es, mit von außen her kommender Hilfe sich von neuem der zurückgebliebeneren Randgebiete zu bemächtigen und sich in ihnen festzusetzen: am Don, im Kuban-Gebiet, im Kaukasus, in dem Gebiet auf dem linken Ufer der Wolga und in Sibirien, am Weißen Meer und sogar in der Ukraine. Die Revolution formierte ihre Armee gleichzeitig mit der Gegenrevolution. Die Frage der Grenzen der Sowjetrevolution begann bereits durch regelrechte Gefechte, durch ganze militärische Feldzüge entschieden zu werden. Da aber die Armeen nicht „von außen her“ hereingeführt, sondern von den auf Tod und Leben kämpfenden Klassen in der ganzen Ausdehnung des alten Zarenreiches geschaffen worden waren, so waren die militärischen Gefechte die Sprache des revolutionären Klassenkampfes. Zwar wurde die Gegenrevolution in sehr starkem Grade durch militärische Macht von außen her unterstützt. Das bestärkt aber nur unsere Schlußfolgerung. Ohne Petersburg, Moskau, den Rayon Iwanowo-Wosnessensk, das Donez-Becken, deu Ural hätte die Revolution überhaupt nicht stattgefunden. Das Dongebiet an und für sich hätte die Sowjetmacht niemals errichtet. Auch das Dorf des Gouvernements Moskau hätte sie nicht errichtet. Da aber sowohl das Dorf des Gouvernements Moskau als auch das Kubanische Kosakendorf und die Steppe des Gebietes auf dem linken Wolgaufer seit langem einem staatlichen und wirtschaftlichen Ganzen angehörten und mit ihm zusammen in den Wirbel der Revolution hineingezogen wurden, so stellte sich über sie alle die revolutionäre Führung der Stadt und des industriellen Proletariats ein. Die Ausbreitung und der Sieg der Revolution waren garantiert nicht durch ein Plebiszit in jedem Winkel des Landes, sondern durch die unbestreitbare Hegemonie der proletarischen Avantgarde im ganzen Lande. Einigen, nämlich den westlichen Randgebieten gelang es mit Hilfe von außen her kommender bewaffneter Macht, sich nicht nur zeitweilig aus dem Strudel der Revolution herauszureißen, sondern auch für eine längere Frist das bourgeoise Regime beizubehalten. Die „Demokratien“ Finnland, Estland, Latwiga, Litauen und sogar Polen bestehen dank dem Umstande, daß in der kritischen Periode ihrer Entstehung eine ausländische Kriegsmacht die Bourgeoisie unterstützt und das Proletariat unterdrückt hat. Gerade in diesen Ländern, die sich unmittelbar an den kapitalistischen Westen anschließen, wurde eine mechanische Störung des Kräfteverhältnisses durch Vernichtung, Einsperrung und Verbannung der besten proletarischen Elemente durch von außen her hereingeführte Kriegsmacht verursacht. Nur auf diese Weise konnte sich in ihnen ein zeitweiliges Gleichgewicht der Demokratie auf bourgeoisen Grundlagen einstellen. Warum sollten, nebenbei bemerkt, die Gerechten der Zweiten Internationale nicht folgendes Programm aufstellen: Entfernung der mit Hilfe äußerer Mächte formierten bourgeoisen Armeen aus Finnland, Estland, Latwiga usw.; Befreiung aller Verhafteten und Zurückbringung aller Verbannten (da eine Wiedererweckung aller Getöteten ja unmöglich ist); Referendum ...

Die Lage Transkaukasiens zeichnete sich dadurch aus, daß zwischen ihm und den Zentren der Revolution sich der Streifen der Kosakenvendee erstreckte. Ohne das Bestehen Sowjetrußlands wäre die kleinbürgerliche transkaukasische Demokratie sofort von Denikin erdrückt worden. Ohne das Weißgardisten tum am Don und im Kuban-Gebiet wäre sie sofort in der Sowjetrevolution aufgegangen. Sie lebte und nährte sich vom angespannten Bürgerkriege in Rußland und von der fremdländischen Kriegshilfe in Transkaukasien selbst. Von jenem Augenblick an, da der Bürgerkrieg mit einem Siege der Sowjetrepublik endete, wurde der Zusammenbruch des kleinbourgeoisen Regimes in Transkaukasien unvermeidlich.

Wir hörten bereits im Februar 1918 Klagen Dschordanias, daß die bolschewistische Gesinnung sich des Dorfes und der Stadt bemächtigt habe und sogar die menschewistischen Arbeiter beherrsche. Die Bauernaufstände in Georgien hörten nicht auf. Während in Sowjetrußland die legalen menschewistischen Zeitungen bis zum Aufstande der tschechoslowakischen menschewistischen Sozialrevolutionäre im Mai 1918 erschienen, war in Georgien die kommunistische Partei schon seit Anfang Februar ins Kellerloch getrieben. Ungeachtet dessen, daß das Abgeschnittensein von Sowjetrußland und die ununterbrochene Anwesenheit fremdländischer Truppen die Werktätigen Transkaukasiens terrorisierte, nahmen die roten Aufstände im Leben Georgiens einen unvergleichlich größeren Platz ein, als die weißen auf dem Sowjetterritorium. Der Repressalienapparat der georgischen Regierung war unvergleichlich größer als der entsprechende Apparat Sowjetrußlands.

Unser Sieg über Denikin, und dadurch auch über die allmächtige Entente, hat einen ungeheuren Eindruck auf die Volksmassen Transkaukasiens gemacht. Bei der Annäherung der Sowjettruppen an die Grenzen Aserbeidshans und Georgiens wurden die werktätigen Massen dieser Republiken, die nicht aufhörten, sich mit den Werktätigen Rußlands eins zu fühlen, von stürmischer, revolutionärer Erregung erfaßt. Ihre Stimmung kann man teilweise mit jener vergleichen, die sich der Volksmassen Ostpreußens, und in bedeutendem Maße auch ganz Deutschlands bemächtigte während unseres Vormarsches gegen Warschau und der Annäherung des linken Flügels der Roten Armee an die deutschen Grenzen. Dort hatten wir aber eine vorübergehende Episode vor uns, während die Vernichtung der Denikinarmee, vor den Augen der Entente, entscheidenden Charakter hatte, und die werktätigen Massen Aserbeidshans, Armeniens und Georgiens zweifelten nicht daran, daß die Sowjetregierung nördlich von ihnen von nun an sicher und unerschütterlich garantiert sei.

In Aserbeidshan fand der Sowjetumsturz bei der Annäherung unserer Truppen an die Grenzen des Staates fast automatisch statt. Die regierende bourgeois-gutsherrliche Partei „Mussawat“ hatte auch nicht im entferntesten Grade die Traditionen und den Einfluß der georgischen Menschewiki. Baku, das in Aserbeidshan eine unvergleichlich größere Rolle spielt als Tiflis in Georgien, war eine alte Zitadelle des Bolschewismus. Die Mussawatisten flohen, indem sie den Kommunisten von Baku die Macht kampflos überließen. Nicht viel würdiger war auch die Rolle der armenischen Daschnaken. In Georgien entfalteten sich die Ereignisse planmäßiger. Die ganz verborgen liegenden bolschewistischen Gesinnungen begannen entschieden zum Durchbruch zu kommen. Die Kommunistische Partei wuchs schnell als Organisation und gewinnt noch schneller die Sympathie der Werktätigen. Die Zeitung der georgischen Sozialisten-Föderalisten Sakartwello schrieb am 7. Dezember 1920:

„Ganz anders war es mit der Macht der Kommunisten in Georgien vor kaum einigen Monaten bestellt im Vergleich zu heute. Damals gab es selbst um Georgien herum keine Bolschewiki. Wir waren umgeben von unabhängigen nationalen Staaten. Unsere ökonomische und finanzielle Lage war eine verhältnismäßig bessere als heute. Heute hat sich aber das Bild verändert, und diese Veränderung des Bildes hat zugunsten der Bolschewiki stattgefunden. Heute haben die Bolschewiki in Georgien Parteiorganisationen. Hier und da haben sie unter den Arbeitern eine Mehrheit, so z. B. im Verband der Drucker. Überhaupt hat die bolschewistische Arbeit bei uns umfassenden Charakter angenommen. Innen – ein Anwachsen der bolschewistischen Kräfte, und außen – ihre vollständige Herrschaft. Das ist die Situation, in die Georgien geraten ist.“

Diese Klagen der uns feindlich gesinnten Zeitung, die die wirklichen Tatsachen widerspiegeln, sind für uns sehr wichtig: sie widerlegen Kautsky kategorisch, der neben „vollster Freiheit“ für die Kommunisten ihre vollständige Ohnmacht konstatierte und, hierauf fußend, den Sowjetumsturz in Georgien als Resultat seiner von außen kommenden Gewaltanwendung darstellte. Indessen bilden die Worte der nationalistischen Zeitung: „Innen ein Anwachsen der bolschewistischen Kräfte, und von außen her ihre vollständige Herrschaft“ die abgeschlossene Formel des herannahenden Sowjetumsturzes.

Die allgemeine Hoffnungslosigkeit der Lage trieb den georgischen Menschewismus auf die Bahn der offenen Reaktion. Schon der grobe und herausfordernde Verzicht der Regierung Dschordania auf das Bündnis gegen Denikin schwächte die Position der Menschewiki in den Massen. In derselben Richtung wirkten die ständigen Verletzungen des Vertrages mit Sowjetrußland, die wir selbstverständlich nicht unbekannt bleiben ließen. Indem die Menschewiki die Unmöglichkeit ihrer selbständigen Existenz bei dem Siege der Sowjetmacht im ganzen übrigen Südosten des ehemaligen Zarenreiches einsahen, machten sie den verzweifelten Versuch, Wrangel zu unterstützen und die militärische Mitwirkung der Entente herbeizuführen. Vergeblich! In der Krim entschied sich nicht nur das Schicksal Wrangels, sondern auch das Schicksal des menschewistischen Georgiens.

Eine gewisse Verstärkung unserer Truppen im Kaukasus fand im Herbst 1920 statt, während der Wrangellandung im Kubangebiet und der hartnäckigen Verhandlungen über die Okkupation Batums. Die Konzentration der Truppen hatte rein defensiven Charakter. Die Liquidation Wrangels und der Waffenstillstand mit Polen erzeugten einen neuen Zustrom von Sowjetgesinnung in Georgien. Die Gegenwart der roten Regimenter an der Grenze bedeutete, daß kein Anlaß zur Befürchtung einer ausländischen Intervention im Falle eines Sowjetumsturzes vorliege. Nicht um die Menschewiki zu stürzen, waren die roten Truppen notwendig, sondern dafür, um die Möglichkeit einer englischen, französischen oder einer Wrangellandung aus Konstantinopel gegen die Sowjetrevolution zu verhindern. Die Menschewiki selbst aber, mit ihrer prätorianischen Volksgarde und der fingierten Nationalarmee leisteten ganz minimalen Widerstand. Die Sowjetrevolution, die Mitte Februar begann, war gegen Mitte März schon in allen Teilen des Landes zum Abschluß gekommen.

Wir haben keinerlei Grund, die Bedeutung der Sowjetarmee für den Sieg der Sowjets im Kaukasus zu verheimlichen oder zu verringern. Im Februar 1921 erwies sie der Revolution eine sehr große Unterstützung, jedoch eine um viele Male geringere als jene Hilfe, die die Menschewiki im Laufe von drei Jahren von der türkischen, deutschen, englischen Armee erhielten, um schon gar nicht von den russischen Weißgardisten zu reden. Daß das Revolutionskomitee, das den Aufstand leitete, seine Tätigkeit nicht in Tiflis, dem Zentrum der menschewistischen Volksgarde, sondern von der Grenze her begann, indem es sich mit dem Rücken auf die rote Armee stützte und Kräfte sammelte, – das zeugt nur davon, daß das revolutionäre Komitee politischen Sinn im Kopfe hatte, was man durchaus nicht von Kautsky behaupten kann, der nachträglich der georgischen Revolution die entgegengesetzte Strategie zu diktieren versucht. Diese Lehren geben wir höflich zurück. Wir wollen lernen und lehren, wie man den Feind schlägt. Die Apostel der Zweiten Internationale aber lehren die Kunst, geschlagen zu werden.

Es ist geschehen, was sich lange vorbereitete und was kraft der Logik der Dinge geschehen mußte. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Georgien und Sowjetrußland ist nur ein Kapitel des Buches über die Blockade Rußlands, über die militärischen Interventionen, über das französische Gold, über die englischen Schiffe, über die vier Fronten, an denen die besten Leute der Arbeiterklasse im Feuer verbrannten. Dieses Kapitel kann nicht aus diesem Buche herausgerissen werden. Jenes Georgien, das heute die geschlagenen menschewistischen Heerführer des Bürgerkrieges zeichnen, hat es niemals gegeben: weder ein demokratisches, noch ein friedliches, weder ein selbständiges, noch ein neutrales Georgien. Es hat einen georgischen Waffenplatz des allgemeinen russischen Klassenkrieges gegeben. Dieser Waffenplatz ist heute in den Händen des siegreichen Proletariats.

Und nachdem die menschewistischen Führer Georgiens dazu beigetragen haben, Zehntausende von Rotarmisten, Tausende von Kommunisten erstechen, erfrieren und erhängen zu lassen und uns Wunden zuzufügen, deren Heilung Jahre in Anspruch nehmen wird; nachdem wir trotz aller Verluste und Opfer als Sieger aus dem Kampfe hervorgegangen sind; nachdem die werktätigen Massen Georgiens unter unserer Mitwirkung sie durch die Batumer Luke mit einem Fußtritt hinausbefördert haben, schlagen sie uns vor, das alte Spiel für ungültig zu erklären und von vorne zu beginnen. Ihre von den russischen, türkischen, preußischen und britischen Offizieren verletzte demokratische Jungfräulichkeit wird durch Macdonald, Kautsky, Mistreß Snowden u. a. gelehrte Geburtshelfer und Hebammen der Zweiten Internationale wieder hergestellt werden, worauf – unter dem Schutze der Flotte Großbritanniens, mit Unterstützung durch die englischen Naphthaindustriellen und die italienischen Mangan-Industriellen, unter Frohlocken der Times und sogar mit dem Segen des neuen römischen Papstes, – das menschewistische Georgien in seiner ganzen Glorie wiedergeboren werden wird, das allerdemokratischste, das allerfreieste, das allerneueste Land der Welt!


Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2019