Leo Trotzki

Die Wirtschaftslage Sowjetrußlands
vom Standpunkt der Aufgaben
der sozialistischen Revolution [1]

(Oktober 1922)


Aus Leo Trotzki, Die Grundfragen der Revolution, 1923, S. 457–471.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1. Die Frage, welche Wege die wirtschaftliche Entwicklung Sowjetrußlands einschlägt, muß von den klassenbewußten Arbeitern der ganzen Welt in zweifacher Hinsicht bewertet und begriffen werden: einmal vom Gesichtspunkt der Schicksale der ersten Arbeiterrepublik der Welt, ihrer Dauerhaftigkeit, ihrer Festigkeit, der Hebung ihres Wohlstandes, ihrer Entwicklung zum Sozialismus; zum anderen vom Gesichtspunkt der Lehren und Schlußfolgerungen, die sich aus der russischen Erfahrung für die wirtschaftliche Aufbautätigkeit des Proletariats der anderen Länder nach der Eroberung der Staatsmacht ergeben.
 

2. Die Methoden und das Tempo der wirtschaftlichen Aufbautätigkeit des siegreichen Proletariats werden bestimmt: a) durch die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte sowohl in der Gesamtwirtschaft als auch in ihren einzelnen Zweigen und insbesondere durch das Verhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft; b) durch die kulturelle und organisatorische Entwicklungsstufe des Proletariats als der herrschenden Klasse; c) durch die nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat entstandene politische Situation (den Widerstand der gestürzten bürgerlichen Klassen, das Verhalten der Kleinbourgeoisie und der Bauernschaft, die Ausmaße des Bürgerkrieges und seiner Folgen, militärische Interventionen von außen her u. a.).

Je höher im Lande die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte, je größer die kulturelle und organisatorische Reife des Proletariats und je schwächer dabei der Widerstand der gestürzten Klassen ist, um so gleichmäßiger, systematischer, rascher und erfolgreicher kann selbstverständlich das siegreiche Proletariat die Wirtschaft vom kapitalistischen auf das sozialistische Geleise überführen.

Infolge einer eigenartigen Verkettung geschichtlicher Umstände hat den Weg der sozialistischen Entwicklung als erstes Land Rußland betreten, ein trotz weitgehender Konzentration der wichtigsten Zweige seiner Industrie wirtschaftlich zurückgebliebenes Land, ein Land mit kulturell und organisatorisch rückständigen Arbeiter- und Bauernmassen, wenn auch außerordentlich starken revolutionär-politischen Qualitäten der proletarischen Vorhut.

Durch diese Widersprüche in der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur Rußlands, sowie durch die Tatsache, daß die Sowjetrepublik während ihrer ganzen Existenz kapitalistisch eingekreist war und es jetzt noch ist, werden die Schicksale der wirtschaftlichen Aufbauarbeit der Arbeiter- und Bauernmacht, der Wechsel in dieser Aufbauarbeit und der Sinn der gegenwärtigen sogenannten neuen Wirtschaftspolitik bestimmt.
 

3. Die restlose Enteignung nicht nur der Groß- und Mittel-, sondern auch der Kleinbourgeoisie in Stadt und Land war eine Maßnahme, die nicht nur wirtschaftliche Zweckmäßigkeit, sondern auch politische Notwendigkeit gebot. Bei der andauernden Herrschaft des Kapitalismus in der ganzen übrigen Welt wollte nicht nur die russische Großbourgeoisie, sondern auch die Kleinbourgeoisie nicht an die Möglichkeit einer Erhaltung des Arbeiterstaates glauben und bildete daher ein Reservoir für die bürgerlich-großagrarische Konterrevolution. Unter solchen Umständen konnte der Widerstand der letzteren nicht anders gebrochen und also die Sowjetmacht nicht anders behauptet werden, als durch die völlige Enteignung der Bourgeoisie und der ausbeuterischen Oberschichten der Dorfbevölkerung. Nur eine solche entschlossene und schonungslose Politik, die die schwankenden bäuerlichen Massen dazu zwang, zwischen der Wiedereinsetzung der Gutsbesitzer und dem Arbeiterstaat zu wählen, sicherte dem letzteren den Sieg.
 

4. Der Arbeiterstaat wurde also schon bei Beginn seiner Machtausübung zum Eigentümer aller Industrieunternehmungen bis zu den kleinsten hinab. Das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Industriezweige zueinander, darunter vor allem auch der grundlegenden, war schon vor der Revolution durch den Umbau der Industrie während des Krieges und für den Krieg völlig aus dem Gleichgewicht gebracht und verzerrt worden. Der Personalbestand des leitenden Apparates der Wirtschaftsverwaltung befand sich entweder in der Emigration oder an den weißen Fronten. Soweit gewisse Elemente sich jedoch im Sowjetdienst betätigten, erwiesen sie sich als Saboteure.

Die Eroberung und Behauptung der Macht durch die Arbeiterklasse wurde erkauft um den Preis einer raschen und schonungslosen Zerstörung des gesamten bürgerlichen Apparates der Wirtschaftsleitung von oben bis unten, sowohl in den einzelnen Betrieben, als auch im ganzen Lande.

Dies waren die Verhältnisse, unter denen der sogenannte „Kriegskommunismus“ entstand.
 

5. Die dringendste Aufgabe des neuen Regimes bestand in der Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung für die Städte und für das Heer. Schon der imperialistische Krieg hatte den Uebergang vom freien Getreidehandel zum Monopol erzwungen. Der Arbeiterstaat, der unter dem Druck der Anforderungen des Bürgerkriegs alle Organisationen des Handelskapitals zerstört hatte, konnte selbstverständlich nicht mit der Wiederherstellung des freien Getreidehandels beginnen. Er sah sich genötigt, den zerstörten Handelsapparat zu ersetzen durch die zwangsmäßige Eintreibung der Ueberschüsse der bäuerlichen Wirtschaft.

Die Verteilung der Lebensmittel und anderer Konsumartikel nahm die Form einer Ausgabe nivellierender Staatsrationen an, die von der Qualifizierung und Produktivität der Arbeit fast ganz unabhängig waren. Dieser „Kommunismus“ erhielt mit Recht den Namen Kriegskommunismus, nicht nur, weil er die wirtschaftlichen Methoden durch militärische ersetzte, sondern auch, weil er in erster Linie militärischen Zwecken diente. Es handelte sich nicht darum, eine planmäßige Entwicklung der Wirtschaft unter den entstandenen Verhältnissen zu sichern, sondern darum, die Verpflegung der Armee an den Fronten sicherzustellen und die Arbeiterklasse vor dem Aussterben zu bewahren. Der Kriegskommunismus war das Regime einer belagerten Festung.
 

6. Auf industriellem Gebiet wurde auf der Grundlage der Gewerkschaften und mit ihrer Hilfe ein roh-zentralisierter Apparat geschaffen, der den unmittelbaren Zweck verfolgte, aus der durch den Krieg, die Revolution und die Sabotage total ruinierten Industrie wenigstens ein Minimum von Erzeugnissen herauszuschlagen, die vor allem für die Führung des Bürgerkrieges notwendig waren. Etwas Aehnliches wie ein Einheitsplan wurde dadurch erzielt, daß die vorhandenen Produktionskräfte nur zu einem unbedeutenden Teil ausgenützt wurden.
 

7. Wäre auf den Sieg des russischen Proletariats bald der Sieg des westeuropäischen Proletariats gefolgt, so h ätte das nicht nur den Bürgerkrieg in Rußland ganz außerordentlich abgekürzt, sondern dem russischen Proletariat durch eine feste Verknüpfung der Wirtschaft Sowjetrußlands mit der höher entwickelten Wirtschaft der anderen proletarischen Länder auch neue organisatorische und technische Möglichkeiten eröffnet: In diesem Falle wäre der Uebergang vom „Kriegskommunismus“ zum wirklichen Sozialismus zweifellos in kürzerer Zeit und ohne die Erschütterungen und Rückzüge erfolgt, die das isolierte proletarische Rußland in diesen 5 Jahren hat durchmachen müssen.
 

8. Der wirtschaftliche Rückzug – oder richtiger gesagt: der politische Rückzug an der Wirtschaftsfront – wurde ganz unvermeidlich, als es sich endgültig herausstellte, daß Sowjetrußland vor der Aufgabe steht, mit seinen eigenen organisatorischen und technischen Mitteln und Kräften seine Wirtschaft im Laufe einer mehr oder weniger langen Periode, die für die Vorbereitung des europäischen Proletariats zur Eroberung der Macht erforderlich ist, aufzubauen.

Die konterrevolutionären Ereignisse im Februar 1921 zeigten die völlige Unaufschiebbarkeit einer besseren Anpassung der Wirtschaftsmethoden der sozialistischen Aufbauarbeit an die Bedürfnisse der Bauernschaft. Die revolutionären Ereignisse im März 1921 in Deutschland zeigten die völlige Unaufschiebbarkeit eines politischen „Rückzugs“ im Sinne eines vorbereitenden Kampfes um die Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse. Diese beiden Rückzugsbewegungen, die der Zeit nach zusammenfallen, stehen, wie oben erwähnt, in engstem gegenseitigen Zusammenhang. Einen Rückzug bedeuten sie in dem bedingten Sinne, daß sich hier wie dort mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit herausstellte, eine gewisse Vorbereitungsperiode zu durchlaufen: einen neuen Wirtschaftskurs in Rußland, einen Kampf für Uebergangsforderungen und für die Einheitsfront im Westen.
 

9. Von den Methoden des Kriegskommunismus ging der Sowjetstaat zu den Methoden des Marktes über. Er ersetzte die Zwangserfassung der Ueberschüsse durch die Naturalsteuer und gewährte der Bauernschaft die Möglichkeit, die Ueberschüsse frei auf dem Markte zu verkaufen; er stellte den Geldverkehr wieder her und ergriff eine Reihe von Maßregeln zur Stabilisierung der Valuta; er führte in den Betrieben der Staatsindustrie die Grundlagen kommerzieller Berechnung wieder ein und stellte die Abhängigkeit des Arbeitslohnes von der Qualifikation und der Arbeitsleistung wieder her; er gab eine Anzahl kleiner und mittlerer Industriebetriebe an Privatunternehmer in Pacht. In der Wiederbelebung des Marktes, seiner Methoden und Einrichtungen besteht das Wesen der „neuen Wirtschaftspolitik“.

10. Nach fünfjährigem Bestehen der Sowjetrepublik kann deren Wirtschaft in groben Zügen folgendermaßen charakterisiert werden:

  1. Der gesamte Grund und Boden gehört dem Staat. Ungefähr 95% des Ackerlandes stehen zur wirtschaftlichen Verfügung der Bauernschaft, die dem Staate in der Form der Naturalsteuer im laufenden Jahr über 300 Millionen Pud Roggen einer Ernte zahlte, die etwa drei Viertel einer mittleren Vorkriegsernte ausmachte.
     
  2. Das gesamte Eisenbahnnetz (über 63.000 Werst) ist Staatseigentum. Bei über 800.000 Angestellten und Arbeitern leistet es gegenwärtig etwa ein Drittel der vor dem Kriege geleisteten Arbeit.
     
  3. Alle Industrieunternehmen gehören dem Staate. In den wichtigsten von ihnen (über 4.000 Betriebe), die ungefähr eine Million Arbeiter beschäftigen, führt der Staat die Wirtschaft auf eigene Rechnung. Etwa 4.000 Betriebe zweiten und dritten Ranges, die etwa 80.000 Arbeiter beschäftigen, sind in Pacht gegeben. In jedem Staatsbetrieb sind durchschnittlich 207 Arbeiter beschäftigt, in jedem verpachteten Betrieb durchschnittlich 17 Arbeiter. Aber von den verpachteten Betrieben befindet sich nur etwa die Hälfte in den Händen von Privatunternehmern; die andere Hälfte ist von einzelnen Staatsinstitutionen oder Genossenschaftsorganen gepachtet.
     
  4. Das Privatkapital bildet sich und operiert heute hauptsächlich auf dem Gebiet des Handels. Nach den noch lediglich approximativen und unzuverlässigen ersten Berechnungen entfallen auf dasselbe etwa 30% des gesamten Handelsumsatzes; die übrigen 70% bestehen aus den Summen der Staatsorgane und der mit dem Staate eng verknüpften Genossenschaften.
     
  5. Der Außenhandel, der im laufenden Jahr ein Viertel der Vorkriegseinfuhr und ein Zwanzigstel der Vorkriegsausfuhr betrug, ist vollkommen in den Händen des Staates konzentriert.
     

11. Die Methoden des Kriegskommunismus, d. h. die Methoden einer äußerst roh zentralisierten Registrierung und Verteilung, sind in der neuen Politik durch die Methoden des Marktes ersetzt worden: durch Kauf und Verkauf, durch kommerzielle Kalkulation, durch Konkurrenz. Aber auf diesem Markte tritt der Arbeiterstaat als mächtigster Eigentümer, Käufer und Verkäufer auf. Die überwältigende Mehrheit der Produktivkräfte der Industrie und der Mittel des Eisenbahnverkehrs ist unmittelbar in den Händen des Arbeiterstaates konzentriert. Die Tätigkeit der staatlichen Wirtschaftsorgane wird somit vom Markte kontrolliert und auch in bedeutendem Maße dirigiert. Durch die Konkurrenz und die kommerzielle Berechnung werden die einzelnen Unternehmungen daraufhin geprüft, ob ihr Betrieb lohnend ist. Die Verbindung des Ackerbaus mit der Industrie, des flachen Landes mit der Stadt wird durch die Vermittlung des Marktes hergestellt.
 

12. Insofern aber ein freier Markt besteht, bildet sich auf ihm unvermeidlich auch ein Privatkapital, das mit dem Staatskapital in Wettbewerb tritt, anfangs nur auf dem Gebiet des Handels, dann aber sucht es auch in die Sphäre der Industrie einzudringen. Der Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie wird abgelöst durch die Konkurrenz der proletarischen Industrie mit der bürgerlichen. Wie im Bürgerkriege zu einem bedeutenden Teil um die politische Gewinnung der Bauernschaft gekämpft wurde, so geht der Kampf auch jetzt hauptsächlich um die Herrschaft auf dem bäuerlichen Markt. Das Proletariat hat in diesem Kampf gewaltige Vorteile auf seiner Seite: die am höchsten entwickelten Produktivkräfte des Landes und die Staatsmacht. Die Bourgeoisie ihrerseits verfügt über die größere Geschicklichkeit und bis zu einem gewissen Grade über Beziehungen zum ausländischen Kapital, speziell zum Kapital der Emigration.
 

13. Die Steuerpolitik des Arbeiterstaates und die Vereinigung der Kreditanstalten in seiner Hand muß besonders hervorgehoben werden, als ein mächtiges Mittel zur Sicherung des Uebergewichtes der staatlichen, d. h. ihren Tendenzen nach sozialistischen Formen der Wirtschaft über die privatkapitalistischen. Die Steuerpolitik ermöglicht die Heranziehung immer größerer Teile privatkapitalistischer Einnahmen zur Staatswirtschaft, nicht nur auf landwirtschaftlichem Gebiet (Naturalsteuer!), sondern auch auf dem Gebiet des Handels und der Industrie. Somit wird auch das Privatkapital (die Konzessionen!) unter der proletarischen Diktatur zum Tributzahler der beginnenden sozialistischen Akkumulation.

Andererseits speist der in den Händen des Staates konzentrierte handelsindustrielle Kredit, wie die statistischen Daten für die letzten Monate beweisen, zu 75% die Staatsbetriebe, zu 20% die Genossenschaften und keinesfalls mehr als zu 5% die Privatbetriebe.
 

14. Die Behauptung der Sozialdemokraten, der Sowjetstaat habe vor dem Kapitalismus „kapituliert“, bildet daher eine offensichtliche und grobe Entstellung des wirklichen Sachverhalts. In Wahrheit hat die Sowjetregierung den Wirtschaftsweg beschritten, den sie zweifellos schon in den Jahren 1918 – 1919 gegangen wäre, wenn die unabweisbaren Erfordernisse des Bürgerkrieges sie nicht genötigt hätten, die Bourgeoisie auf einen Schlag zu enteignen, ihren Wirtschaftsapparat zu zerstören und ihn überdies durch den Apparat eines Kriegskommunismus zu ersetzen
 

15. Das wichtigste politische und wirtschaftliche Ergebnis der neuen Wirtschaftspolitik ist die wirkliche und dauernde Verständigung mit der Bauernschaft, die durch den Zutritt zum freien Markt einen Anstoß erhalten hat zur Erweiterung und Intensivierung ihrer Wirtschaft. Die Erfahrungen des letzten Jahres, insbesondere die Vermehrung der Wintersaat, geben alle Veranlassung, eine weitere systematische Hebung der Landwirtschaft zu erwarten. Dadurch wird nicht nur ein Nahrungsmittelfonds für die industrielle Entwicklung Rußlands geschaffen, sondern auch ein höchst wichtiger Warenfonds für den Außenhandel. Von nun an wird das russische Getreide in immer größeren Mengen auf dem europäischen Markt erscheinen. Die Bedeutung dieses Faktors für die sozialistische Umwälzung im Westen ist ohne weiteres einleuchtend.
 

16. Die Industriezweige, die unmittelbar für den Konsum und insbesondere für den Bauernmarkt arbeiten, haben schon im ersten Jahre der neuen Wirtschaftspolitik unzweifelhafte und sehr merkliche Fortschritte gemacht. Die Lage der Schwerindustrie ist allerdings noch immer äußerst schwierig, aber diese Rückständigkeit der Schwerindustrie, die restlos bedingt ist durch die Verhältnisse der letzten Jahre, findet ihre Erklärung auch in den Verhältnissen des Wiederaufbaus der Warenwirtschaft: erst die ersten Erfolge auf landwirtschaftlichem Gebiet und in der leichten Industrie können der Entwicklung des Maschinenbaus, der Metallbearbeitung und der Heizstoffgewinnung, die selbstverständlich des aufmerksamsten Verhaltens seitens des Staates sicher sind, einen wirklichen Anstoß geben. Der Staat wird seine Wirtschaft ausdehnen, ein immer größeres Umsatzkapital in seiner Hand konzentrieren und dann durch die staatliche („die ursprüngliche sozialistische“) Akkumulation auch das Grundkapital erneuern und vergrößern. Es liegt absolut kein Grund für die Annahme vor, daß die staatliche Akkumulation langsamer vor sich gehen werde, als die privatkapitalistische und das Privatkapital somit als Sieger aus dem Kampf hervorgehen werde.
 

17. Soweit es sich um ausländisches Kapital handelt (gemischte Gesellschaften, Konzessionen usw.), wird seine Rolle auf russischem Gebiet, unabhängig von seiner eigenen äußerst abwartenden und vorsichtigen Politik, durch die Erwägungen und Berechnungen des Arbeiterstaates bestimmt, der bei der Erteilung von industriellen Konzessionen und beim Abschluß von Handelsverträgen stets die Grenzen einhält, die eine Erschütterung der Grundlagen der Staatswirtschaft nicht zulassen. Das Außenhandelsmonopol ist in dieser Hinsicht ein außerordentlich wichtiges Unterpfand der sozialistischen Entwicklung.
 

18. Bei der Ueberführung seiner Wirtschaft auf die Grundlagen des Marktes verzichtet jedoch der Arbeiterstaat selbst für die nächste Periode nicht auf das Prinzip einer planmäßigen Wirtschaft. Schon der Umstand, daß das ganze Eisenbahnnetz und die überwältigende Mehrheit der Industriebetriebe auf Kosten des Staates ausgebeutet und von diesem finanziert wird, macht eine Kombinierung der zentralisierten Staatskontrolle über diese Unternehmungen mit der automatischen Kontrolle des Marktes unvermeidlich. Der Staat konzentriert seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Schwerindustrie und das Verkehrswesen als die Grundlagen der Wirtschaft und paßt seine finanzielle, fiskalische, Konzessions- und Zollpolitik in bedeutendem Maße ihren Bedürfnissen an. Der staatliche Wirtschaftsplan stellt sich unter den Verhältnissen der gegenwärtigen Periode nicht die utopistische Aufgabe, das elementare Wirken von Angebot und Nachfrage durch universelle Voraussicht zu ersetzen. Im Gegenteil: ausgehend vom Markt als der Grundform für die Verteilung der Wirtschaftsgüter und für die Regulierung ihrer Erzeugung ist der Wirtschaftsplan von heute darauf gerichtet, durch die Kombinierung steuerlicher, industrieller, kommerzieller und Kreditfaktoren den Staatsbetrieben die größtmögliche Vorherrschaft auf dem Markt zu sichern, die Wechselbeziehungen zwischen diesen Betrieben auf größtmögliche Vorausberechnung und Einheitlichkeit zu gründen und auf diese Weise, gestützt auf den Markt, zu seiner raschesten Ueberwindung beizutragen, vor allem auf dem Gebiete der Wechselbeziehungen zwischen den staatlichen Unternehmungen.
 

19. Die Einbeziehung der Bauernschaft in die planmäßige, staatliche, d. h. sozialistische Wirtschaft, stellt eine noch kompliziertere und langwierigere Aufgabe dar. Organisatorisch werden die Wege dazu vom staatlich kontrollierten und geleiteten Genossenschaftswesen gebahnt, das die wichtigsten Bedürfnisse des Bauern und seiner Wirtschaft befriedigt. Wirtschaftlich wird sich dieser Prozeß um so schneller vollziehen, eine je größere Menge von Erzeugnissen die Staatsindustrie dem Dorfe durch Vermittelung der Genossenschaften zuweisen kann. Aber seinen vollen Sieg in der Landwirtschaft kann das sozialistische Prinzip nur durch die Elektrifizierung der Landwirtschaft erzielen, die der barbarischen Zerrissenheit der bäuerlichen Produktion den rettenden Schlag versetzen wird. Der Elektrifizierungsplan bildet daher einen wichtigen Bestandteil des gesamten staatlichen Wirtschaftsplanes, und dieser Teil, der nach Maßgabe der Hebung der Produktivkräfte der Landwirtschaft stetig anwachsen wird, muß in Zukunft ein immer größeres Uebergewicht erlangen, bis er zur Grundlage des gesamten sozialistischen Wirtschaftsplanes überhaupt wird.
 

20. Die Organisierung der Wirtschaft besteht in der richtigen und zweckmäßigen Verteilung der Kräfte und Mittel auf die verschiedenen Zweige und Unternehmen und in der vernünftigen, d. h. sparsamen Verwendung dieser Kräfte und Mittel innerhalb eines jeden Unternehmens. Der Kapitalismus erreichte dieses Ziel durch Angebot und Nachfrage, Konkurrenz, Hochkonjunktur und Krise. Der Sozialismus wird dasselbe Ziel erreichen durch den bewußten Aufbau der nationalen und dann auch der Weltwirtschaft als einheitliches Ganzes nach einem allgemeinen Plan, der sowohl von den vorhandenen Produktionsmitteln, als auch von den vorhandenen Bedürfnissen ausgeht, allumfassend und gleichzeitig außerordentlich elastisch ist. Ein solcher Plan kann nicht a priori aufgestellt werden; bei seiner Ausarbeitung muß man von dem wirtschaftlichen Erbe ausgehen, daß dem Proletariat die Vergangenheit überläßt, und systematische Veränderungen und Umbauten vornehmen, die immer entschiedener und kühner werden müssen, je mehr die wirtschaftliche Erfahrung des Proletariats und die Vermehrung seiner technischen Kräfte steigt.
 

21. Es ist ganz klar, daß zwischen dem kapitalistischen Regime und dem vollendeten Sozialismus unvermeidlich eine lange Epoche liegen muß, in deren Verlauf das Proletariat unter Benutzung der Methoden und organisatorischen Formen des kapitalistischen Umsatzes (Geld, Börse, Banken, kommerzielle Kalkulation) sich in immer höherem Grade des Marktes bemächtigt, ihn zentralisiert und vereinheitlicht und dadurch schließlich den Markt beseitigt und durch einen zentralistischen Plan ersetzt, der sich aus der ganzen vorherigen Wirtschaftsentwicklung ergibt und die Vorbedingung für die weitere Wirtschaftsführung bildet. Auf diesem Wege befindet sich nun heute die Sowjetrepublik. Sie steht aber dem Ausgangspunkt unvergleichlich näher als dem Endziel. Nur der Umstand, daß der Sowjetstaat nach dem ihm durch die Verhältnisse aufgezwungenen Kriegskommunismus und infolge der Verzögerung der Revolution im Westen genötigt war, einen gewissen Rückzug anzutreten, der übrigens mehr formeller als materieller Art war, verschleiert das Bild und gibt den kleinbürgerlichen Gegnern des Arbeiterstaates Veranlassung, von einer Kapitulation vor dem Kapitalismus zu sprechen. In Wirklichkeit aber vollzieht sich die Entwicklung Sowjetrußlands nicht vom Sozialismus zum Kapitalismus, sondern von dem durch die Methoden des sogenannten Kriegskommunismus zeitweilig an die Wand gedrückten Kapitalismus zum Sozialismus.
 

22. Vollkommen unhaltbar und geschichtlich absurd ist die Behauptung, der Verfall der Produktivkräfte in Rußland sei ein Ergebnis der Irrationalität der sozialistischen oder kommunistischen Wirtschaftsmethoden. In Wirklichkeit war dieser Verfall vor allem ein Ergebnis des Krieges, im weiteren ein Ergebnis der Revolution in der erbitterten Form des langwährenden Bürgerkrieges, den sie in Rußland annahm. Die große französische Revolution, die die Voraussetzungen für die gewaltige kapitalistische Entwicklung Frankreichs und ganz Europas geschaffen hat, führte unmittelbar zu außerordentlichen Verwüstungen und zum Wirtschaftsverfall. 10 Jahre nach dem Beginn der großen Revolution war Frankreich ärmer als vor der Revolution. Der Umstand, daß die Industrie der Sowjetrepublik im letzten Jahre nicht mehr als ein Viertel der durchschnittlichen Vorkriegsproduktivität erzielt hat, zeugt nicht von der Unhaltbarkeit der sozialistischen Methoden, die ja noch gar nicht einmal zur Anwendung gelangen konnten, sondern von der Tiefe des wirtschaftlichen Zerfalls, der mit der Revolution als solcher unvermeidlich verknüpft ist. Doch solange überhaupt eine menschliche Klassengesellschaft besteht, wird sie unvermeidlich jeden großen Fortschritt mit Opfern an Menschen und Material bezahlen, mag es sich nun um den Uebergang von Feudalismus zum Kapitalismus oder um den unvergleichlich tiefer greifenden Uebergang von Kapitalismus zum Sozialismus handeln.
 

23. Aus Gesagtem ergibt sich von selbst die Antwort auf die Frage, in welchem Grade das, was in Rußland als neue Wirtschaftspolitik bezeichnet wird, ein notwendiges Stadium jeder proletarischen Revolution ist. In der neuen Wirtschaftspolitik müssen zwei Elemente unterschieden werden: a) das oben charakterisierte Moment des „Rückzuges“ und b) die Wirtschaftsführung des proletarischen Staates auf der Grundlage des Marktes und aller mit ihm verknüpften Methoden, Vorgänge und Einrichtungen.

  1. Was den „Rückzug“ betrifft, so kann er auch in anderen Ländern als Ergebnis rein politischer Ursachen eintreten, nämlich infolge der Notwendigkeit, in der Hitze des Bürgerkrieges dem Feinde eine bedeutend größere Anzahl von Betrieben abzunehmen, als das Proletariat wirtschaftlich zu organisieren vermag. Die sich hieraus ergebenden Teilrückzüge sind in keinem einzigen Lande ausgeschlossen, aber sie werden in den anderen Staaten schwerlich einen so tiefgehenden Charakter tragen, wie im agrarischen Rußland, wo sich überdies der eigentliche Bürgerkrieg erst nach der Machtentfaltung durch das Proletariat entfaltete. Man kann heute schon nicht mehr daran zweifeln, daß das Proletariat in der Mehrzahl der kapitalistischen Länder nur nach einem erbitterten hartnäckigen und andauernden Bürgerkrieg zur Macht gelangen wird, mit anderen Worten das Proletariat Europas wird die Hauptstreitkräfte des Feindes schon vor der Eroberung der Macht aufs Haupt schlagen müssen und nicht erst nach ihrer Eroberung. Unter allen Umständen wird aber der Widerstand der Bourgeoisie – der militärische, politische und wirtschaftliche – sich um so mehr abschwächen, je größer die Zahl der Länder sein wird, in denen die Macht an das Proletariat übergeht. Das bedeutet, daß der Moment der kriegerischen Eroberung der Industrie und der darauffolgende Moment des wirtschaftlichen Rückzuges in der übrigen Welt aller Wahrscheinlichkeit nach eine unvergleichlich geringere Rolle spielen wird, als in Rußland.
     
  2. Was die Ausnutzung der vom Kapitalismus geschaffenen Methoden und Einrichtungen zur Regulierung der Wirtschaft betrifft, so werden alle Arbeiterstaaten in diesem oder jenem Grade dieses Stadium auf dem Wege vom Kapitalismus zum Sozialismus durchlaufen müssen, mit anderen Worten, jede neue Arbeiterregierung wird nach der in diesem oder jenem Grade unvermeidlichen Zerstörung der kapitalistischen Wirtschaftsorgane während des Bürgerkrieges (der Börsen, Banken, Trusts, Syndikate) diese Organe wiederherstellen, die sich politisch unterordnen und nach ihrer organisatorischen Verknüpfung mit dem Gesamtmechanismus der proletarischen Diktatur, sich ihrer in schöpferischer Arbeit bemächtigen müssen, um mit ihrer Hilfe allmählich den Umbau der Wirtschaft auf sozialistischen Grundlagen zu vollziehen. Je größer die Zahl der Länder ist, in denen das Proletariat schon die Macht hat, je mächtiger das Proletariat ist, das in einem Lande die Macht ergreift, um so schwieriger wird die Abwanderung des Kapitals und sogar der Kapitalisten sein, um so schwächer wird der Boden für die Sabotage seitens der administrativen und technischen Intelligenz, um so geringer wird folglich auch die Zerstörung des materiellen und organisatorischen kapitalistischen Apparates, um so leichter seine Wiederherstellung sein.
     

24. Mit welcher Geschwindigkeit der Arbeiterstaat dieses Stadium durchläuft, in dem der entstehende Sozialismus noch unter kapitalistischer Hülle weiterläuft und sich entwickelt, – das wird, wie bereits ausgeführt, außer von der militärisch-politischen Lage auch von der organisatorischen und kulturellen Entwicklungshöhe der Arbeiterklasse und von der Entwicklungshöhe und dem Zustande der ihm zugefallenen Produktivkräfte abhängen. Je fortgeschrittener die Entwicklungshöhe dieser Faktoren ist, um so schneller wird offenbar der Arbeiterstaat den Uebergang zur sozialistischen Wirtschaft und darauf zum vollen Kommunismus verwirklichen.

 

L. Trotzki

* * *

Anmerkung

1. Diese Leitsätze bildeten die Grundlage des Berichtes, den ich auf dem 4. Kongreß der K. I. zur Frage über die Wirtschaftslage Sowjetrusslands und die Aussichten der Weltrevolution gegeben habe.

 

L. T.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019