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Leo TrotzkiMendelejew und der MarxismusRede anläßlich der Feier des 100. Geburtstages des Chemikers Dimitri Mendelejew, gehalten am 17.09.1921 |
Kopiert von der Webseite des Arbeitskreises „Marxistische Theorie und Politik“.
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Jede neue Gesellschaftsordnung eignet sich das kulturelle Erbe der Vergangenheit nur gemäß ihrer eigenen Struktur, nicht in seiner Totalität an. So enthielt das mittelalterliche Christentum viele Elemente der antiken Philosophie, die aber den Bedürfnissen der Feudalherrschaft untergeordnet und zur Scholastik, der Magd der Theologie, umgebildet wurden. Ähnlich hat die bürgerliche Gesellschaft unter anderem aus dem Mittelalter das Christentum geerbt, es aber entweder der Reformation oder der Gegenreformation unterworfen. Während der bürgerlichen Epoche wurde das Christentum so weit beiseitegeschoben, wie der wissenschaftlichen Forschung der Weg gebahnt werden mußte, wenigstens soweit das zur Entwicklung der Produktivkräfte nötig war.
Die sozialistische Gesellschaft erhält sich zu ihrem wissenschaftlichen und kulturellen Erbe im allgemeinen sehr viel weniger gleichgültig oder passiv. Je größer das Vertrauen der Sozialisten zu den Wissenschaften ist, die der unmittelbaren Erforschung der Natur dienen, um so größer ist ihr kritisches Mißtrauen gegenüber jenen Wissenschaften und Pseudowissenschaften, die eng mit der Struktur der menschlichen Gesellschaft, ihren wirtschaftlichen Einrichtungen, ihrem Staat und ihren Gesetzen, ihrer Ethik etc. verknüpft sind. Natürlich sind diese bei den Sphären nicht durch eine undurchdringliche Mauer voneinander geschieden. Aber es ist unbestreitbar, daß von den Wissenschaften, die sich nicht mit der menschlichen Gesellschaft, sondern mit der Materie befassen, von den Naturwissenschaften, also natürlich auch von der Chemie, mehr zu erben ist
Die Menschen müssen die Natur erkennen, weil sie sie sich unterwerfen. Auf diesem Gebiet werden alle Abweichungen von den durch die Eigenschaften der Materie selbst bestimmten objektiven Verhältnissen durch praktische Erfahrung korrigiert. Nur dadurch bleiben die Naturwissenschaften, besonders die chemische Forschung, von absichtlichen, unabsichtlichen, versehentlichen Entstellungen, Fehldeutungen und Verfälschungen frei. Die Sozialforschung hat sich jedoch vor allem um die Rechtfertigung der geschichtlich entstandenen Gesellschaft gekümmert, um sie vor den Angriffen „destruktiver Theorien“ zu schützen. Darum spielen die offiziellen Sozialwissenschaften der bürgerlichen Gesellschaft eine apologetische Rolle, und darum sind sie von geringem Wert.
Solange die Wissenschaft insgesamt die „Magd der Theologie“ blieb, konnte sie wertvolle Ergebnisse nur verstohlen hervorbringen. So war es im Mittelalter. Unter bürgerlicher Herrschaft boten sich dann den Naturwissenschaften gute Entwicklungsmöglichkeiten. Aber die Sozialwissenschaft blieb eine Magd des Kapitalismus. Das gilt in weitem Maße auch von der Psychologie, die Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften verknüpft, und von der Philosophie, die die allgemeinen Resultate aller Wissenschaften systematisiert. Ich sagte, daß die offizielle Sozialwissenschaft wenig Wertvolles hervorgebracht hat. Das wird schlagend deutlich an ihrer Unfähigkeit, den morgigen Tag vorauszusehen. Wir haben das hinsichtlich des ersten imperialistischen Weltkriegs und seiner Folgen beobachtet, dann neuerlich in bezug auf die Oktoberrevolution. Jetzt sehen wir die völlige Hilflosigkeit der offiziellen Sozialwissenschaft bei der Beurteilung der europäischen Lage, der Beziehungen zu Amerika und zur Sowjetunion, eine Unfähigkeit, überhaupt Folgerungen für die Zukunft zu ziehen. Der Sinn von Wissenschaft ist aber eben: zu wissen, um vorauszusehen. Die Naturwissenschaft – besonders die Chemie – ist unzweifelhaft der wertvollste Teil unseres Erbes. Ihr Kongreß steht unter dem Banner von Mendelejew, dem Stolz der russischen Wissenschaft.
In Bezug auf den Grad der Vorhersagbarkeit und Präzision unterscheiden sich die verschiedenen Wissenschaften. Aber nur mit Hilfe von Prognosen, seien es passive – wie in der Astronomie – oder solche, die unsere Aktivität mit einschließen – wie in der Chemie und ihren Anwendungsgebieten – kann die Wissenschaft ihre eigenen Ergebnisse verifizieren und ihren sozialen Zweck rechtfertigen. Der einzelne Wissenschaftler mag sich überhaupt nicht um die praktische Anwendung seiner Forschung kümmern. Je weiter sein Blick reicht, je kühner seine Phantasie ist, je freier er in seinen theoretischen Überlegungen von der notwendigen Alltagspraxis ist, desto besser. Aber die Wissenschaft ist keine Funktion individueller Wissenschaftler; sie ist eine Funktion der Gesellschaft. Die gesellschaftliche und geschichtliche Einschätzung der Wissenschaft hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Macht des Menschen zu steigern und ihn zu befähigen, Ereignisse vorauszusehen und die Natur zu beherrschen. Wissenschaft ist Wissen, das uns mit Macht ausstattet. Als Le Verrier aufgrund von Exzentrizitäten der Umlaufbahn des Merkur und des Uranus schloß, daß es einen unbekannten Himmelskörper geben müsse, der die Bewegung des Uranus störe, als er aufgrund rein mathematischer Berechnungen den deutschen Astronom Galle bat, einen Körper zu lokalisieren, der ohne Paß einem bestimmten Ziel am Himmel zusteuerte; und als Galle sein Teleskop entsprechend einstellte und den Neptun genannten Planeten entdeckte – in diesem Augenblick feierte Newtons Himmelsmechanik einen großen Sieg. Das geschah im Herbst 1846. Im Jahre 1848 fegte die Revolution wie ein Sturmwind durch Europa und demonstrierte ihren störenden Einfluß auf die Bewegung von Völkern und Staaten. In der Zwischenzeit, zwischen der Entdeckung des Neptun und der Revolution von 1848, schrieben zwei junge Gelehrte, Marx und Engels, das Kommunistische Manifest, in dem sie nicht nur die Unvermeidlichkeit revolutionärer Ereignisse in naher Zukunft vorhersagten, sondern im voraus die für sie bestimmenden Kräfte analysierten, die Logik ihrer Bewegung bis hin zum Sieg des Proletariats, zur Errichtung seiner Diktatur. Es wäre aufschlußreich, diese Prognose den Prophezeiungen der offiziellen Sozialwissenschaft der Hohenzollern, der Romanows, Louis Philippes und anderer aus dem Jahre 1848 gegenüberzustellen.
1869 stellte Mendelejew aufgrund seiner Erforschung der Atomgewichte und seiner Überlegungen dazu sein Periodisches System der Elemente auf. Mendelejew brachte mit dem Atomgewicht, dem stabileren Kriterium, eine Reihe von anderen Eigenschaften und Merkmalen in Verbindung, ordnete die Elemente in entsprechender Reihenfolge an und wies so eine „Unordnung“ nach, nämlich das Fehlen gewisser Elemente. Diese unbekannten Elemente oder chemischen Einheiten, wie Mendelejew sie einmal nannte, sollten gemäß der Logik seines Gesetzes die freien Stellen im System einnehmen. Mendelejew klopfte mit der Autorität und dem Selbstvertrauen des Forschers an eine der bis dahin verschlossen gebliebenen Türen der Natur, und aus dem Innern kam die Antwort: „Hier!“
Eigentlich antworteten gleichzeitig drei Stimmen, denn an den von Mendelejew aufgezeigten Stellen wurden drei neue Elemente entdeckt, die man später Gallium, Skandium und Germanium nannte. Ein wunderbarer Sieg des analytisch-synthetischen Denkens! In seinen Grundlagen der Chemie beschreibt Mendelejew anschaulich die wissenschaftlich-schöpferische Arbeit und vergleicht sie mit dem Bau einer Brücke über eine Schlucht. Zu diesem Zweck muß man nicht in die Schlucht hinabsteigen und auf ihrem Grunde Pfeiler errichten; man muß lediglich auf einer Seite ein Fundament errichten und dann einen genau entworfenen Bogen zur anderen Seite schlagen und dort befestigen. Entsprechend kann sich das wissenschaftliche Denken nur auf die Granitfundamente der Erfahrung stützen; aber seine begrifflichen Verallgemeinerungen schwingen sich gleich dem Brückenbogen hoch über die Welt der Fakten, um später, an einem im voraus berechneten Punkt, wieder mit ihr zusammenzutreffen. In dem Augenblick, in dem sich eine wissenschaftliche Verallgemeinerung in eine Voraussage verwandelt – die durch Erfahrung triumphal verifiziert wird –, ist das menschliche Denken befriedigt. So war es in der Chemie bei der Entdeckung neuer Elemente auf der Grundlage des Periodischen Systems.
Mendelejews Vorhersage, die auf Friedrich Engels großen Eindruck machte, erfolgte im Jahre 1871, das heißt in dem Jahr, in dem sich die große Tragödie der Pariser Kommune in Frankreich abspielte. Die Einstellung unseres großen Chemikers zu diesem Ereignis läßt sich an seiner allgemeinen Feindseligkeit gegen die „lateinischen Völker“, ihre Gewalttätigkeit und ihre Revolutionen ablesen. Wie alle offiziellen Denker der herrschenden Klasse, nicht nur in Rußland und Europa, sondern auf der ganzen Welt, fragte sich Mendelejew nicht: Was ist die wirkliche Triebkraft hinter der Pariser Kommune? Er sah nicht, daß die neue Klasse, die dem Schoß der alten Gesellschaft entwuchs, hier durch ihre Bewegung einen ebenso „störenden“ Einfluß auf die Bahn der alten Gesellschaft ausübte wie der unbekannte Planet auf die Bahn des Uranus. Aber ein deutscher Emigrant, Kar! Marx, analysierte zur selben Zeit die Ursachen und die innere Mechanik der Pariser Kommune, und das Licht seiner wissenschaftlichen Fackel erhellte später die Ereignisse unseres eigenen Oktober.
Seit langem müssen wir zur Erklärung chemischer Reaktionen nicht mehr auf eine mysteriöse Substanz, das „Phlogiston., zurückgreifen. Es verdeckte auch nur die Unwissenheit der Alchimisten. Auch auf dem Gebiet der Physiologie können wir seit langem schon ohne die mystische „Lebenskraft“ auskommen – das „Phlogiston“ der lebenden Materie. Im Prinzip verfügen wir jetzt über ausreichende physikalische und chemische Kenntnisse, um physiologische Phänomene zu erklären. Auf dem Gebiet der Bewußtseinsphänomene bedarf es nicht mehr einer „Seele“ genannten Substanz, die in der reaktionären Philosophie die Rolle des „Phlogistons“ bei psycho-physischen Phänomenen spielt. Die Psychologie gilt uns als letztlich auf Physiologie reduzierbar, diese wiederum als auf Chemie, Mechanik und Physik reduzierbar. Auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft ist aber die „Seelen“-Lehre viel dauerhafter als die „Phlogiston“-Theorie. Dieses „Phlogiston“ erscheint in verschiedenen Gestalten, einmal als „geschichtliche Mission“, dann wieder als unwandelbarer „Nationalcharakter“, oder es tritt als körperlose Idee des „Fortschritts“, mitunter auch als sogenanntes „kritisches Denken“ auf, und so weiter ad infinitum. In allen diesen Fällen geht es um die „Entdeckung“ einer übersozialen Substanz zur Erklärung gesellschaftlicher Erscheinungen. Natürlich sind diese idealen Substanzen nur raffinierte Verkleidungen der soziologischen Ignoranz. Der Marxismus hat die überhistorischen Wesenheiten verworfen, so wie die Physiologie die „Lebenskraft“ oder die Chemie das „Phlogiston“.
Das Wesen des Marxismus besteht darin, daß er die Gesellschaft zum Gegenstand objektiver Forschung macht und die menschliche Geschichte so analysiert, als gehe es um einen ungeheuren Bericht aus einem Laboratorium. Der Marxismus sieht in der Ideologie ein untergeordnetes, integrales Moment der materiellen Sozialstruktur. Er untersucht die Klassenstruktur der Gesellschaft als eine historisch bedingte Entwicklungsform der Produktivkräfte. Aus den gesellschaftlichen Produktivkräften leitet er die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur ab, die auf jeder geschichtlichen Stufe durch die Technologie, die Werkzeuge und Waffen, die Fähigkeiten und Methoden im Kampf mit der Natur bedingt sind. Gerade diese objektive Methode verleiht dem Marxismus die Kraft zur geschichtlichen Voraussicht.
Blicken wir auf die Geschichte des Marxismus – und sei es nur im nationalen Rahmen Rußlands –, und lassen wir uns dabei nicht von unseren eigenen politischen Sympathien oder Antipathien leiten, sondern von Mendelejews Definition der Wissenschaft: „Wissen, um voraussehen und handeln zu können.“ Der Anfang der Geschichte des Marxismus auf russischem Boden ist die Geschichte des Kampfes um eine richtige sozialhistorische Prognose – in Frontstellung gegen die Auffassungen der Regierung und ihrer offiziellen Opposition. Anfang der 1880er Jahre bestand die offizielle Ideologie aus der Dreifaltigkeit von Absolutismus, Orthodoxer Kirche und Nationalismus; der Liberalismus erging sich in Tagträumen von einem „Semstwo-Parlament“, also einer halbkonstitutionellen Monarchie, während die Narodniki schwächliche sozialistische Phantasien mit reaktionären ökonomischen Konzepten vereinten. Zu jener Zeit sagte der Marxismus nicht nur die unvermeidliche, progressive Entwicklung des Kapitalismus voraus, sondern auch das selbständige Auftreten des Proletariats als Führer im Kampf der Volksmassen, die proletarische Diktatur, gestützt von den Bauern. Der Unterschied zwischen der marxistischen Methode der Gesellschaftsanalyse und den Theorien, mit denen der Marxismus sich auseinandersetzte, ist nicht geringer als der zwischen Mendelejews Periodischem Gesetz und dessen späteren Modifikationen auf der einen Seite und dem Hokuspokus der Alchimisten auf der anderen.
Die „Ursache der chemischen Reaktion liegt in den physikalischen und mechanischen Eigenschaften der Mischung.“ Diese Formel Mendelejews ist eine ganz materialistische. Statt für die Erklärung der Phänomene zu einer übermechanischen und überphysikalischen Kraft Zuflucht zu nehmen, reduziert die Chemie die chemischen Prozesse auf die mechanischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente.
Biologie und Physiologie stehen zur Chemie in einem ähnlichen Verhältnis. Die wissenschaftliche, also materialistische Physiologie braucht keine besondere, überchemische „Lebenskraft“ (auf die sich Vitalisten und Neovitalisten berufen), um Erscheinungen auf ihrem Gebiet zu erklären. Physiologische Prozesse sind letzten Endes auf chemische reduzierbar, so wie die letzteren auf mechanische und physikalische Prozesse reduziert werden können.
Ähnlich steht es mit der Beziehung zwischen Psychologie und Physiologie. Nicht ohne Grund wird die Physiologie als angewandte Chemie lebender Organismen bezeichnet. So, wie es keine besondere physiologische Kraft gibt, so bedarf die wissenschaftliche, das heißt materialistische Psychologie keiner mystischen Kraft, keiner „Seele“, um Erscheinungen auf ihrem Gebiet zu erklären, die letzten Endes auf physiologische Phänomene reduzierbar sind. So gehen Pawlow. und seine Schule vor; sie verstehen unter „Seele“ ein komplexes System von bedingten Reflexen, die in den elementaren physiologischen Reflexen wurzeln; diese wiederum basieren, vermittelt durch die chemische Sphäre, auf Mechanik und Physik.
Dasselbe läßt sich von der Soziologie sagen. Um soziale Phänomene zu erklären, muß man keine ewige Quelle anführen oder in einer anderen Welt nach den Ursprüngen suchen. Die Gesellschaft ist ein Produkt der Evolution der primären Materie wie die Erdkruste oder die Amöbe. Das wissenschaftliche Denken dringt mit seinen Methoden wie ein Diamantbohrer durch die komplexen Phänomene der sozialen Ideologie bis zum Fundament der Materie, zu ihren Verbindungen, Atomen und zu deren physikalischen und mechanischen Eigenschaften vor.
Das heißt natürlich nicht, daß jedes chemische Phänomen direkt auf die Mechanik reduziert werden kann; noch weniger, daß jedes soziale Phänomen direkt auf Physiologie und dann auf chemische und mechanische Gesetze reduzierbar ist. Das ist vielleicht das letzte Ziel der Wissenschaft. Aber die Methoden der allmählichen und stetigen Annäherung an dieses Ziel sind ganz verschiedenartig. Die Chemie hat ihre besondere Verfahrensweisen, eigene Forschungsmethoden, eigene Gesetze. Kann es ohne die Erkenntnis, daß chemische Reaktionen letzten Endes auf mechanische Eigenschaften elementarer Partikel der Materie reduzierbar sind, keine vollendete Theorie geben, die alle Phänomene zu einem einzigen System verknüpft, so liefert andererseits die bloße Erkenntnis, daß chemische Phänomene in der Mechanik und Physik wurzeln, keinen Schlüssel zur Erklärung auch nur einer einzigen chemischen Reaktion. Die Chemie hat ihre eigenen Schlüssel. Nur aufgrund von Erfahrung und Verallgemeinerung, nur mittels des chemischen Laboratoriums, der chemischen Hypothese und Theorie kann man sich ihrer bemächtigen.
Das gilt für alle Wissenschaften. Die Chemie ist eine mächtige Säule der Physiologie, mit der sie durch die organische und physiologische Chemie unmittelbar verbunden ist. Aber die Chemie ist kein Ersatz für die Physiologie. Jede Wissenschaft beruht nur „in letzter Instanz“ auf den Gesetzen anderer Wissenschaften. Die Trennung der Wissenschaften voneinander – dadurch bedingt, daß jede Wissenschaft ein besonderes Feld von Erscheinungen abdeckt – ein Feld von solch komplexen Kombinationen elementarer Phänomene und Gesetze, daß ein besonderer Zugang, eine spezielle Forschungstechnik, besondere Hypothesen und Methoden erforderlich sind.
Das scheint in bezug auf Mathematik und Naturgeschichte unbestreitbar; so argumentierend, rennt man hier offene Türen ein. In der Sozialwissenschaft ist das anders. Hervorragend geschulte Naturwissenschaftler, die auf ihrem Gebiet, sagen wir auf dem der Physiologie, keinen Schritt ohne strenge experimentelle Tests, empirische Bestätigungen, hypothetische Verallgemeinerungen und neuerliche Bestätigungen usw. täten, gehen an soziale Phänomene mit der Kühnheit der Unwissenheit heran. Sie gehen stillschweigend davon aus, daß es auf diesem äußerst komplexen Gebiet genüge, sich lediglich von vagen Neigungen, Alltagsbeobachtungen, Familientraditionen und gängigen sozialen Vorurteilen leiten zu lassen.
Die menschliche Gesellschaft hat sich nicht nach einem im voraus arrangierten Plan oder System entwickelt, sondern empirisch, im Lauf eines langen, komplizierten und widersprüchlichen Kampfes der menschlichen Gattung um ihr überleben und – später – um die Steigerung der Naturbeherrschung. Die Ideologie der menschlichen Gesellschaft spiegelte diesen Prozeß wider und diente ihm – zögernd, ziellos und stückwerkartig, sozusagen in der Form bedingter sozialer Reflexe, die sich letzten Endes auf die Notwendigkeiten des Kampfes reduzieren lassen, den der Mensch gegen die Natur führt. Will man die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anhand von deren ideologischer Widerspiegelung, etwa anhand der sogenannten öffentlichen Meinung, bestimmen, so entspricht das etwa dem Versuch, die anatomische und physiologische Struktur einer Eidechse aus ihren Empfindungen beim In-der-Sonne-Liegen oder beim Hervorkriechen aus einer feuchten Felsspalte zu erschließen. Gewiß, es gibt eine unmittelbare Beziehung zwischen den Empfindungen einer Eidechse und deren organischer Struktur. Aber diese Beziehung muß mittels objektiver Methoden erforscht werden. Geht es aber um die Beurteilung von Strukturen und Dynamik der menschlichen Gesellschaft, so ist der Subjektivismus Trumpf: sie sollen aus dem sogenannten Bewußtsein der Gesellschaft, das heißt aus ihrer widersprüchlichen, unzusammenhängenden, konservativen, ungeprüften Ideologie erschlossen werden. Natürlich kann man nun gekränkt sein und den Einwand machen, daß eine gesellschaftliche Ideologie alles in allem auf höherem Niveau steht als die Empfindungen einer Eidechse. Aber das hängt ganz davon ab, wie man an diese Frage herangeht. Meiner Ansicht nach ist die These nicht paradox, man könne aus den Empfindungen einer Eidechse (könnte man sie in geeigneter Weise messen) sehr viel besser auf die Struktur und Funktion ihrer Organe schließen als aus ideologischen Reflexen – z.B. religiösen Doktrinen, die einen so hervorragenden Platz im Leben der menschlichen Gesellschaft einnahmen und noch immer einnehmen – auf die Struktur und Dynamik der Gesellschaft. Was eben für die religiösen Doktrinen gesagt wurde, gilt auch für die widersprüchlichen und heuchlerischen Gebote der offiziellen Moral oder für idealistische philosophische Konzeptionen, die, um komplexe organische Prozesse beim Menschen zu erklären, dafür eine nebelhafte und subtile Wesenheit, „Seele“ genannt, die als undurchdringlich und ewig seiend vorgestellt wird, verantwortlich machen wollen.
Mendelejews Reaktion auf Versuche zu einer Reorganisation der Gesellschaft war feindselig, ja, höhnisch. Er behauptete, solche Versuche seien seit unvordenklichen Zeiten fruchtlos geblieben. Statt dessen erwartete Mendelejew von den positiven Wissenschaften, vor allem von der Chemie, die alle Geheimnisse der Natur enthüllen werde, eine glücklichere Zukunft.
Es ist interessant, diesen Standpunkt dem unseres bemerkenswerten Physiologen Pawlow gegenüberzustellen, der der Meinung ist, daß Kriege und Revolutionen Zufall sind und der Unwissenheit der Menschen entspringen. Nur eine tiefere Kenntnis der „menschlichen Natur“ könne zur Abschaffung von Kriegen und Revolutionen führen. Darwin fällt in dieselbe Kategorie. Dieser hochbegabte Biologe zeigte, wie eine Anhäufung kleiner quantitativer Veränderungen eine völlig neue biologische „Qualität“ hervorbringt; daraus erklärte er die Entstehung der Arten. Ohne sich dessen bewußt zu sein, wandte er also die Methode des dialektischen Materialismus auf dem Gebiet des organischen Lebens an. Darwin wandte, philosophisch ungeschult, Hegels Gesetz vom Übergang der Quantität in Qualität in glänzender Weise an. Gleichzeitig versuchte derselbe Darwin – von den Darwinisten ganz zu schweigen –, in äußerst naiver und unwissenschaftlicher Weise biologische Gesetze auf die Gesellschaft anzuwenden. Die Konkurrenz als eine „Spielart“ des biologischen „Kampfes ums Dasein“ zu deuten, heißt soviel, wie in der Physiologie der Paarung nur die Mechanik zu sehen.
In jedem dieser Fälle sehen wir ein und denselben Grundfehler: Methoden und Resultate der Chemie oder Physiologie werden unbekümmert um Wissenschaftsgrenzen auf Soziologie und Gesellschaft übertragen. Ein Naturwissenschaftler würde kaum die Gesetze, die die Bewegung der Atome beherrschen, ohne Modifikation auf die Bewegung von Molekülen übertragen, die ja von anderen Gesetzen regiert werden. Aber viele Naturwissenschaftler verhalten sich zur Soziologie ganz anders. Die historisch bedingte Struktur der Gesellschaft wird von ihnen oft zugunsten anatomischer Strukturen, der physiologischen Struktur der Reflexe oder des biologischen Kampfes, ums Dasein außer acht gelassen. Natürlich ist das Leben der menschlichen Gesellschaft, verwoben mit materiellen Bedingungen und umgeben von chemischen Prozessen, letzten Endes selbst eine Kombination chemischer Prozesse. Auch besteht die Gesellschaft aus Menschen, deren psychologischer Mechanismus auf ein System von Reflexen reduzierbar ist. Aber der gesellschaftliche Lebensprozeß ist weder ein chemischer noch ein physiologischer, sondern ein sozialer Prozeß, der spezifischen Gesetzen folgt. Um sie zu finden, bedarf es einer objektiven soziologischen Analyse. Ihr Ziel ist es, das Schicksal der Gesellschaft vorauszusehen und zu meistern ...
Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008