Leo Trotzki

Zur Organisation der Roten Armee

Rede auf dem IX. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands. Moskau, April 1920


Kopiert von der Webseite „Marxistische Bibliothek“
H. Bergmann - J. Smilga - L. Trotzki: Die russische sozialistische Rote Armee, Zürich 1920, S. 85 - 92
HTML-Markierung und Modernisierung der Rechtschreibung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Genossen!

Unter jedem Regime weist das Heer dessen Grundzüge auf und bringt sie in der schärfsten Form zum Ausdruck. Das Räteheer spiegelt die Übergangseigentümlichkeiten unseres Räteregimes wider. Die Räte-Armee tritt gegenwärtig in eine neue Periode ein, in der die Hauptkräfte, die ganze Aufmerksamkeit der wirtschaftlichen Front zugewendet werden. Gleichzeitig müssen auch an der Roten Armee Änderungen vorgenommen werden, um sie der neuen Periode in der Entwicklung der Räterepublik besser anzupassen. Wenn ein Land an allen Fronten einen alle Kräfte anspannenden Krieg führt, wenn die militärischen Kräfte des Landes bewaffnet im Norden, Süden, Westen und Osten stehen, so verschwindet natürlich der prinzipielle und organisatorische Unterschied zwischen dem regulären, ständigen Heer und der Milizarmee; denn die Milizform kennzeichnet eine besondere Form der Erfassung, der Mobilisation, der Formierung. Von dem Augenblick an jedoch, wo die Truppen in den Kampf geworfen werden, verlieren sie ihre prinzipiellen, kennzeichnenden organisatorischen Züge. In diesem Zeitabschnitt konnte natürlich von der Schaffung eines richtigen Milizsystems keine Rede sein. Sie wies in dieser Periode die embryonale Form der Organisation einer allgemeinen militärischen Ausbildung aus. Welche Grundursachen rufen gegenwärtig die Aufgabe hervor, zum Milizsystem überzugehen?

Die Losung der Miliz, das Milizprogramm wurde auch von Vertretern der bürgerlichen Demokratie geteilt. Die Milizidee bestand in der Aussöhnung aller Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, in der Bildung einer einheitlichen Front in Bezug auf das Land. Dieser demokratische Standpunkt steht angeblich über den Klassen. Auch im Sozialismus tauchte er als Ergebnis der Zweiten Internationale auf. Nimmt man eines der glänzendsten Werke über das Milizsystem, das Buch von Jean Jaurès zur Hand, so findet man auch dort alle Vorurteile der kleinbürgerlichen Demokratie. Jaurès hoffte, dass die Milizreform der Armee im Rahmen der demokratischen Republik alle mobilisierten Bürger allmählich durchdringen., umfärben und sozialisieren würde. Auch Bebel hat in seiner Broschüre über die Miliz in hohem Maße die demokratischen, d. h. im Grunde genommen kleinbürgerlichen Illusionen, in der Frage bezüglich der Organisation des Heeres vertreten. Erst der imperialistische Krieg und die darauf folgende Revolution sowie unser Aufbau der Roten Armee, erst diese gewaltigen Ereignisse haben gezeigt, dass die Form der Armee ihr Klassenwesen nicht bestimmt. Das Heer kann organisatorisch ein Kasernenheer, kann auch ein Milizheer sein, es spiegelt jedoch immer die Züge, Bedürfnisse, Interessen der in dem betreffenden Augenblick in dem betreffenden Lande herrschenden Klasse wider. Wir haben daher diese Illusion der kleinbürgerlichen Demokratie vollkommen abgelehnt.

Die zweite Erwägung, die zugunsten des Milizsystems vorgebracht wurde und wird, geht dahin, dass dieses System der Landesverteidigung billiger sei. In dieser nackten Form ist auch das nicht richtig, im Gegenteil, betrachtet man die Milizform der Organisation des Landesschutzes mit allen erforderlichen Hilfsbehörden und Institutionen, so erkennt man, dass die Miliz unter keinen Umständen billiger sein wird, als ein ständiges reguläres Heer. Eine gut organisierte Miliz wird schon allein deshalb teurer sein, weil sie ungleich größere Massen erfasst. Der ganze Grund ist darin zu suchen - und dies ist die erste grundlegende Erwägung, dass die Miliz die gesamte wehrfähige Bevölkerung erfasst und durch die Entwicklung allen Ländern vorgeschrieben wird. Dies ist in dem letzten imperialistischen Kriege zutage getreten, der erwiesen hat, dass die jetzigen Staaten, bevor sie kapitulierten, gezwungen und fähig waren, immer neue und neue Jahrgänge heranzuziehen, immer neue und neue Schichten der Bevölkerung in die Arena des blutigen Kampfes zu stoßen. Auf diese Weise sind während des imperialistischen Krieges tatsächlich alle Länder zum Milizsystem gelangt.

Ich nenne hier die Zahlen über die Heeresstarke vor und während des Krieges, Zahlen, die das Gesagte veranschaulichen: Russland hatte bei Ausbruch des Krieges ein Heer von 1.320.000 Mann, auf den Kriegsschauplätzen - 7 Millionen Mann. Frankreich besaß im Frieden ein Heer von 630.000 Mann, im Kriege - 4.500.000 Mann. In Deutschland betrug die Heeresstärke vor dem Kriege 760.000 Mann, im Kriege - 5.500.000 Mann. Österreich-Ungarn 390.000 bzw. 3.500.000 Mann, die Vereinigten Staaten von Nordamerika 250.000 bzw. 1.800.000 Mann.

Somit hatte sich die Zahl der Soldaten während des Krieges gegenüber der Friedenszeit um 5-7-9 Mal vermehrt. Alle Länder sahen sich genötigt, zu ihren regulären Armeen die weitesten Reserven, d. h. die breiten Volksmassen heranzuziehen. Keine der Regierungen war hierzu vorbereitet. Wir haben 13 Jahrgänge mobilisiert, teilweise auch den 14. und 15. Jahrgang. Dies zeigt, dass es für uns durchaus möglich ist, zum Milizsystem überzugehen. Ich habe gesagt, dass es falsch wäre, zu glauben, dass die Kosten dieser Miliz nicht so hoch sein würden. Das Wesen der Frage liegt jedoch nicht so sehr in den Kosten, die das Land für die bewaffnete Verteidigung zu tragen hat, als in der Ersparnis an lebendiger Arbeitskraft. Dies ist der Kern der Frage.

Um eine Armee zu besitzen, muss produziert werden, um produzieren zu können, muss auf den Fabriken, Werken und den Feldern die Blüte der Arbeitskraft erhalten bleiben. Dies ist es, weshalb das ständige Heer als solches den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes widerspricht. Die Miliz hat den grundlegenden Vorzug vor dem ständigen Heere, dass sie Landesschutz und Arbeit, die Arbeiterklasse und die Armee nicht voneinander trennt. Dies ist das Wesentliche, und hierin liegt der wirtschaftliche Vorteil des Milizsystems.

Ich habe gesagt, dass die Grundlage der Miliz in der Vereinigung von Landesverteidigung und Arbeit zu suchen ist. Da unsere Arbeit in erster Linie durch Vermittlung der qualifizierten Arbeiter, der gelernten und organisierten Arbeiter, organisiert wird, so muss die Klasse der Industriearbeiter das Rückgrat des Milizheeres bilden. Sie bildet den Ausgangspunkt und das ist der Grund, weshalb die Gewerkschaften in Zukunft bei der Organisation des Heeres zweifellos eine große Rolle spielen werden

Wenn wir von der Militarisierung der Arbeit sprechen, so müssen wir uns, wie ich dies gleich darlegen werde, etwas anderes, die Industrialisierung des Heeres, zur Aufgabe setzen. Das Milizheer ist seinem Wesen nach ein Landheer, d.h. eine Armee, deren Truppenteile an bestimmte Bezirke des Landes gebunden, bestimmten Kreisen zugeteilt sind. Die ganze Frage läuft auf die Frage dieser Verwaltungsbezirke hinaus. Wir können auf der Grundlage der jetzigen Verwaltungsbezirke kein geregeltes und lebensfähiges Milizsystem aufbauen. Wir müssen einen Umbau dieser Bezirke vornehmen, d.h. unser Land in Gaue nach wirtschaftlichen Kennzeichen unterteilen. Gegenwärtig ist dieser richtige Weg auch vorgesehen: Zerlegung des Landes in Gaue durch Schaffung von wirtschaftlichen Gauorganen. Bei der Umgestaltung der Gouvernements und Kreise muss dies mit der Maßgabe geschehen, dass im Mittelpunkt eines jeden Gaues sich industrielle Keime befinden. In dem Maße, wie diese wichtigste Verwaltungsform zur Verwirklichung gelangen wird, wird unser Milizsystem immer festeren Boden und eine zuverlässige Grundlage unter den Füßen finden: denn in jedem Bezirk werden das Industrieproletariat und jene Elemente des Bauerntums, die zu unserer Partei kommen, das Rückgrat der Milizarmee bilden.

Beim Übergang von der jetzigen Übergangsarmee zum Milizheer taucht die Frage auf: was dann, wenn das Land plötzlich an einer unserer Fronten überfallen wird und eine schwere Niederlage erleidet? Fraglos ist die Übergangszeit die kritischste. Man darf sich jedoch die Dinge nicht so vorstellen, als würde die alte, die jetzige Rote Armee erst demobilisiert, bevor wir an die Bildung des Milizheeres herantreten. Diese beiden Prozesse werden parallel vor sich gehen. Der leitende Grundgedanke bei der praktischen Durchführung des Milizsystems ist, dass unsere Republik nicht für einen Tag, nicht für eine Stunde in Bezug auf den Landesschutz geschwächt werden darf. Dies ist die grundlegende Erwägung, der sich das Tempo des Übergangs von der jetzigen Armee zum Milizheer vollständig unterzuordnen hat. An die Spitze der Eckpfeiler der Milizverbände, der Divisionen, muss die Arbeiterklasse gestellt werden.

Zu der Frage der politischen Abteilungen beim Milizheer übergehend, führt der Genosse Trotzki aus, dass die Produktivorganisationen wie Werke, Fabriken usw., von vornherein den Kern der zu bildenden Divisionen des Milizheeres darstellen sollen. Es ist klar, dass die Gruppe klassenbewusster Arbeiter von selbst die kommunistischen Keimzellen der in Bildung begriffenen Armee zuführen wird. Eine ganze Reihe der besten Vertreter der Arbeiterklasse sind bei uns in den Gewerkschaften, Betriebsräten usw. konzentriert und es wird die Aufgabe unserer Kerntruppen sein, in engste Fühlung mit diesen Organisationen zu kommen.

Nur bei einem solchen Aufbau der Armee wird unser Land imstande sein, gleichzeitig die Aufgaben der wirtschaftlichen Erneuerung und der Erhaltung ihrer Kampffähigkeit zu lösen. Die erste Aufgabe besteht gegenwärtig darin, die ganze Grundlage für die Volksverteidigung, die Verteidigung selbst in der Organisation der Arbeit aufzulösen, sie mit ihr zu verschmelzen.


Von einer Diskussion wird nach Entgegennahme des Referats Abstand genommen. Es wird über eine vom Genossen Trotzki in Vorschlag gebrachte Resolution abgestimmt, die einstimmig zur Annahme gelangt. Sie lautet:

1. Da der Bürgerkrieg sich dem Ende nähert und die internationale Lage Sowjetrusslands sich in günstigem Sinne geändert hat, wird die Frage einer radikalen Änderung unseres Militärwesens entsprechend den dringenden wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen des Landes akut.

2. Andererseits ist es notwendig, festzustellen, dass die sozialistische Republik sich unter keinen Umständen außer Gefahr wähnen darf, so lange in den wichtigsten Weltstaaten die imperialistische Bourgeoisie am Ruder bleibt.

Der weitere Gang der Ereignisse kann die Imperialisten, die den Boden erneut unter ihren Füßen schwinden sehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt erneut veranlassen, den Weg blutiger, gegen Sowjetrussland gerichteter Abenteuer zu beschreiten.

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die militärische Verteidigung der Revolution auf der nötigen Höhe zu erhalten.

3. Der jetzigen Übergangszeit, die von langer Dauer sein kann, muss eine solche Organisation der militärischen Kräfte entsprechen, die den Werktätigen die erforderliche militärische Ausbildung gibt bei einem Mindestmaß von Ablenkung von der Verrichtung produktiver Arbeit. Ein solches System kann nur die auf territorialer Grundlage aufgebaute Rote Arbeiter- und Bauernmiliz sein.

4. Das Wesen des Milizsystems der Räterepublik muss darin bestehen, das Heer mit allen Mitteln dem Produktionsprozess näher zu bringen, so dass die lebendige menschliche Kraft bestimmter Wirtschaftsgebiete gleichzeitig die lebendige menschliche Kraft bestimmter Truppenteile bildet.

5. In ihrer territorialen Verteilurig müssen die Miliztruppen (Regimenter, Brigaden, Divisionen) der territorialen Verteilung der Industrie angepasst sein, so dass die industriellen Zentralen mit den zugehörigen und zu ihnen hinneigenden landwirtschaftlichen Gebieten des Umkreises die Grundlage der Milizverbände bilden.

6. Organisatorisch die Arbeiter- und Bauernmiliz sich auf in militärischer, technischer und politischer Beziehung völlig durchgebildete Kerntruppen stützen, die die bei ihnen in Ausbildung begriffenen Arbeiter und Bauern ständig in Listen führen und jederzeit die Möglichkeit haben, sie aus ihrem Milizbezirk herauszuholen, sie durch ihren Apparat zu erfassen, zu bewaffnen und in den Kampf zu führen.

7. Der Übergang zum Milizsystem muss den Charakter des notwendigen allmählichen Übergangs haben, entsprechend der militärischen und international-diplomatischen Lage der Räterepublik, unter der unbedingten Voraussetzung, dass die Verteidigungskraft der Republik jederzeit auf der erforderlichen Höhe bleibt.

8. Bei der allmählichen Demobilisierung der Roten Armee müssen deren beste Kerntruppen die zweckmäßigste, d. h. eine den örtlichen Produktionsverhältnissen und Sitten am besten angepasste Verteilung im Bereiche des Landes finden und somit einen fertigen Verwaltungsapparat für die Miliztruppen sichern.

9. Der Personalbestand der Milizkerntruppen muss sodann allmählich erneuert werden im Sinne einer innigen Verbindung mit dem Wirtschaftsleben des betreffenden Gebiets und zwar so, dass die Kommandostellen bei der dort liegenden Division, die zum Beispiel eine Gruppe von Hüttenwerken mit den im Umkreis liegenden Dörfern umfasst, mit den besten Elementen des örtlichen Proletariats besetzt werden.

10. Zum Zwecke der bezeichneten Erneuerung der Kerntruppen müssen die Kurse für die Kommandostellen entsprechend den Wirtschafts- und Milizbezirken auf das Reich verteilt werden, wobei die besten Vertreter der örtlichen Arbeiter und Bauern diese Kurse besuchen müssen.

11. Die militärische Ausbildung nach den Grundsätzen des Milizsystems, die einen hohen Kampfeswert der Milizarmee gewährleisten soll, wird sich zusammensetzen aus:

  1. einer in die Zeit vor die Einberufung entfallenden Ausbildung, auf welchem Gebiet die Militärbehörde Hand in Hand mit der Behörde für Volksbildung, den Gewerkschaften, Parteiorganisationen, Jugendvereinigungen, Sportverbänden u.a.m. tätig ist,
  2. der militärischen Ausbildung der Bürger in militärpflichtigem Alter, bei ständiger Abkürzung der Ausbildungsdauer und immer größerer Umwandlung der Kasernen in militärischpolitische Schulen.
  3. kurzbemessenen Übungen, deren Zweck die Prüfung der Kampffähigkeit der Miliztruppen ist.

12. Die für die Aufgaben der militärischen Verteidigung des Landes bestimmte Organisation der Milizkerntruppen muss in erforderlichem Maße dem Prinzip der Arbeitspflicht angepasst sein, d.h. sie muss imstande sein, Arbeitsverbände zu bilden und sie mit dem nötigen Instruktionsapparat zu versehen.

13. Die Miliz, deren Entwicklung dahin geht, zum bewaffneten kommunistischen Volk zu werden, muss in dem gegenwärtigen Zeitpunkt in ihrer Organisation alle Merkmale einer Diktatur der Arbeiterklasse beinhalten.


22.7.2008