Leo Trotzki

 

Gart, Warum hat Russland
zu wanken begonnen?

(August 1911)


Aus: Die Neue Zeit, 29. Jahrgang, 2. Band, Nr. 44 (4. August 1911), S. 643–645.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Gart,
Warum hat Russland zu wanken begonnen?
St. Petersburg. 230 Seiten. Preis 1,25 Rubel (In russischer Sprache.)

Dieses Buch stellt das interessante Werk eines nachdenklich gewordenen Oktobristen dar. Der Autor war ein bedeutender Schriftsteller jener Partei, die durch den Staatsstreich vom 3. (17.) Juni 1907 die führende Stellung in der Duma gewonnen hatte. Aber noch ehe die Regierung Stolypin die Richtungslinie ihrer Politik entschieden, und ohne Umstände von der großkapitalistischen Oktobristenpartei weg- und der Partei der feudal-bürokratischen „Nationalisten“ zugewendet hatte, begannen Herrn Gart Zweifel über das Schicksal Russlands aufzusteigen. Er fing an, die klare Überzeugung zu gewinnen, dass Russland „zu wanken begonnen“ habe. Unter der Devise der Ordnung und einer starken Staatsgewalt ging in Wirklichkeit der allmähliche Zerfall der Grundstützen des Staates vor sich. Plünderung der Staatsgüter, bürokratische Räubereien, Willkür, die gar keine Grenzen kennen, haben in diesen „Beruhigungs“jahren die Verwaltungsmaschine von oben bis unten und von der Peripherie bis in ihr Innerstes zerfressen. In den besitzenden Klassen, in der Intelligenz, in der Armee, im Volke, im gesellschaftlichen Leben wie in der Literatur – überall sieht der Autor die bedrohliche moralische Fäulnis. Wo sind nun die Ursachen? fragt er sich. Und er findet sie darin, dass die Krise der Jahre 1904 bis 1905 für Russland.

„nicht nur eine Krise der politischen Form gewesen war, sondern vor allem eine Krise jener jahrhundertealten staatlichen und Lebensmoral mittelst welcher Russland wuchs, feststand und aufblühte, sich aufrechterhielt und – zusammensank ... nach dieser schicksalsschweren Krise ist weder in den niederen Gesellschaftsschichten, noch in den mittleren und höchsten bis jetzt eine neue Moral erstanden ...“ (S. 16).

Das alte Russland hat zu seinem größten Teile, in seinen Volksschichten durch die „heteronome“ Moral, das heißt die unpersönliche, die nicht individualisierte, durch die Bienenmoral gelebt, durch eben jene Moral, welche Tolstoi in der idealisierten Gestalt des Bauern Karatajew (Krieg und Frieden) verkörpert hat. Von dieser, barbarischen Moral, welche zu gleicher Zeit ihren Ausdruck fand im Gemeindebesitz, in der Leibeigenschaft, im zarischen Despotismus und in dem automatenhaften Zeremoniell der Kirche, spricht Herr Gart in dem Tone innigen Bedauerns, wie man von verlorener Unschuld spricht. Aber er, der gestern noch der Wortführer der Partei des Großkapitals war, er kann nicht umhin zu begreifen, dass wir für immerdar aus dem Paradies der Urzeit vertrieben worden sind. Der Westen war unsere Schlange der Versuchung. Und die russische Intelligenz war der Gedankenüberträger dieser Versuchungen. Unter der Fahne der „Autonomie“, das heißt der Freiheit und des Glückes der menschlichen Persönlichkeit, hat sie einen unversöhnlichen Kampf eröffnet gegen die alte mystische Heteronomie, welche es erlaubte, dass auf den Knochen von Millionen „Persönlichkeiten“, die sich ihrer selbst nicht bewusst geworden waren, die Cheopspyramide der Tyrannei aufgebaut wurde, Aber absolut autonom im Prinzip, war die Intelligenz in Wirklichkeit sittlich diszipliniert durch die Disziplin ihres kulturrevolutionären Aposteltums. Gart gibt zu, dass die sittliche „Autonomie“ der Intelligenz das direkte Gegenteil von sittlicher Zügellosigkeit war. Ja, nach der Meinung Garts hat die Intelligenz sogar den besitzenden Klassen und der Bürokratie die Zügel der Scham angelegt, indem sie deren Begierden zurückhielt und einschränkte. Durch diesen psychologischen Kitt wurde das alte Russland eben zusammengehalten, durch die mystische Heteronomie des Volkes und durch die revolutionäre Autonomie der Intelligenz. Aber das ging nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Schon die „Bauernbefreiung“ vorn 19. Februar 1861, deren fünfzigjähriges Jubiläum vor kurzem vom offiziellen Russland gefeiert wurde, hatte der alten knechtischen Karatajewwahrheit einen irreparablen Schlag versetzt. Die kritische Zeit 1861 bis 1905 hat den heteronomen Asiatismus endgültig untergraben. Das Volk hat das Joch aller alten „sittlichen“ Beschränkungen abgeworfen und hat sich unter der Führung der Intelligenz auf soziale Eroberungen und Besitzergreifungen gestürzt. Die besitzenden Klassen scharten sich um den Zarismus und die Revolution wurde unterdrückt.

„Zugleich mit der Intelligenzler(!)revolution war auch die jahrhundertealte Intelligenzlermoral zu Ende und früher schon hatte die Moral des Volkes zu existieren aufgehört – und Russland war nun mit einem Male eine Unmöglichkeit geworden“ (S. 149).

Unerhörte Räubereien in der Intendantur und in den Stadtverwaltungen nahmen ihren Anfang, in der Armee ist der innere Zusammenhang verloren gegangen, auf dem Lande herrscht der Hooligan, die Intelligenz hat dem Asketentum den Rücken gekehrt und ergibt sich dem ungezügelten Genusse. Worin liegt nun – nach Garts Meinung – die Wurzel alles Übels? Kurz gefasst darin, dass die Intelligenz, die sich gegen den äußeren Gendarmen erhob, es nicht verstanden hat, dem Volke einen inneren Gendarmen einzuimpfen.

„Während die Intelligenz eine Konstitution für Russland erstrebte,“ sagt der Autor, „hätte sie den kategorischen Imperativ nicht verschweigen, sondern die Bewusstwerdung desselben im Volke und in der Gesellschaft fördern sollen“ (S. 133).

In eben dieser Korrektur sucht Gart auch jetzt die Rettung. Eine innere Disziplin ist nötig, zu erreichen ist sie dadurch, dass der harte deutsche kategorische Imperativ der weiten russischen Seele angepasst wird. Kurz, wir brauchen einen – „slawischen Kant“.

Dass die Bauern, welche die Gutsbesitzer mit Hilfe des roten Hahnes von den Höfen gejagt, dass die Arbeiter, welche den Eisenbahnverkehr manchmal mittelst der blanken Waffe unterbrachen, dass die Matrosen, welche ihre Offiziere mit Stricken fesselten und die rote Flagge hissten – dass alle diese nicht immer erst nach dem kategorischen Imperativ fragten, das ist wahr. Aber das lässt sich ja nicht mehr wieder gutmachen. Man muss jedoch an der rettenden Mission des „slawischen Kant“ auch für die Zukunft zweifeln. Es ist unzweifelhaft, dass die Volksmassen, und eben nicht nur die bäuerlichen, sondern auch die proletarischen, welche durch die, Revolution aus dem Idiotismus der „Heteronomie“ herausgerissen worden sind, bei weitem noch kein „neues Bewusstsein“ herausgearbeitet haben. Indem die Konterrevolution diese Herausarbeitung mit allen Mitteln hemmt, bringt sie den Prozess der sittlichen Fäulnis hervor, der Gart so sehr schreckt. Die Gestaltung eines neuen Bewusstseins geht jedoch unaufhaltsam vor sich und, natürlich nicht im Zeichen eines in seiner allgemein-verpflichtenden Natur ganz gegenstandslosen kategorischen Imperativs, sondern in den realen Bahnen des unversöhnlichen Klassenkampfes. Und darum trauen die Oktobristen vernünftigerweise dem inneren Gendarmen nicht und sprechen dem äußeren ihr Vertrauensvotum aus. Und darum passte ihrem Sprecher, Herrn Gart, sobald er zu philosophieren begann, ihr Weg nicht mehr, er ist für einen „slawischen Kant“, sie sind für Stolypin.


Zuletzt aktualiziert am 25. November 2023