MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki
Aus: Der Kampf, Jg. 4 9. Heft, 1. Juni 1911, S. 407–413.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Es gibt Gesetze, die viel mächtiger sind als die Gesetze Stolypins und seiner Duma: die Gesetze der Geschichte.
Schon schien die Reaktion des Polizeistaates ihrem Endziele ganz nahe! Alles war ausgelöscht, erdrückt, zertreten – man konnte glauben, dass die fluchwürdigen Zeiten eines Alexander III. ihre Rückkehr in das Land feierten. Aber unter der herrschenden Totenstille verbarg sich das Leben und unsichtbar vollzog es sein Wiedererwachen. Die allerschwersten Wunden verharschten. Der panische Schrecken legte sich. Die Erfahrung, die die Revolution gebracht hatte, wurde vom Bewusstsein verarbeitet. Ein neues Geschlecht war reif geworden und erstarkt. Und nun, als die Sieger endgültig feststellten, dass sie in dem verödeten und entehrten Lande alles tun durften: den Namen und das Andenken Tolstois verhöhnen, die wehrlosen und gefangenen Feinde in den Gefängnissen foltern, alles besudeln, was dem Herzen des Volkes teuer und heilig ist – eben jetzt ertönte über ihren Köpfen der erste, noch ferne und schwache, aber doch drohende Frühlingsdonnerschlag ...
Zuerst starb Tolstoi in ganz Russland beunruhigender Weise. Dann machte der Terrorist Fedor Sasonow, Plehwes Mörder, auf noch aufregendere Art seinem Leben in der Katorga ein Ende. Die Studenten rissen ein nicht mehr zu verhüllendes Loch in die Legende der „Beruhigung“. Der Reichsrat wurde dem Diktator ungehorsam, die Reichsduma trat auf die Seite des Reichsrates. Der Oktobrist Gutschkow legte demonstrativ sein Amt als Vorsitzender der Duma nieder. Und Stolypin blieb zwar auf seinem Posten, niemand rechnet aber mit der Dauer seiner staatsmännischen Wirksamkeit. vVoher das alles? Die Studentenunruhen für Russland gaben seit jeher den unmittelbaren Anstoss, den ganzen Bau ins Wanken zu bringen. Der Studentenstreik hat in unerwartet hohem Grade die Regierung blossgestellt, hat den Glauben an ihre Unbesiegbarkeit zerstört, ihre Autorität zunichte gemacht. So gross ist die Macht der revolutionären Tatsache, dass sogar die Liberalen, die alles getan haben, was in ihren Kräften stand, um den Streik zu schwächen, doch unter seinem Einfluss anfingen, sich in der Duma und in ihrer Presse ganz ernstlich aufzuspielen. Die Studentenschaft ist eine viel zu schwache Truppe, um dem Regime des Staatsstreichs vom 3./17. Juni 1907 einen ernsten Schlag zu versetzen. Die Kühnheit und die Energie ihres Auftretens reichten aber aus, um die Autorität Stolypins zu zerstören, die erwachsen war aus dem Schrecken der besitzenden Klassen und aus der Charakterlosigkeit der bürgerlichen Demokratie.
Wenn auch die Studentenbewegung zum revolutionären Anstoss wurde, liegen doch die eigentlichen Ursachen der Krise des Stolypin-Oktobristen-Regimes selbstverständlich viel tiefer, in der Grundlage des Baues selbst, welcher am 3./17. Juni aufgeführt wurde.
Die Oktobristen beklagen sich jetzt darüber, dass die Regierung sie hintergangen habe. Das ist ein Unsinn. Wer konnte auch nur für einen Augenblick annehmen, dass die feudale Bureaukratie, welche die Erhebung des Volkes im Blute ertränkt und zwei Dumas erwürgt hat, zu guter Letzt dem „liberal“-konservativen Vertreter des Kapitals, dem Moskauer Börsenmanne Gutschkow, Platz machen werde?
Niemand hat die Oktobristen getäuscht. Sie wussten, worauf sie lossteuerten. „Bauern und Arbeiter existieren nicht als politische Bundesgenossen für die Bourgeoisie.“ „Der einzige Verbündete der Bourgeoisie ist der Grundbesitz.“ So sprach mehr als einmal die Stimme von Moskau, das Organ Gutschkows, den Grundgedanken der Oktobristenrichtung aus. Das bedeutet natürlich bei weitem nicht, dass die Kapitalisten und der Adel die gleichen Interessen hätten. Das bedeutet aber, dass die allertiefsten Widersprüche ihrer Interessen blass und unsichtbar werden, sobald die sozialen Bewegungen der Massen des Volkes in den Vordergrund treten. Die kapitalistische Bourgeoisie hatte innerhalb ihrer Fabriksmauern Millionen von Arbeitern konzentriert. Im Jahre 1905 war sie von Angesicht zu Angesicht mit ihnen zusammengestossen und nun überliess sie den ganzen Staatsapparat mit geschlossenen Augen der alten monarchischen Gewalt, welche sich auf die traditionell adelige Bureaukratie stützte. Indem sich die Kapitalisten mit den Gutsbesitzern als ihrem „einzigen Bundesgenossen“ vereinigten, verzichteten sie dadurch vollständig auf alle weitausschauenden Pläne, den inneren Markt durch Land Verteilung an die Bauern gesunden zu lassen. Wann hat der Adel je freiwillig Land aus seinen Krallen gegeben? Die kapitalistische Bourgeoisie segnete den Staatsstreich vom 3. Juni 1907 als eine Rettung; indem sie über die Wiedererstehung der Selbstherrschaft Genugtuung empfand, die im Oktober 1905 geborsten war, verzichtete sie im gleichen Augenblick bewussterweise auf die parlamentarischen Budgetrechte, damit auch auf eine ernstliche Aenderung des zarischen Budgets, das in allen seinen Teilen dem adeligen Parasitentum und der bureaukratischen Raubgier ausgeliefert blieb. Kurz, der Block vom 3. Juni, der vor ganz Russland geschlossen wurde, bedeutete vom Anfang an die Oberherrschaft des Gutsbesitzers über den „Kaufmannssohn“, des Beamten über den Gutsbesitzer und den Kaufmann, des Reichsrates über die Duma, des Ministeriums über beide „gesetzgebenden Kammern“, der Hofkamarilla über das Ministerium. Kein Mensch hat die Partei Gutschkows betrogen, sie wusste, wohin ihr Weg sie führte. Man kann mit voller Bestimmtheit sagen, dass, wenn die Oktobristen jetzt nach den Erfahrungen der letzten vier Jahre wiederum vor der Entscheidung wie am 3. Juni 1907 stünden, sie alle ihre Schritte vom Anfang bis zum Ende noch einmal wiederholen würden.
Der Block vom 3. Juni ist aufs kräftigste gefestigt worden: Stolypin verstand es vor allem, die Oktobristenpartei, die bis dahin eine Verbindung der Interessenten der Börse und des etwas europäisch frisierten Teiles des Gutsbesitzes war, durch einen die Partei stark bestimmenden Einschlag von Bureaukraten und Regierungsmännern in lakaienhafte Abhängigkeit zu bringen. Die Oktobristenpartei in ihrem kapitalistisch-agrarischen Kern, der Regierung gegenüber auf parlamentarischem Boden einflusslos, besonders geschwächt durch die Beamtenhilfstruppe, kam nunmehr in direkte Abhängigkeit von dem rechten Flügel der Duma, den verwilderten Junkern und Pogromleuten. Ohne diese konnte die Partei bei allen ihren „Reformversuchen“ keinen Schritt tun. Ueber die Duma, damit sie sich nicht zu weit hinreissen lasse, wurde der Reichsrat gesetzt, in seiner Mehrheit aus Beamten bestehend, aus entlassenen Ministern und zahnlosen Satrapen, die der Zar in diese Körperschaft berufen hatte. Jeder gesetzgebende Beschluss, über den Duma und Reichsrat einig geworden waren, muss, bevor er zum Gesetz wird, vom Zaren sanktioniert werden, der aber wieder nur das ausführende Organ des „Rates des vereinigten Adels“ ist. Und endlich zu ailedem wurde den Staatsgrundgesetzen der Artikel 87 eingefügt, eine Kopie des österreichischen § 14, der der zarischen Regierung während des Nichttagens der Duma die Möglichkeit gibt, selbstherrlich gesetzgeberisch zu wirken.
Die Versuche der verbündeten konterrevolutionären Mächte, aus dem Zauberkreis der inneren Politik auf die breite imperialistische Weltstrasse herauszutreten; dem russischen Kapital mit Gewalt den Zugang zum Balkanmarkt und zu den Märkten Asiens zu verschaffen; die Aufmerksamkeit des Volkes durch äussere Erfolge von den inneren Wirren abzulenken, diese ebenso marktschreierischen wie ohnmächtigen Versuche des Stolypinschen Blocks, die selbst von den Kadetten unterstüzt wurden, führten zu einer Reihe von schmählichen diplomatischen Niederlagen. Es erwies sich, dass man auf der internationalen Arena keinen Einfluss haben kann, wenn das hohe Militär aus unwissenden und blutdürstigen Henkern besteht, wenn der „treue“ Soldat unwissend und der denkende Soldat unzufrieden ist, wenn das Militärbudget, angefangen vom Panzerschiff bis zum Kommissbrot des Soldaten, von den Intendanten und anderen Schuften bestohlen wird, kurz, wenn die Armee und die Finanzgebarung aufs äusserte desorganisiert sind und die Regierung fortwährend mit ihrem eigenen Volke Krieg führt. Nun mussten die Manner des 3. Juni eine neuerliche Wendung zur alten Misere der inneren Politik ausführen. Von den imperialistischen Niederlagen kehrten sie zu – inneren „Reformen“ zurück. Die lauten Grossmachtscharlatane machten zum Teil den kleinlichen, boshaften, aber nicht weniger scharlatanhaften Vertretern des Nationalismus Platz, zum Teil vereinigten sie sich mit ihnen. Wenn das Bündnis zwischen Grossbürgertum, Adel und Bureaukratie die Möglichkeit ernsthafter Agrarreformen und damit die Ausweitung des inneren Marktes ausschliesst; wenn auf der Grundlage des gleichzeitig ausgesogenen und künstlich eingeengten inneren Marktes eine starke Armee und eine siegreiche imperialistische Politik unmöglich ist, dann kann man immer noch versuchen, den inneren Markt für die „eingeborenen“ Besitzer zu monopolisieren, den polnischen und jüdischen Kapitalisten nach Möglichkeit von der allgemeinen Krippe der Nation fernzuhalten, den wahrhaft russischen Edelmann auf Rechnung der anderen Nationalitäten satt zu machen. Der Raubzug gegen Finnland, die Vorschläge, das Gouvernement Wyborg von Finnland, Cholmschtschina von Polen abzutrennen, das Projekt der städtischen „Selbst“Verwaltung in Polen und schliesslich der Vorschlag, für die sechs westlichen Gouvernements die Semstwoverfassung einzuführen, alles dies ist aus der nationalistischen Strömung hervorgegangen, die Stolypin mit den Nationalisten in der Duma immer enger zusammenbrachte, denen die Oktobristen als willenlose Hilfstruppe folgten.
Man verzichtete darauf, Finnlands Selbständigkeit mit einem Schlage zu zertrümmern, und begnügte sich hier einstweilen damit, die Taktik der zahlreichen kleinen und desto gehässigeren Massregeln einzuschlagen. Die Bestrebungen der nationalen Politik wendeten sich lieber nach der Richtung des geringeren Widerstandes: gegen die Juden und die Polen. Das Projekt der westlichen Semstwos rief eine babylonische Verwirrung hervor. Was wollte man denn mit den westlichen Semstwos? Das Wahlrecht der Semstwos wird zur Verhöhnung des Bauerntums und der städtischen Volksmasse; die Juden werden vom Stimmrecht völlig ausgeschlossen; der landbesitzende Adel, zu dessen Gunsten die ganze Massregel geplant war, wird in zwei Kurien geteilt: eine engere für die polnischen Schlachzizen und eine weitere für die Adeligen rechtgläubiger Konfession.
Die Antreiber dieser Reform waren die Nationalisten, unter denen die Russifikatoren aus den westlichen Gouvernements und aus dem Königreich Polen den ersten Platz einnahmen. Aber auch die Oktobristen liessen sich von ihnen nicht beschämen. Diese Gesetzesvorschläge, die in der Duma schon angenommen waren, fielen wider alle Erwartung im Reichsrat durch. Aus welchem Grunde sind denn die Exzellenzen rebellisch geworden?
Die weitblickenden Konservativen waren über die nationalistischen Exzesse Stolypins einfach erschrocken. So geht es nicht, sagten sie, man muss vorsichtiger zu Werke gehen, sonst bringt man die eigenen Volksmassen sowohl wie die „fremden“ besitzenden Klassen gegen uns auf! Einem anderen Teil, den eingefleischten Bureaukraten, wie etwa Durnowo und Witte, waren die Semstwos ebenso wie die Polen und das ganze teure Vaterland ganz gleichgültig, aber ihnen waren in den fünf Jahren der Stolypinschen Wirtschaft im Reichsrat die Beine eingeschlafen, sie wollen sich sehr gern ein wenig recken, indem sie die Macht wieder einmal an sich nehmen; zu diesem Zwecke muss aber Stolypin auf irgendeine Weise geworfen werden. Der vorsichtige Konservatismus verband sich im Reichsrat mit der bureaukratischen Intrige, so fiel das Stolypinsche Semstwo.
Die Nationalisten heulten laut auf, sie fürchteten sehr, den fetten Semstwobraten in den westlichen Gouvernements zu verlieren. Auch die Oktobristen erhoben sich. Sie brauchen eine höhere gesetzgebende Körperschaft. So reaktionär die Duma ist, so kann es doch auch für sie Schranken geben, vor denen sie stillsteht, denn sie ist doch immerhin eine gewählte Körperschaft – daher braucht sie einen bureaukratischen „Rat“, der geeignet ist, in gewissen Fällen ihre Arbeit zu hemmen, der ihr die Möglichkeit gibt, die Empörung des Volkes von sich auf die unverantwortliche „höchste“ Körperschaft abzulenken. Aber die Dumamehrheit wünscht, dass ihr der Reichsrat nur dann Opposition macht, wenn sie hinter den Kulissen damit einverstanden ist. Am meisten war aber Stolypin empört. Das Blut stieg dem Diktator zu Kopfe: sind denn diese alten Nichtstuer deswegen in eine gesetzgebende Körperschaft hineingesetzt worden, um ihm, dem Retter des Eigentums und des Thrones, zu widersprechen? Rasch entschied Stolypin: Der Artikel 87 erlaubt der Regierung, während der Abwesenheit der Kammern aussergewöhnliche legislative Massregeln zu ergreifen. Zwingen wir also die Kammern, abwesend zu sein, und dann – selbst macht man’s immer am besten. Am 12./25. März wurden die Gesetzgeber für drei Tage beurlaubt, Stolypin brachte im Namen seines Monarchen das westliche Semstwo unter dem falschen Titel des Artikels 87 durch. Die Methode war ganz offenbar die eines Falschspielers, das falsche Spiel selbst frech, aber wenig schlau. Die klügeren und vorsichtigeren Konservativen des Zentrums im Reichsrat waren aufs höchste entsetzt über die Art, wie mit den beiden „hohen Häusern“ umgesprungen wurde. Sie vereinigten sich mit der linken Gruppe, die aus den zahmsten Vertretern des professoralen und des Semstwoliberalismus besteht; zu diesem Block traten dann auch die Intriganten der äussersten Rechten, die morgen, wenn sie an Stolypins Stelle getreten sein werden, sich als genau solche Ueber-Staatsmänner bewähren werden. Der Reichsrat nahm die Interpellation wegen Verletzung der Staatsgrundgesetze an.
Zum Erstaunen Stolypins stand auch die Reichsduma gegen ihn auf. Der Machthaber war so gewohnt, keine Umstände zu machen, dass er gar nicht bemerkte, dass er, als er dem Reichsrat den Herrn zeigen wollte, auch die Duma schwer verletzte. Die Nationalisten hatten die westliche Semstwo mit einer devoten Verbeugung aus Stolypins Händen empfangen. Aber die Oktobristen begannen zu murren. „Die Verletzung der Grundgesetze durch das Haupt der Regierung“, erklärte ihr Redner Lerche, „ist eine höchst ungewöhnliche Erscheinung.“ Natürlich ist das eine unbeholfene und sinnlose Lüge: Das einzig Bleibende und Beständige in Stolypins Arbeit war eben das Verletzen der Staatsgrundgesetze. Am 9./22. November wurde, unter Verhöhnung der Staatsgrundgesetze, das Gesetz durchgebracht, das die Ausplünderung des Gemeindelandbesitzes (Obschtschina) sanktioniert. Mittels eines offenen Staatsstreiches, den Stolypin am 3./17. Juni 1907 nach vorheriger Vereinbarung mit der Gutschkow-Ver-einigung vollzogen hat, sind die Oktobristen zur führenden Partei der Duma geworden. Nachdem sie ihren ganzen Einfluss einem Staatsstreich verdankten, halfen sie Stolypin am 14./27. März 1910 bei dem Staatsstreich gegen Finnland. Eine ganze Reihe von weniger bedeutsamen'Massnahmen wurden von Stolypin in dergleichen „gesetzlichen“ Weise vollzogen. Wie viele Tausende Seelen hat endlich dieser blutige Machthaber während der letzten fünf Jahre mit Hilfe seines „schnell arbeitenden Standrechtes“, dieses organisierten Hohnes auf Gericht und Gesetz, ins Jenseits befördert? Und die Oktobristen haben kein einzigesmal protestiert, im Gegenteil, sie unterstützten ihn. Warum sollten sie es nicht tun? Konnte man bei der Niederdrückung des Volkes, welches aus jahr-hundertlangem Schlummer erwachen wollte, mit solchen konventionellen Dingen rechnen, als da sind Staatsgrundgesetze und geschriebene Verordnungen!
Ganz anders war die Situation jetzt, als die Familienzwistigkeiten unter den Siegern selbst ausgebrochen waren. Gewiss ist der Widerstand des Reichsrates gegen die „nationale“ Strömung ärgerlich, aber man kann doch den Reichsrat nicht mit der Soldatenfaust abtun, denn der Reichsrat ist notwendig, er wird noch oft notwendig sein, um den Ansturm der Demokratie abzuwehren. Man kann doch auch nicht die Gesetzgeber für drei Tage fortschicken, bis der Kanzleischreiber inzwischen die Gesetze schreiben wird – wozu hat man dann die ganze Geschichte mit der Konstitution angefangen? So argumentierten die Oktobristen, indem sie die Interpellation wegen Verletzung der Staatsgrundgesetze annahmen.
Als Antwort auf die Interpellation des Reichsrates verwies ihn Stolypin auf allerlei deutsche und französische gelehrte Bücher über Staatsrecht. In der Duma wählte Stolypin eine andere Verteidigungsart: er rief die Volksvertretung an, die Fragen der „Form“ aufzugeben und zu den Fragen nach dem „Wesentlichen“ überzugehen: denn höher als alles stehen ja die grossen Ideale der Nation. Ist es denn schliesslich nicht ganz gleich, durch welche Massnahmen diese Ideale verwirklicht werden? Aber Stolypin batte in der Duma ebensowenig Erfolg wie im Reichsrat: seine Erklärungen wurden als „unzureichend“ befunden. Stolypin hätte ja viel kürzer und einleuchtender, ohne alle Gelehrsamkeit und ohne nationale Deklamation antworten können : „Wer bin ich?“ hätte er seinen unzufriedenen Bundesgenossen sagen können. „Ich war früher Gouverneur in Ssaratow, ich habe die rebellischen Bauern vor meinen Augen prügeln lassen, ich war von politischen Ideen nicht beschwert. Ich war vom Anfang an bereit, jeden Auftrag auszuführen, ich habe stets auf meinen Spürsinn vertrauen können, ich habe zu gleicher Zeit mit den Kadetten und den Progromführern unterhandelt, habe die Progromleute für meine Zwecke voll ausgenützt, über die Kadetten habe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass sie politisch völlig ohnmächtig sind und, was die Hauptsache ist, ich habe das Geheimnis entdeckt, dass das wichtigste Bestreben der besitzenden Klassen, unter welcher politischen Maske immer sie auftreten mögen, das ist, ihr Eigentum vor der Revolution zu schützen. Da habe ich denn nun alle konventionellen Erwägungen aufgegeben, ich habe zwei Dumas auseinandergejagt, ich habe Sie hier versammelt und habe Ihnen offen und ehrlich gesagt: „mein Programm ist der Schutz eures Landes und eures Profits!“ Und Sie antworteten mir: „Und unser Programm ist Stolypin.“ Und von der Zeit an hängte ich, würgte ich, gab ich Gesetze, schuf und zerstörte ich in voller Ueberzeugung, dass ich mit meinen Handlungen gar keine Gesetze verletzen kann, denn ich selbst bin für Sie Gesetz und Prophet zugleich.“
Mit einer solchen Antwort hätte sich Stolypin vor dem Volke natürlich nicht gerechtfertigt, aber er hätte die Last der Verbrechen der Gegenrevolution richtig verteilt zwischen seinen Bundesgenossen, seinen Hehlern, und denen, die die Verbrechen nur geschehen liessen.
So schliesst das neue Kapitel der Geschichte der dritten Duma: auf den Bankrott der oktobristischen Reformbestrebungen, auf die skandalösen Niederlagen der imperialistischen Politik – der Krach des nationalistischen Kurses. Noch bevor die Politik des erneuten Ansturmes gegen die Fremden irgendeinen praktischen Erfolg haben konnte, erschreckte sie mit ihren provozierenden Ausschreitungen sogar die konservativen Exzellenzen des Reichsrates und brachte gänzliche Verwirrung in die Reihen der verbündeten Sieger. Diese allgemeine Verwirrung unter den Herrschenden deckte alle Widersprüche auf und zerstörte alle Illusionen. Von nun an wird Stolypin wie auch sein eventueller Nachfolger nur mittels einer von jeder „Ideologie“ gereinigten bureau-kratischen Alleinherrschaft regieren können ..., so lange dieses System überhaupt noch weiter wirken kann. –
Und wieder wie in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts stellt sich bei der Rechten, der Linken und im liberalen Zentrum die feste Ueberzeugung ein, dass das Land neuen politischen Erschütterungen entgegengeht. Das Auftreten der Studenten-schäft, dieser Rekognoszierungstruppe der russischen städtischen Demokratie, ist das äussere Symptom einer neuen revolutionären Sturm- und Drangperiode. Das Hervortreten der Arbeiterdelegierten auf verschiedenen legalen Kongressen zeigt mutige Entschlossenheit. Allmählich bilden sich die lokalen illegalen Parteiorganisationen wieder, die in vielen Städten während der letzten zwei Jahre überhaupt erstorben waren. Die Maifeier wurde in diesem Jahre mit längst nicht mehr gekannter Begeisterung begangen. Mit vollem Recht fürchten die Hüter der heiligen Ordnung die kommende grosse Wendung.
Nur der Aufschwung in Handel und Industrie, der gegenwärtig in den wichtigsten Zweigen der Produktion immer weitergreift, kann die katastrophale Zertrümmerung eines Regierungssystems für einige Jahre aufhalten, bei dem ein bureaukratischer Athlet im Rocke eines Gentleman als staatsmännisches Genie galt und seine politischen Helfershelfer sich als Stützen der Kultur und des Fortschrittes ausgaben. Der ins Wanken geratene Block kann durch den Kitt der wirtschaftlichen Prosperität noch eine Zeitlang zusammengehalten werden: Kokowzew wird seine „glänzenden“ Einnahmen behalten, die Gutsbesitzer werden ihre hohen Brot- und Landpreise, die Kapitalisten ihre hohen Profite haben. Unter der Parole: „weniger Konflikte! nutzet den Augenblick! enrichissez vous!“ werden sich die Verbündeten mit den letzten Kräften aneinander klammern. Eben deswegen haben die Oktobristen, nachdem sie Stolypin „verwarnt“ hatten durch ihr Misstrauensvotum, nicht die praktischen Schlussfolgerungen gezogen, zu denen sie selbst die russische Konstitution berechtigte: sie haben es ihrem Monarchen nicht offiziell zur Kenntnis gebracht, dass mehr als zwei Drittel der Duma das Vorgehen des Ministeriums ungesetzlich finden. Nur nicht so viele Konflikte, um Gotteswillen! denn es fängt schon an der goldene Regen der Eisenbahnkonzessionen, Subventionen und Staatsbestellungen.
Und doch hat die russische Sozialdemokratie, die Revolutionspartei par excellence, gar keinen Grund, den wirtschaftlichen Aufschwung zu fürchten. Im Gegenteil. Nach einer fast ununterbrochenen elf Jahre andauernden wirtschaftlichen Krise, die die Arbeitermassen bis aufs äusserste erschöpfte, die ihnen ihre Energie und ihr Selbstvertrauen nahm, ist gerade ein wirtschaftlicher Aufschwung notwendig, um die schrecklichen Wunden am Körper der Arbeiterklasse zu heilen, um sie fähig zu machen zur Erfüllung jener ungeheuren Aufgaben, welche die Geschichte Russlands ihr stellt. Die obere Schicht des Proletariats, die Trägerin der revolutionären Traditionen, besitzt jetzt die nur zu teuer erkaufte Erfahrung des letzten Jahrzehnts, der Vorbereitung, des Wirkens, des Niederschlagens der Revolution. Die Erfahrung hat sie gelehrt, alle politischen Kräfte nach ihrer Stärke zu werten, hat sie zu kluger Ueberlegung und Abschätzung erzogen und ihren Elan diszipliniert. Die vorgeschrittensten Arbeiter werden die Bahn der revolutionären Aktion nicht betreten, bevor sie dafür gesorgt haben und sich überzeugt haben, dass die breiten Massen der Arbeiter mit ihnen bereit sind, die grossen Opfer des revolutionären Kampfes auf sich zu nehmen. In den wenigen Jahren seit 1905 erwachs eine neue Generation von Arbeitern, die die Revolution nicht mitgemacht haben. Die Krise ersetzte viele männliche Arbeitskraft durch weibliche. In der Textilindustrie, in der Tabakverarbeitung, in der Zuckerfabrikation, in der Ziegelbrennerei und in der Zementfabrikation finden wir ein sprunghaftes Anschwellen der Frauenarbeit. Anfang 1911 zählte man in den Hauptzentren der Industrie 545.000 Arbeiterinnen. 30 Prozent des gesamten Proletariats sind heute in Russland schon weiblichen Geschlechtes. Viele Hunderttausende pauperisierte Bauern verlassen das Dorf in der Hoffnung, in der Stadt Erwerb zu finden. Während der jahrelang währenden Krise hat der ununterbrochene Zustrom des Iandflüchtigen Arbeiters die Lage des städtischen Proletariers verschlechtert, ihn hoffnungsloser gemacht, ihn auch hie und da demoralisiert. Nur der ökonomische Aufschwung, und zwar ein nicht kurzfristiger, vermag diese ungefügten und ungeordneten Massen in eine einheitliche, sich ihrer Lage bewusste und für ihre Besserung ringende Klasse zu verwandeln. Die Anfänge dieses Prozesses vollziehen sich jetzt vor unseren Augen. Die Arbeitslosigkeit und die Furcht vor ihr mindert sich. Die jungen Arbeiter und die vom Dorfe kommenden Bauern treten nun unter ganz anderen Verhältnissen in die Fabriken und sie werden dort mit neuen Ideen, Hoffnungen, mit dem Bewusstsein des Gegensatzes gegen die Kapitalisten und gegen die sie beschützende Regierung erfüllt. Die hohen Preise der Lebensmittel, die während der Krise eine der Ursachen der Hoffnungslosigkeit waren, werden jetzt bei den neuerlichen Steigerungen zu einem Antrieb zum ökonomischen Kampf der Arbeiter. Die Zahl der Streiks wächst, die zähe Beharrlichkeit der Arbeiter tritt da in Erscheinung. Schon jetzt reissen die Streiks die zurückgebliebensten Gruppen der Arbeiter mit sich und die Frauen nehmen an ihnen nach dem Zeugnis des Industriellen Verbandes von Zentralrussland „energischen Anteil“. Für die Arbeiterklasse beginnt eine Periode der Zusammenschweissung, der Gesundung, des Steigens des Selbstbewusstseins und der Solidarität, eine Epoche des organisatorischen Schaffens, der politischen Erziehung und der Sammlung der revolutionären Kraft. Alle diese Erscheinungen müssen auf die russische Sozialdemokratie wirken. Der mit der Prosperitätsperiode immer kräftiger einsetzende gute Wind wird unsere Segel schwellen und uns in das offene Meer der grossen politischen Aufgaben und der grossen Perspektiven des Klassenkampfes treiben. Dies erst wird der russischen Sozialdemokratie die Möglichkeit geben, sich von den zersetzenden Erscheinungen des fraktionellen Sektierertums zu befreien, das seine ganze Kraft nicht auf den äusseren Feind, sondern auf den inneren „Feind“ konzentriert. Unter dem Druck der Massen, die aus der Lethargie erwachen, wird die Partei zu dem werden, was sie sein muss, nicht eine Kombination der sich oft nur wegen rein theoretischer oder gar nur wegen persönlicher Differenzen bekämpfenden Fraktionen, sondern eine einheitliche, sich selbst Richtung gebende sozialistische Organisation der Arbeiter.
Je bedeutender und dauerhafter der ökonomische Aufschwung sein wird, desto besser und radikaler wird er seine grosse erzieherische Aufgabe erfüllen. Nur nach dieser Hochkonjunktur kann eine neue Wirtschaftskrise eine revolutionäre Situation schaffen: .sie wird mit verzehnfachter Kraft die inneren Widersprüche des konterrevolutionären Systems aufdecken, die zeitweilig gemilderten Gegensätze innerhalb der Herrschenden aufs höchste verschärfen und vergiften und den Zusammenstoss des während des Aufschwunges erstarkten Proletariats mit der Konterrevolution unvermeidlich machen.
Zuletzt aktualiziert am 19. Oktober 2023