Leo Trotzki

Russland in der Revolution

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Erster Teil
Die Tage des Kampfs

Die ersten Tage der „Freiheiten“

Sein Verhältnis zum Manifest äußerte der Arbeiterrat scharf und bestimmt an dem Tage seiner Publikation. Die Vertreter des Proletariats forderten: Amnestie, Entfernung der gesamten Polizei von oben bis unten, Entfernung der Truppen aus der Stadt, Schaffung einer Volksmiliz Als Kommentar zu diesen Forderungen schrieben wir im Leitartikel der Nachrichten: „Die Konstitution ist also gewährt. Versammlungsfreiheit ist gewährt, aber die Versammlungen werden von Militär umstellt. Freiheit des Wortes ist gewährt, aber die Zensur besteht nach wie vor. Freiheit der Wissenschaft ist gewährt, die Universitäten sind aber mit Truppen besetzt. Unantastbarkeit der Person ist gewährt, die Gefängnisse sind jedoch mit Eingekerkerten überfüllt. Witte ist uns gegeben, aber Trepow ist uns geblieben. Die Konstitution ist gegeben, die Selbstherrschaft geblieben. Alles gegeben – und nichts gegeben.“ Sie erwarten eine Beruhigung. Eine solche wird nicht eintreten. „Das Proletariat weiß, was es will und weiß, was es nicht will. Das Proletariat will weder den Polizeihooligan Trepow, noch den liberalen Makler Witte, – es will weder den Wolfsrachen, noch den Fuchsschwanz. Es will nicht die Nagaika, eingewickelt in das Pergament der Konstitution.“ Der Rat beschließt: „Der Generalstreik wird fortgesetzt.“

Die Arbeitermassen führen diesen Beschluss mit bewunderungswürdiger Einmütigkeit aus. Die Fabrikschlote stehen rauchlos da, als stumme Zeugen, dass die konstitutionellen Illusionen nicht in die Arbeiterviertel gedrungen sind. Indessen verliert vom 31. Oktober ab der Streik immerhin seinen unmittelbaren Kampfcharakter. Er verwandelt sich in eine gewaltige Kundgebung des Misstrauens. Da beginnt aber die Provinz, die früher als die Residenz in den Kampf eingetreten ist, die Arbeit wieder aufzunehmen. Am 1. November ist der Streik in Moskau beendet. Der Petersburger Rat beschließt, den Streik am 3. November, um 12 Uhr mittags, zu beenden. Als letzter das Schlachtfeld verlassend, gibt er noch eine herrliche Manifestation der proletarischen Disziplin, indem er Hunderttausende von Arbeitern in einer und derselben Stunde zu den Maschinen ruft.

Noch vor Beendigung des Oktoberstreiks hatte der Rat Gelegenheit, seinen ungeheuren Einfluss zu erproben, der im Laufe einer Woche entstanden war: das war, als er sich, aufgefordert von den unzähligen Massen, an ihre Spitze stellte und mit ihnen durch die Straßen von Petersburg marschierte.

Am 31. Oktober versammelten sich um 4 Uhr nachmittags nach Hunderttausenden zählende Menschenmassen bei der Kasankathedrale. Ihr Losungswort war: Amnestie. Sie wollten zu den Gefängnissen gehen, verlangten Führung und zogen vor das Haus, wo die Sitzungen des Arbeiter-Delegiertenrates stattfanden. Um 6 Uhr abends wählt der Rat drei Bevollmächtigte zur Leitung der Demonstration. Mit weißen Binden am Kopfe und am Arme zeigen sie sich am Fenster des zweiten Stockes. Unten atmet und brodelt ein Ozean von Menschen. Rote Fahnen flattern über ihnen, wie Segel der Revolution. Mächtiges Rufen begrüßt die Gewählten. Der Rat begibt sich vollzählig hinab und versinkt in der Menge. „Einen Redner!“ Dutzende von Händen streckten sich nach dem Redner aus – einen Augenblick – und seine Füße stützen sich auf fremde Schultern. „Amnestie!“ „Zu den Gefängnissen!“ Revolutionäre Hymnen, Rufe ... Auf dem Kasanplatze und am Alexandersquare werden die Köpfe entblößt; hier schließen sich den Demonstranten die Schatten der Opfer des 22. Januar an. Man singt für sie das Lied „Ewiges Gedenken“ und „Ihr fielet als Opfer“. Die Fahnen sind beim Haufe Pobjedonoszews. Pfeifen und Fluchen. Hört es der alte Geier? .... Er kann furchtlos zum Fenster hinaus blicken, in dieser Stunde wird ihn niemand anrühren. Er sehe nur mit seinen alten, sündigen Augen herab auf das revolutionäre Volk, das die Straßen von Petersburg beherrscht. – Vorwärts!

Noch zwei – drei Straßen und die Menge ist in der Nähe des Untersuchungsgefängnisses. Es kommt die Nachricht, dass eine starke militärische Bewachung dort versteckt sei. Die Anführer der Demonstration beschließen, auf Kundschaft auszugehen. In diesem Augenblicke erscheint eine Deputation vom Bunde der Ingenieure – wie sich später herausstellte, zur Hälfte eigenmächtig handelnd – und berichtet, dass der Ukas über die Amnestie bereits unterzeichnet sei. Alle Gefängnisse seien von Militär besetzt und, wie dem Bunde zuverlässig bekannt sei, habe Trepow, falls die Massen näher kommen, freie Hand: folglich sei ein Blutvergießen unvermeidlich. Nach kurzer Beratung geben die Führer der Menge die Weisung, sich zu zerstreuen. Die Demonstranten schwören, dass sie, falls der Ukas nicht veröffentlicht wird, sich auf den Ruf des Rates aufs Neue versammeln und gegen die Gefängnisse ziehen würden.

Der Kampf um die Amnestie wurde überall geführt. In Moskau hatte eine vieltausendköpfige Menge den Generalgouverneur dahin gebracht, die politischen Gefangenen sofort in Freiheit zu setzen. Eine Liste der Gefangenen wurde dem Streikkomitee (dieses entwickelte sich bald zu dem Moskauer Arbeiter-Delegiertenrat) eingehändigt, und die Freilassung aus den Gefängnissen vollzog sich unter seiner Kontrolle. Am selben Tage stürmte die Menge die Gefängnistore in Simferopol und entführte die politischen Gefangenen in Equipagen. In Odessa und Reval wurden die Gefangenen auf Drängen der Demonstranten befreit. In Baku hatte der Befreiungsversuch zu einem Zusammenstoß mit dem Militär geführt: es gab drei Tote, achtzehn Verwundete. In Saratow, Windau, Taschkent, Poltawa, Kowno ... Überall Demonstrationszüge nach den Gefängnissen. „Amnestie!“

„Na, Gott sei Dank! Gratuliere, meine Herren!“ sagte Witte, vom Telefon zurücktretend und sich an drei Arbeiter, die Vertreter des Rates wendend: „Der Zar hat die Amnestie unterzeichnet.“

„Ist volle Amnestie gewährt oder partielle, Herr Graf?“

„Eine Amnestie ist gewährt unter Wahrung der Staatsräson, aber doch genügend weitherzig.“

Am 4. November veröffentlichte die Regierung endlich den Ukas des Zaren, „betreffend Erleichterung des Schicksals derjenigen Personen, die vor erfolgtem Manifest in staatsverbrecherische Tätigkeit verfallen waren“, – ein erbärmlicher, von schimpflichem Geiz starrender Akt, ein echtes Geisteskind der Macht, in der Trepow die Staatsidee, Witte den Liberalismus personifizierte.

Aber es gab eine Kategorie von „Staatsverbrechern“, deren dieser Ukas nicht Erwähnung tat und gar nicht Erwähnung tun konnte. Das waren die zu Tode Gemarterten, die Abgeschlachteten, Erwürgten, Verdammten und Totgeborenen, das waren alle, die den Tod erlitten hatten für die Sache des Volkes. In jenen Stunden der Oktoberkundgebung, wo die revolutionären Massen auf den blutigen Plätzen von Petersburg das Andenken der am 22. Januar Getöteten andächtig ehrten, in jenen Stunden lagen schon in den Polizeimorgues die von Blut rauchenden Leichen der ersten Opfer der konstitutionellen Ära. Die Revolution konnte ihren neuen Märtyrern das Leben nicht zurückgeben, sie beschloss, Trauer anzulegen und die Leiber der Toten feierlich zu bestatten. Der Rat ordnete für den 5. November ein großes, demonstratives Leichenbegängnis an. Man schlägt vor, die Regierung vorher zu benachrichtigen, man weist auf Präzedenzfälle hin: auf die Forderung des Abgesandten des Rates hat Graf Witte in einem Falle Befehl gegeben, zwei verhaftete Anführer eines Straßenmeetings freizulassen In einem anderen Falle hatte er vorgeschrieben, die während des Oktoberstreiks geschlossen gewesene staatliche Baltische Fabrik zu öffnen. Unter warnenden Gegenäußerungen seitens der offiziellen Vertreter der Sozialdemokratie beschließt die Versammlung, dem Grafen Witte durch eine besondere Deputation zur Kenntnis zu bringen, dass der Rat die Verantwortung für die Einhaltung der Ordnung während der Demonstration auf sich nehme und die Entfernung der Polizei und des Militärs fordere.

Graf Witte ist sehr beschäftigt und hat eben zwei Generalen den Empfang verweigert; aber er empfängt ohne Widerrede die Deputation des Rates. Eine Prozession? Er hat persönlich nichts dagegen: „solche Prozessionen werden im Westen zugelassen“. Aber dies gehört nicht in sein Ressort. Man muss sich an Demitrij Fedorowitsch Trepow wenden, da die Stadt seiner Befugnis untersteht.

„Wir können uns nicht an Trepow wenden, dazu sind wir nicht ermächtigt.“

„Schade, Sie würden sich sonst selbst davon überzeugen, dass das gar nicht so ein wildes Tier ist, wie man von ihm behauptet.“

„Und der berühmte Befehl: ‚Keine Patronen sparen‘, Herr Graf?“

„Na, da ist ihm wohl nur in der Wut eine Phrase entschlüpft ...“

Witte läutet bei Trepow an, meldet ehrerbietig seinen Wunsch, „es möge ohne Blutvergießen ablaufen“, und wartet auf den Bescheid. Trepow weist ihn hochmütig an den Stadthauptmann. Der Graf schreibt diesem in aller Eile ein paar Worte und gibt den Brief der Deputation.

„Wir nehmen Ihren Brief, Herr Graf, behalten uns aber Freiheit des Handelns vor. Wir sind nicht sicher, ob wir Gelegenheit haben werden, von dem Briefe Gebrauch zu machen.“

„Gewiss, gewiss. Ich habe gar nichts dagegen.“ [A]

Wir haben hier ein lebendiges Stück der Oktoberzeit vor uns. Graf Witte beglückwünscht die revolutionären Arbeiter zur Amnestie. Graf Witte will, dass es ohne Blutvergießen abgehen möge, „wie in Europa“. Unsicher, ob es ihm gelingen werde, Trepow zu stürzen, versucht er, das Proletariat mit ihm zu versöhnen. Als der höchste Vertreter der Macht bittet er den Stadthauptmann durch Vermittlung der Arbeiterdeputation, die Konstitution unter seinen Schutz zu nehmen. Feigheit, Falschheit, Dummheit! das ist die Devise des konstitutionellen Ministeriums.

Dafür aber geht Trepow direkt auf sein Ziel los. Er erklärt, dass „in der gegenwärtigen unruhigen Zeit, wo ein Teil der Bevölkerung bereit wäre, sich mit den Waffen in der Hand auf die anderen zu stürzen, keinerlei Kundgebungen auf politischer Grundlage, im eigenen Interesse der Demonstranten, zugelassen werden können“ und fordert die Veranstalter der Kundgebungen auf, „auf ihren Plan zu verzichten, angesichts der eventuell sehr schlimmen Folgen derjenigen energischen Maßnahmen, zu denen die Polizeigewalt unter diesen Umständen zu greifen gezwungen werden könnte.“ Das war klar und deutlich, wie ein Säbelhieb. Das Gesindel der Großstadt mit Hilfe der Polizei bewaffnen, es auf die Demonstranten hetzen, Verwirrung hervorrufen, den unvermeidlichen Zusammenprall zur blutigen Einmischung der Polizei und des Militärs benutzen, wie ein todbringender Wüstenwind durch die Stadt laufen – das war das ständige Programm dieses Polizeischufts, dem der gekrönte Schwachsinn die Geschicke des Landes in die Hand gegeben hatte. Die Schalen der Regierungswaage schwankten in diesem Augenblick: Witte oder Trepow? Das konstitutionelle Experiment ausdehnen oder dasselbe in einem Pogrom ertränken? Dutzende von Städten wurden in den Flittertagen des neuen Kurses zum Schauplatze von blutigen Ereignissen, deren Fäden sich in den Händen Trepows befanden.

Aber Mendelssohn und Rothschild waren für die Konstitution, die Gesetze Mosis sowie die Gesetze der Börse verboten ihnen gleicherweise den Gebrauch frischen Blutes. Darin lag die Macht Wittes. Die offizielle Stellung Trepows geriet ins Wanken – Petersburg war sein letzter Tummelplatz gewesen

Der Augenblick war äußerst kritisch und verantwortungsvoll. Der Delegiertenrat hatte weder ein Interesse, noch den Wunsch, Witte zu unterstützen, einige Tage später zeigte er dies auf sehr deutliche Weise. Aber noch weniger konnte er natürlich die Absicht haben, etwa Trepow zu halten. Indessen bedeutete: auf die Straße gehen ebenso viel, wie diesem Manne in die Hände arbeiten. Selbstverständlich war die politische Lage durch den Konflikt zwischen Börse und Wachstube nicht erschöpft. Man konnte sich ebenso über Witte als über Trepow stellen und bewussterweise dem Zusammenstoße entgegengehen, um beide vom Schauplätze ihrer Tätigkeit hinwegzufegen. In ihrer allgemeinen Richtungslinie entsprach das Vorgehen des Rates gerade einer solchen Politik: er ging mit offenen Augen und im Bewusstsein dessen, was kommen musste, dem unvermeidlichen Konflikt entgegen. Nichtsdestoweniger hielt er sich aber nicht für berufen, ihn zu beschleunigen. Je später, desto besser. Die entscheidende Schlacht anlässlich der Trauerkundgebung liefern und gerade in einem Augenblick, da die titanenhafte Anspannung des Oktoberstreiks bereits nachließ, hieß, in einen ungeheuerlichen Fehler fallen.

Der Verfasser dieses Buches – er hält es für nötig, darauf hinzuweisen, weil er später oft bittere Vorwürfe hören musste – stellte den Antrag, die geplante Trauerkundgebung abzusetzen. Am 4. November wurde um 1 Uhr nachts in einer außerordentlichen Sitzung des Delegiertenrates nach leidenschaftlichen Debatten mit erdrückender Stimmenmehrheit die von uns vorgelegte Resolution angenommen. Sie lautete:

„Der Arbeiter-Delegiertenrat hatte die Absicht, für die Opfer der Mordtaten der Regierung ein feierliches Leichenbegängnis zu veranstalten. Jedoch die friedliche Absicht der Petersburger Arbeiter brachte alle blutbefleckten Vertreter des verendenden Regimes auf die Beine. General Trepow, der über die Leichen des 22. Januar zur Machthöhe empor geschritten ist und angesichts der Revolution nichts mehr zu verlieren hat, hat heute das Petersburger Proletariat das letzte Mal zum Kampfe herausgefordert. Trepow lässt in seiner Erklärung in frecher Weise deutlich durchblicken, dass er auf den friedlichen Zug die von der Polizei bewaffneten Banden der Schwarzen Hunderte hetzen will, um dann, unter dem Vorwande der Beruhigung, aufs Neue die Straßen von Petersburg mit Blut zu überschwemmen ...

In Anbetracht dieses teuflischen Planes erklärt der Delegiertenrat: das Proletariat von Petersburg liefert der zarischen Regierung seine letzte Schlacht nicht an dem Tage, den Trepow gern wählen möchte, sondern dann, wenn es dem organisierten und bewaffneten Proletariat günstig erscheint. Daher beschließt der Delegiertenrat: statt des großen Trauerzuges überall achtunggebietende Versammlungen zur Ehrung der Opfer abzuhalten, dabei dessen eingedenk zu sein, dass die gefallenen Kämpfer uns durch ihren Tod gemahnt haben, unsere Kräfte zu verzehnfachen für die Sache der Selbstwehr und der Näherbringung jenes Tages, wo Trepow zusammen mit der ganzen Polizistenbande auf den großen Schutthaufen der zertrümmerten Monarchie geworfen werden wird.“

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Anmerkung

A. Beim Grafen Witte, Skizze von P. A. Slydnew, Mitglied der Deputation, in dem Kollektivwerke: Die Geschichte des Arbeiter-Delegiertenrates von Petersburg, 1906.

Das Exekutivkomitee beschloss nach empfangener Meldung der Deputation, „dem Vorsitzenden des Arbeiter-Delegiertenrates aufzutragen, den Brief an den Vorsitzenden des Ministerkomitees zurückzustellen.“


Zuletzt aktualiziert am 1. Januar 202j