Leo Trotzki

Russland in der Revolution

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Erster Teil
Die Tage des Kampfes

Die letzten Tage des Rats

Nach der Verhaftung Chrustaljows den öffentlichen Kampfplatz zu verlassen, war für den Rat unmöglich, als freigewähltes Parlament der Arbeiterklasse wurde er gerade durch den offen zur Schau getragenen Charakter seiner Tätigkeit stark. Die eigene Organisation auflösen, hieß wiederum, dem Feinde freiwillig die Festungstore öffnen. So blieb nur der alte Weg übrig: dem Konflikt die Stirn zu bieten. In der Sitzung des Exekutivkomitees am 9. Dezember beantragte der Vertreter der sozial-revolutionären Partei, eine Erklärung zu veröffentlichen, dass der Rat jede einzelne Repressivmaßregel der Regierung mit einem terroristischen Akte quittieren werde. Wir traten diesem Vorschläge entgegen: jetzt, wo uns nur kurze Zeit von der Eröffnung der Feindseligkeiten trennte, musste vor allem und sobald als möglich das Band, das uns mit den anderen Städten, den Bauern, den Eisenbahnen, den Post- und Telegraphenbeamten und der Armee vereinigte, straff gezogen werden (zu diesem Zwecke waren bereits Mitte November zwei Delegierte entsandt worden: der eine in den Süden, der andere in die WoIgarayons). Für uns stand fest, dass die Jagd auf einzelne Minister nur geeignet gewesen wäre, die ganze Energie und Aufmerksamkeit des Exekutivkomitees in Anspruch zu nehmen. Demgemäß beantragten wir, in der allgemeinen Sitzung des Rats folgende Resolution einzubringen:

„Am 9. Dezember wurde der Vorsitzende des Arbeiterdelegiertenrats, Genosse Chrustaljow-Nossar, von der Regierung verhaftet. Der Arbeiterdelegiertenrat wählt ein provisorisches Präsidium und fährt fort, sich zu dem bewaffneten Aufstand vorzubereiten.“

Als Präsidiumskandidaten wurden drei Personen in Vorschlag gebracht: der Kassierer Wedenski, der Delegierte von den Obuchowschen Werken, Arbeiter Slydnew, und der Referent des Exekutivkomitees Janowski (unter diesem Namen figurierte im Rate der Verfasser dieses Buches).

Die Plenarsitzung des Rats fand am folgenden Tage, wie üblich, in voller Öffentlichkeit statt. Zur Stelle waren 302 Delegierte. Es herrschte eine nervöse Stimmung, viele Mitglieder des Rats verlangten eine unverzügliche und unzweideutige Antwort auf den Guerillaüberfall der Regierung. Nach kurzer Diskussion aber nimmt die Versammlung die Resolution des Exekutivkomitees einstimmig an und wählt in geheimer Ballotierung die von ihm vorgeschlagenen Kandidaten.

Der an der Sitzung teilnehmende Vertreter des Komitees des Bauernbundes erstattet Bericht über die Resolution, die auf dem Bauerntag im November zur Annahme gelangt war: „Der Regierung weder Rekruten, noch Steuern zu geben und die Einlagen von der Reichsbank und den Sparkassen abzuheben.“ In Anbetracht des Umstandes, dass das Exekutivkomitee bereits am 6. Dezember eine Resolution fasste, die die Arbeiter einlud, „angesichts des drohenden Staatsbankrotts den Lohn nur in Gold anzunehmen und ihre Einlagen aus den Sparkassen zurückzuverlangen, wird beschlossen, diese Maßnahmen des Finanzboykotts nunmehr zu verallgemeinern und sie in einem Manifest an das Volk im Namen des Rats, des Bauernbundes und der sozialistischen Parteien auseinanderzusetzen.

Ob es möglich sein wird, die Sitzungen des proletarischen Parlaments weiter stattfinden zu lassen? Gewissheit darüber ist nicht vorhanden. Die Versammlung einigt sich, falls es unmöglich sein sollte, den Rat einzuberufen, seine Funktionen auf das Exekutivkomitee zu übertragen, dessen Mitgliederzahl vorher erweitert werden sollte. Nach der Verhaftung des Rats am 16. Dezember gingen diesem Beschlusse zufolge sämtliche Vollmachten auf das Exekutivkomitee des zweiten Rats über.

Darauf nimmt die Versammlung die warmen Begrüßungen entgegen, die ihr im Namen der klassenbewussten Soldaten der finnländischen Bataillone, der Polnischen Sozialistischen Partei und des Allrussischen Bauernbundes übermittelt werden. Der Delegierte des letzteren verheißt die brüderliche Unterstützung der revolutionären Bauernschaft in der Stunde der Entscheidung. Unter unbeschreiblichem Jubel der Delegierten und der Gäste, donnerndem Applaus und begeisterten Zurufen tauschen die Vertreter des Bauernbundes und der Vorsitzende des Rats einen Händedruck. Erst in tiefer Nacht löst sich die Versammlung auf. Als letzte verlässt ihren Posten die, wie gewöhnlich, auf Befehl des Stadthauptmanns am Eingang Wache haltende Polizeiabteilung. Zur Charakteristik der Situation ist es nicht uninteressant, zu erwähnen, dass gerade an demselben Abend ein subalterner Polizeibeamter im Auftrage desselben Stadthauptmanns eine legale und friedliche Versammlung der liberalen Wähler mit Miljukow an der Spitze aufhob. ...

Die Mehrzahl der Petersburger Fabriken schloss sich der Resolution des Rats an, die auch in den Resolutionen der Arbeiterräte von Moskau und Samara, des Eisenbahner- und des Post- und Telegraphenbeamtenverbandes, wie einer Reihe örtlicher Organisationen lebhaften Widerhall fand. Selbst das Zentralbüro des Verbandes der Verbände erklärte sich mit dem Beschluss des Rats solidarisch und erließ einen Aufruf an „alle lebendigen Elemente des Landes“, dass man sich zu dem nahen politischen Streik und „dem letzten bewaffneten Zusammenfloß mit den Feinden der Volksfreiheit“ rüsten möge.

Indes in der liberalen und radikalen Bourgeoisie hatten sich die Oktober-Sympathien für das Proletariat bereits abgekühlt. Die Lage spitzte sich von Tag zu Tag immer mehr zu und der Liberalismus, erbittert über die eigene Tatenlosigkeit, eiferte und murrte gegen den Rat. Der gewöhnliche Spießbürger, der mit der Politik wenig Fühlung hatte, zeigte gegenüber dem Rat ein Verhalten, das aus Wohlwollen und Ehrfurcht zugleich gemischt war.

Wenn er fürchtete, auf der Reise von einem Eisenbahnerstreik überrascht zu werden, eilte er in das Büro des Rats, um Erkundigungen einzuziehen. Hierher kam er auch während des Post- und Telegraphenbeamtenstreiks, um sein Telegramm aufzugeben; wurde dessen Inhalt von dem Büro für wichtig genug befunden, so war die Beförderung gesichert. In dem einen Falle wandte sich die Witwe des Senators B. nach vergeblichen Versuchen in allen möglichen Ministeriumskanzleien schließlich an den Rat, um die Absendung einer Depesche in einer sehr wichtigen Familienangelegenheit zu erwirken. Die schriftliche Order des Rats entband von der Befolgung des Gesetzes. So erklärte sich eine Gravieranstalt bereit, für den verbotenen Post- und Telegraphenverband einen Stempel anzufertigen, wenn sie die schriftliche „Genehmigung“ des Rats bekäme. Die Nordbank honorierte dem Rat einen Scheck, dessen Frist bereits abgelaufen war. Das Druckereipersonal des Marineministeriums fragte bei dem Rat an, ob es in den Ausstand treten solle. Der Rat war es auch, bei dem man vor Privatpersonen, Beamten und selbst der Regierung Schutz suchte. Als über das Livländische Gouvernement der Kriegszustand verhängt wurde, ersuchte der lettische Teil der Petersburger Bevölkerung den Rat, zu dieser neuen Gewalttat der Regierung „sein Wort zu äußern“. Am 13. Dezember erschienen vor dem Rat Abgesandte des Verbandes der Sanitätsdiener, die das Rote Kreuz unter glänzenden Versprechungen in den Krieg gelockt hatte, um sie dann mit leeren Händen zu entlassen. Die Verhaftung des Rats unterbrach den Schriftwechsel, der sich in dieser Angelegenheit zwischen dem Rat und der Hauptverwaltung des Roten Kreuzes entsponnen hatte. In den Lokalitäten des Rats drängten sich stets allerlei Bittsteller, Fürsprecher, Beschwerdeführer, Benachteiligte: in der Regel Arbeiter, Dienstboten, Handlungsgehilfen, Bauern, Soldaten, Matrosen. ... Sie hatten manchmal eine ganz phantastische Vorstellung von der Machtweite des Rats. Aus den entlegensten Gegenden des Reichs trafen Erklärungen und Gesuche ein. Die Bewohner eines Kreises in einem der polnischen Gouvernements sandten nach dem Novemberstreik an den Rat ein Danktelegramm. Ein alter, im Gouvernement Poltawa ansässiger Kosak beschwerte sich über die Ungerechtigkeit der Fürsten Rjepnin, die ihn ganze 28 Jahre als Gutsschreiber ausgebeutet und dann ohne Angabe der Gründe aus dem Dienste gejagt hatten. Der Greis bat, auf die Fürsten Rjepnin einzuwirken. Das Kuvert, das dieses interessante Gesuch einschloss, trug nur die Aufschrift: Petersburg, an die Arbeiterverwaltung – dennoch stellte die revolutionäre Post den Brief richtig zu. Aus dem Gouvernement Minsk traf ein Deputierter speziell von einer Erdarbeitergenossenschaft ein, der der Gutsbesitzer den Lohn (3.000 Rubel) in Aktien unter dem Kurswert auszahlen wollte. „Was sollen wir tun?“ fragte der Bote. „Nehmen möchten wir, haben aber Angst. ... Nun haben wir gehört, Eure Regierung will, dass jeder Arbeiter seinen Lohn in klingender Münze bekomme: in Gold oder Silber.“ Es stellte sich heraus, dass die Aktien des Gutsbesitzers fast gar keinen Wert hatten ... – Die Nachrichten über den Rat begannen erst gegen das Ende seiner Tätigkeit, das Dorf zu erreichen. Nun wurden die Fälle immer häufiger, wo die Bauern den Rat in ihren Angelegenheiten konsultieren wollten. Die Tschernigower baten, sie mit der örtlichen sozialistischen Organisation zu verbinden; die Mogilewer schickten Boten mit den Beschlüssen einiger Dorfversammlungen, dass sie Hand in Hand mit den städtischen Arbeitern und dem Rate handeln wollten. ...

Ein mächtiges Arbeitsfeld eröffnete sich dem Rat – ringsherum lagen unübersehbare Gebiete politischen Brachlandes, die noch der tiefen Beackerung durch den revolutionären Pflug harrten. Aber die Zeit stand nicht still. Die Reaktion schmiedete fieberhaft ihre Ränke – und der Schlag konnte jeden Augenblick niedersausen. Neben der Masse der laufenden Arbeit, die bewältigt werden musste, suchte das Exekutivkomitee mit aller Kraftanspannung die Beschlüsse vom 10. Dezember durchzuführen. Es erließ einen Aufruf an das Militär (siehe Der Novemberstreik) und nahm in gemeinsamer Beratung mit den Vertretern der revolutionären Parteien den vom Genossen Parvus vorgeschlagenen Text zu dem „Finanzmanifest“ an. Am 15. Dezember wurde das Manifest in acht Petersburger Zeitungen veröffentlicht, vier sozialistischen und vier liberalen. Wir lassen hier dieses historische Dokument in seinem vollen Wortlaut folgen:

„Manifest

Die Regierung steht am Rande des Bankrotts. Sie hat das Land in Trümmer verwandelt und sie mit Leichnamen übersät. Die Verhungerten und ermatteten Bauern sind nicht imstande, die Steuern zu zahlen. Die Regierung hat aus den Volksgeldern der Gutsbesitzerschaft Kredit eröffnet. Jetzt weiß sie nicht, was sie mit den verpfändeten Gutshöfen anfangen soll. Die Fabriken und Industriewerke feiern. Es gibt keine Arbeit. Der Handel stockt allerorts. Die Regierung baute mit den im Ausland geliehenen Kapitalien Eisenbahnen, eine Flotte, Festungen, versah sich mit Waffen. Nun sind die ausländischen Quellen versiegt – und die Kronbestellungen haben ein Ende. Der Kaufmann, der Lieferant, der Unternehmer, der Fabrikant, alle gewohnt, sich auf Staatskosten zu bereichern, bleiben ohne Profit und schließen ihre Kontore und Fabriken. Ein Bankrott löst den anderen ab. Die Bankhäuser brechen zusammen. Alle Handelsumsätze sind aufs Äußerste reduziert.

Der Kampf der Regierung mit der Revolution schafft unaufhörliche Unruhen. Niemand weiß mit Gewissheit, was der nächste Tag bringen wird.

Das ausländische Kapital fließt zurück über die Grenze. Aber auch das „echt russische“ Kapital nimmt an dieser Flucht in die ausländischen Banken teil. Die Reichen machen ihre Gelder flüssig und retten sich über die Grenze. Die Räuber fliehen aus dem Lande und nehmen das Volksgut mit sich.

Die Regierung vergeudete von jeher alle Staatseinnahmen auf die Armee und die Flotte. Schulen fehlen. Die Verkehrswege sind in verwahrlostem Zustande. Trotzdem mangelt es sogar an den zur Verpflegung der Soldaten nötigen Geldern. Der Krieg ist zum Teil deswegen verloren, weil es an Kriegsvorräten fehlte. Über das ganze Land ergießen sich die Aufstände der verelendeten und hungrigen Armee.

Die Eisenbahnwirtschaft liegt danieder, eine Masse von Linien ist durch die Regierung verheert. Um das Eisenbahnwesen zu sanieren, sind viele Hunderte von Millionen nötig.

Die Regierung hat die Sparkassen geplündert und die Einlagen zur Unterstützung privater Banken und Industrieunternehmungen verwendet, die nicht selten auf Schwindet aufgebaut waren. Mit den Kapitalien kleiner Deponenten spielt sie an der Börse und setzt sie täglich dem Risiko aus.

Der Goldbestand der Staatsbank ist nichtig im Vergleich zu den Forderungen aus den Staatsanleihen und den Bedürfnissen des Handelsumsatzes. Er wird zu Staub werden, sobald man den Eintausch in goldener Münze zu fordern beginnt

Weil sie in Finanzdingen keine Kontrolle über sich weiß, schließt die Regierung seit langem Anleihen ab, die die Zahlkräfte des Landes weit übersteigen. Mit neuen Anleihen deckt sie die Zinsen, die die alten verschlingen.

Jahrein, jahraus fabriziert die Regierung lügnerische Bilanzen, in denen sowohl die Einkünfte, als auch die Ausgaben niedriger als in Wirklichkeit angegeben werden, – sie raubt und stiehlt nach Belieben und setzt ein Plus anstatt des jährlichen Minus. Von jeder Rechenschaft befreit, plündern die Beamten den ohnehin schon erschöpften Staatssäckel.

Diesen Finanzruin aufhalten kann nur die Konstituante nach vorangegangenem Sturz des autokraten Regimes. Sie wird die strenge Sichtung der Staatsfinanzen in die Hand nehmen und eine detaillierte, klare, genaue und scharf geprüfte Zusammenstellung der Staatseinkünfte und -ausgaben (das Budget) liefern.

Die Furcht vor der Kontrolle durch das Volk, die vor der ganzen Welt die finanzielle Insolvenz der Regierung bloßlegen wird, zwingt diese, die Einberufung der Volksvertretung in die Länge zu ziehen.

Der finanzielle Bankrott des Staats ist von der Autokratie ebenso herbeigeführt worden, wie sein militärischer Bankrott Der Volksvertretung erwächst nur die Aufgabe, so rasch als möglich das Schuldenkonto zu verrechnen.

Indem sie ihr Raubsystem verteidigt, zwingt die Regierung das Volk zu einem Kampfe um Leben und Tod mit ihr. In diesem Kampfe fallen und werden ruiniert hunderttausende Bürger und stürzen in ihren Grundlagen Produktion, Handel und Verkehrsmittel zusammen.

Es gibt nur einen Ausweg – die Regierung zu stürzen, ihr die letzten Machtmittel zu entziehen. Man muss ihr die letzte Lebensquelle – die Finanzeinkünfte – unterbinden. Dies ist eine unerlässliche Vorbedingung nicht nur für die politische und ökonomische Emanzipierung des Volkes, sondern, im Einzelnen, auch für die Festigung der Finanzwirtschaft des Staates.

Wir beschließen daher:

Die Einzahlung der Loskaufsgelder, ebenso wie die Leistung aller Staatsabgaben zu verweigern. Bei allen Geschäftsoperationen, bei der Ausfolgung des Arbeitslohns und des Gehalts die Auszahlung in Gold zu fordern, bei Summen unter fünf Rubel – in vollwichtiger, klingender Münze.

Die Einlagen von den Sparkassen und der Staatsbank abzuheben und dabei Begleichung der ganzen Summe in Gold zu fordern.

Die Regierung hat nie das Vertrauen des Volkes besessen und von ihm keine Vollmachten gehabt.

Im gegenwärtigen Augenblicke geriert sich die Regierung im eigenen Lande, wie in einem eroberten Gebiet.

Wir beschließen daher, dass die Schulden aus allen Anleihen, die die Regierung während ihres offenen und unverhüllten Kriegs mit dem gesamten Volk abgeschlossen hat, nicht zur Zahlung gelangen dürfen.

 

Der Arbeiterdelegiertenrat.

Das Hauptkomitee des Allrussischen Bauernbundes.

Das Zentralkomitee und die Organisationskommission der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

Das Zentralkomitee der Sozialrevolutionären Partei.

Das Zentralkomitee der Polnischen Sozialistischen Partei.“

Selbstverständlich konnte an sich selbst dieses Manifest weder den Zaren, noch seine Finanzen zu Boden werfen. Ein solches Wunder erhoffte ein halbes Jahr später die erste Duma von ihrem Wyborger Aufruf, in dem die Bevölkerung zur friedlichen Steuerverweigerung – „nach englischem Muster“ – aufgefordert wurde. Das Finanzmanifest des Rats war nichts anderes als eine Einleitung zu dem Dezemberaufstand. Durch Streik und Barrikadenkämpfe gestützt, weckte es ein mächtiges Echo im ganzen Lande. Während im Dezember der drei vorhergegangenen Jahre die Einlagen in den Sparkassen die Abhebungen um 4 Millionen Rubel überstiegen, betrugen im Dezember 1905 die Abhebungen um 90 Millionen mehr, als die Einlagen, – das Manifest hatte im Laufe eines einzigen Monats die Regierungsreservoire um 94 Millionen Rubel ärmer gemacht! Als der Aufstand von den zarischen Horden niedergetreten wurde, stellte sich in den Sparkassen das alte Gleichgewicht wieder ein. ...

* * *

In den ersten Tagen des Dezember wurde über die Stadt und den Kreis Kiew, die Gouvernements Livland, Tschernigow, Saratow, Pensa und Simbirsk – die Hauptschauplätze der Agrarrevolten – der Kriegszustand verhängt; am 7. Dezember, dem Tage der Einführung der „temporären“ Pressbestimmungen, erfuhren die Befugnisse der Gouverneure und Stadthauptleute eine ganz hervorragende Erweiterung; am 11. wurde die „temporäre“ Generalgouvernatur für die Ostseeprovinzen errichtet; am 12. erhielten die örtlichen Satrapen das Recht, im Falle des Ausbruchs eines Eisenbahn- oder Post- und Telegraphenbeamtenstreiks nach eigenem Ermessen über die ihnen unterstellten Gebiete den Ausnahmezustand zu verhängen. Am 14. Dezember wurde eine auf rasche Hand zusammengelesene buntscheckige Deputation, aus erschreckten Gutsbesitzern, Mönchen und städtischen Pogromisten bestehend, von Nikolaus in Zarskoje Selo empfangen. Sie forderte die schonungsloseste Bestrafung der Bösewichter und der beamteten Helfershelfer jeden Ranges; ohne sich mit dieser durchsichtigen Anspielung auf den Grafen Witte zu begnügen, erklärte sie noch genauer: „Durch selbstherrlichen Befehl beordere andere Vollstrecker Deines Monarchenwillens“. Und dieser schmutzigen Bande aus Junkern schlimmster Sorte und bezahlten Plünderern gab der Zar zur Antwort: „Ich empfange Euch in der Zuversicht, echte Söhne Russlands, mir und dem Throne von jeher ergeben, vor mir zu sehen.“ – Auf ein aus dem Zentrum erteiltes Signal werden von der Provinzadministration eine Unmenge von Dankadressen im Namen der Bauern und der Städter an die allerhöchste Person abgesandt. Der „Verband des russischen Volks“, der offenbar zu jener Zeit das erste bedeutende Geldsubsidium erhielt, veranstaltet eine Reihe von Meetings und verbreitet die pogromistisch-patriotische Literatur. Am 15. Dezember werden acht Zeitungen konfisziert und unterdrückt, weil sie das Finanzmanifest des Rats veröffentlichten. An demselben Tage erscheinen die Zwangsgesetze gegen die Streiks und die Verbände von Eisenbahn-, Post- und Telegraphenangestellten, worin Übertretungen mit Gefängnishaft bis zu 4 Jahren geahndet werden. Die revolutionären Blätter bringen am 15. Dezember eine abgefangene Verfügung des Woronescher Gouverneurs, in der mit Bezugnahme auf das Durnowosche Zirkular streng vertraulich anbefohlen wird, „unverzüglich alle Rädelsführer der Antiregierungs- und Agrarbewegung in Erfahrung zu bringen und in dem örtlichen Gefängnis zu internieren, zwecks Eröffnung des Verfahrens gegen sie im Einklang mit der Weisung des Herrn Ministers des Innern“. Die Regierung tritt zum ersten Mal mit der drohenden Erklärung vor die Öffentlichkeit: die extremen Parteien haben sich das Ziel gesteckt, die ökonomischem gesellschaftlichen und politischen Grundlagen des Staats zu stürzen; die Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre sind im Grunde Anarchisten, – sie erklären der Regierung den Krieg, verleumden die Gegner, hindern die Gesellschaft, die Wohltaten der neuen Ordnung zu genießen; sie zetteln Streiks an, um die Arbeiter in das Material der Revolution zu verwandeln. „Das (von der Regierung!) vergossene Blut vermag in ihnen (den Revolutionären!) keine Gewissensqualen hervorzurufen.“ Falls die üblichen Mittel diesen Erscheinungen gegenüber versagen, so werde „unzweifelhaft die Ergreifung ganz außerordentlicher Maßregeln sich als notwendig erweisen“

Die Standesinteressen der Privilegierten, die Angst der Besitzenden, die rachsüchtige Wut der Bürokratie, die Bereitwilligkeit der Käuflichen, der finstere Hass der Betörten – alles hatte sich zu dem einen scheußlichen, blutig-schmutzigen Klumpen der Reaktion zusammengeballt. Aus Zarskoje Selo flossen die Gelder, das Ministerium Durnowo flocht die Schlingen der geheimen Verschwörung, die Bravos schleiften die Messer. ...

Die Revolution aber wuchs lawinenartig an. Immer neue und neue Kader schlossen sich ihrem Kern, dem industriellen Proletariat, an. In den Städten fanden Meetings von Dworniks, Portiers, Köchen, Dienstboten, Kellnern. Dielenbohnern, Badedienern, Wäscherinnen statt. In den Versammlungen und in der Presse tauchen ganz neuartige Figuren auf: „bewusste“ Frontkosaken, Stationsgendarmen, Schutzleute, Revieraufseher und sogar reuige Polizeispitzel. Das soziale Erdbeben schleudert aus geheimnisvollen Tiefen immer neue Schichten an die Oberfläche, an deren Existenz in friedlichen Zeiten niemand denkt. Subalternbeamte, Gefängnisaufseher, Militärschreiber wechseln einander in den Redaktionsräumen der revolutionären Zeitungen ab. Der Novemberstreik hatte eine ungeheure Wirkung auf die Armee gehabt. Eine Flut von militärischen Meetings ergoss sich über das ganze Land. Der Geist des Aufruhrs schwebte in den Kasernen, Hier entsteht die Unzufriedenheit gewöhnlich auf dem Boden der Kasernenbedürfnisse, greift rasch um sich und nimmt eine politische Färbung an. Von Mitte November an ereignet sich eine Reihe der allerernstesten militärischen Unruhen in Petersburg (unter den Matrosen), Kiew, Jekaterinodar, Elisawetpol, Proskurow, Kursk, Lomscha. ... In Warschau fordern die Gardisten die Freilassung der verhafteten Offiziere. Von überall her wird gemeldet, dass die Mandschureiarmee von den Flammen des Aufruhrs ergriffen sei. Am 11. Dezember wird in Irkutsk (Sibirien) ein Meeting abgehalten, an dem die ganze Garnison der Stadt in der Stärke von 4.000 Mann teilnimmt. Unter dem Vorsitz eines Unteroffiziers wird die Resolution gefasst, sich der Forderung der Konstituante anzuschließen. In vielen Städten fraternisieren die Soldaten bei den Meetings mit den Arbeitern. Am 15. und 16. Dezember beginnen die Unruhen unter der Moskauer Garnison; Meetings, an denen sogar Kosaken teilnehmen, Demonstrationszüge durch die Straßen unter den Klängen der Marseillaise, Entfernung der Offiziere aus einigen Regimentern. ... Und endlich als revolutionärer Hintergrund für die von mächtigem Fieber ergriffene Stadt – die vom Feuer der Bauernaufstände lodernden Gouvernements. Anfang Dezember ergießen sich die Agrarrevolten über eine lange Reihe von Kreisen: im Zentrum, in der Nähe von Moskau, längs der Wolga, am Don, im Königreich Polen, – überall eine ununterbrochene Kette von Aufständen, Plünderung der Monopolbranntweinläden, Brandstiftungen, Wegnahme von Land und Habe. ... Das ganze Gouvernement Kowno ist von dem Aufstand der litauischen Bauern erfasst. Aus Livland kommen Nachrichten, eine beunruhigender als die andere. Die Gutsbesitzer fliehen von ihren Gütern, die Provinzadministratoren lassen ihre Posten im Stiche.

Man braucht sich nur klar das Bild vorzustellen, das Russland in jenen Tagen bot, um zu begreifen, wie unabwendbar der Dezemberzusammenstoß gewesen ist. „Man hätte dem Kampfe ausweichen müssen!“ sagen hinterher einige Weise, als wenn es sich um eine Schachpartie gehandelt hätte und nicht um die elementare Bewegung von Millionen! ...

* * *

„Der Arbeiterdelegiertenrat“, schrieb die Nowoje Wremja, „lässt den Mut nicht sinken, sondern fährt fort, energisch zu handeln und druckt seine Anordnungen in rein spartanischer Sprache, kurz, klar und verständlich, was man keineswegs von der Regierung des Grafen Witte behaupten kann, die der langatmigen und langweiligen Redeweise einer melancholischen Maid den Vorzug gibt.“

Am 16. Dezember aber begann die Regierung Witte ihrerseits „kurz, klar und verständlich“ zu sprechen: sie umringte das Gebäude der Freien Ökonomischen Gesellschaft mit Truppen aller Waffengattungen und verhaftete den Rat.

Um 4 Uhr nachmittags trat das Exekutivkomitee zu einer Sitzung zusammen. Durch die Konfiskation der Zeitungen, die Zwangsgesetze gegen die Streiks und das Verschwörertelegramm Durnowos war die Tagesordnung in Vorhinein gegeben. Der Vertreter des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Partei beantragt im Namen der Partei: Die Herausforderung der Regierung anzunehmen, unverzüglich sich mit allen revolutionären Organisationen des Landes in Verbindung zu setzen, den Tag der Eröffnung des allgemeinen politischen Streiks zu bestimmen, alle Kräfte, alle Reserven zur Mitwirkung aufzurufen und, gestützt auf die Agrarrevolten und die Unruhen unter dem Militär, dem entscheidenden Kampfe entgegenzugehen. ... Der Delegierte des Eisenbahnerverbandes drückt die Gewissheit aus, dass die für den 19. Dezember einberufene Eisenbahnerkonferenz sich unzweifelhaft für den Streik aussprechen werde. ... Der Vertreter des Post- und Telegraphenbeamtenverbandes unterstützt den Antrag der Partei und hofft, dass die gemeinsame Aktion dem abflauenden Post- und Telegraphenbeamtenstreik neues Leben einhauchen werde. ... Die Diskussionen werden durch die Nachricht unterbrochen, dass heute die Verhaftung des Rats erfolgen solle. Eine halbe Stunde später trifft die Bestätigung dieser Nachricht ein. Inzwischen hatte sich der große Sitzungssaal mit Delegierten, Parteivertretern, Korrespondenten und Gästen gefüllt. Das Exekutivkomitee, das seine Sitzung im zweiten Stock abhielt, beschloss, einige seiner Mitglieder weggehen zu lassen, um im Falle einer Verhaftung nicht ohne Nachfolger zu bleiben. Aber zu spät! Das Gebäude war bereits von Mannschaften des Ismailowschen Garderegiments, berittenen Kosaken, Schutzleuten und Gendarmen umstellt. ... Stampfen der Füße, Sporengeklirr, Waffengerassel erfüllen die Räume. Von unten dringen die stürmischen Proteste der Delegierten herauf. Der Vorsitzende geht auf die Galerie hinaus und ruft in den Sitzungsaal hinab: „Genossen! Keinen Widerstand leisten! Wir erklären im Voraus, dass hier nur der Schuss eines Provokateurs oder Polizeibeamten ertönen kann!“

Wenige Minuten später steigen die Soldaten zum zweiten Stock hinauf und fassen am Eingang zum Zimmer des Exekutivkomitees Posten.

Der Vorsitzende (sich zum Offizier wendend): „Ich ersuche, die Tür zu schließen und uns in unserer Arbeit nicht zu stören.“ Die Soldaten bleiben im Korridor, die Tür wird aber nicht geschlossen. Der Vorsitzende: „Die Sitzung geht weiter. Wer wünscht das Wort?“

Der Vertreter des Handelsangestelltenverbandes: „Durch ihren heutigen Akt roher Gewalt hat die Regierung die Argumente zugunsten des allgemeinen Streiks nur noch verstärkt. Sie hat den Streik im Voraus bestimmt. ... Der Ausgang des neuen entscheidenden Auftretens des Proletariats hängt von der Haltung der Truppen ab. So mögen sie sich zum Schutze der Heimat erheben! (Der Offizier schließt eiligst die Tür. Der Redner erhebt die Stimme.) Auch durch die geschlossene Tür wird der brüderliche Ruf der Arbeiter, die Stimme des zermarterten Landes zu den Soldaten dringen.“ ... Die Tür öffnet sich, ein Gendarmerierittmeister, bleich wie der Tod – er fürchtete, eine Kugel zu bekommen! – drückt sich ins Zimmer herein, ihm nach etwa zwei Dutzend Schutzleute, die sich hinter den Stühlen der Delegierten ausstellen.

Der Vorsitzende: „Ich erkläre die Sitzung des Exekutivkomitees für geschlossen.“

Von unten schallt ein lautes und rhythmisch-metallisches Geräusch herauf – als hieben dort eine Reihe Schmiede auf den Amboss ein. Das sind die Delegierten, die ihre Brownings unbrauchbar machen, um sie nicht in die Hände der Polizei fallen zu lassen.

Nun beginnt die Durchsuchung. Alle weigern sich, ihre Namen zu nennen. Durchsucht, ausnotiert und nummeriert treten die Delegierten unter den Konvoi der halb betrunkenen Gardisten.

Der Petersburger Arbeiterdelegiertenrat war in den Händen der Verschwörer von Zarskoje Selo.


Zuletzt aktualiziert am 2. Januar 2025