Leo Trotzki

Russland in der Revolution

* * *

Erster Teil
Die Tage des Kampfes

Der Novemberstreik

Von einer Gefahr zur anderen, zwischen tausenden unterseeischen Riffen, steuerte das Oktoberministerium dahin – wohin? das wusste es selbst nicht.

Am 8. und 9. November brach in Kronstadt, drei Kanonenschussweiten von Petersburg entfernt, ein Militäraufstand aus. Der politisch fortgeschrittene Teil der Truppen versuchte vergeblich, die Massen vor einem plötzlichen Ausbruch zurückzuhalten, allein die elementare Wut durchbrach die gezogenen Schranken. Angesichts der Unmöglichkeit, den Aufstand zurückzuhalten, traten die besten Elemente der Armee an die Spitze dieser Bewegung. Es gelang ihnen aber trotzdem nicht, den von den Behörden provozierten Pogromen vorzubeugen, in denen die Banden des berüchtigten „Wundertäters“ Joann von Kronstadt die Hauptrolle spielten und die unentwickeltsten Elemente aus den Reihen der Matrosen mit sich fortrissen. Am 10. November wurde in Kronstadt der Kriegszustand proklamiert und der unglückselige Aufstand mit Waffengewalt niedergeschlagen. Den besten Soldaten und Matrosen der Armee drohte die Todesstrafe.

Am Tage der Zurückeroberung der Festung von Kronstadt erteilte die Regierung dem Lande eine ebenso deutliche wie vielversprechende Warnung, indem sie kurzweg in Polen den Kriegszustand erklärte: dies war der erste schöne Happen, den das Ministerium des Oktobermanifestes am elften Tage seiner Existenz der Petersburger Kamarilla zuwarf. Graf Witte nahm die Verantwortung für diesen Schritt voll und ganz auf sich und stellte im Regierungsbericht die verlogene Behauptung auf: die Polen hätten den frechen Versuch (!) unternommen, sich von Russland loszutrennen. Er warnte sie vor diesem gefährlichen Weg, „den sie nicht zum ersten Mal betreten hätten“. Doch schon am folgenden Tage sieht er sich zum Rückzuge gezwungen: Witte erklärte, dass die Regierung nicht so sehr mit wirklichen Tatsachen, wie – in Anbetracht der „übermäßigen Empfänglichkeit der Polen“ – mit den eventuellen Folgen, die die Entwicklung der Ereignisse nach sich ziehen könnte, gerechnet habe. Der Kriegszustand in Polen war also nach dieser Darstellung eine Art konstitutionellen Tributs, der dem politischen Temperament des polnischen Volkes gezollt wurde.

Am 11. November wurde der Kriegszustand in einer ganzen Reihe von Bezirken der Gouvernements Tschernigow, Saratow und Tambow, die von Agrarunruhen ergriffen waren, proklamiert. Auch die Tambowschen Bauern krankten also an „übermäßiger Empfänglichkeit“.

Allmählich gewahrte ja die liberale Gesellschaft, wohin der Weg Wittes führte, – und Schrecken erfasste sie. Aber sie war zu kraftlos und zu feig, sich aufzuraffen, und sie mochte noch so oft die Bewerbungen Wittes zurückweisen – insgeheim setzte sie ihre Hoffnungen doch auf ihn. In diesem Stadium der Dinge trat hinter Wittes Rücken Durnowo hervor, der genügend Intelligenz besaß, um aus dem Aphorismus von Cavour: „Der Belagerungszustand ist eine Regierungsmethode für Dummköpfe“, ein umgekehrtes Theorem für den eigenen Gebrauch zu konstruieren.

Der revolutionäre Instinkt verriet den Arbeitern, dass die Ignorierung dieser offenen Attacken der Konterrevolution nur ihre Dreistigkeit verstärken konnte. Am 11., 12. und 14. November fanden denn auch in den meisten Petersburger Fabriken Massenmeetings statt, die vom Delegiertenrate energische Protestmaßregeln verlangten.

Am 14. November wurde in einer zahlreich besuchten Sitzung des Arbeiter-Delegiertenrates und nach erregten und heftigen Debatten mit überwältigender Stimmenmehrheit nachfolgende Resolution angenommen:

„Die Regierung setzt ihren Sieg über Leichen fort. Sie überweist die mutigen Kronstädter Soldaten und Matrosen, die sich zur Verteidigung ihrer Rechte und der Volksfreiheit erhoben haben, dem Feldgericht. Sie warf die Schlinge des Kriegszustandes über das bedruckte Polen.

Der Arbeiter-Delegiertenrat fordert das revolutionäre Proletariat Petersburgs auf, vermittels eines allgemeinen politischen Streiks, der seine machtvolle Gewalt schon bezeugt hat, und durch allgemeine Protestmeetings seine brüderliche Solidarität mit den revolutionären Soldaten Kronstadts und dem revolutionären Proletariat Polens zu bekunden.

Morgen, den 15. November, 12 Uhr mittags, stellen die Arbeiter Petersburgs die Arbeit ein mit der Losung:

Nieder mit den Feldgerichten!

Nieder mit der Todesstrafe!

Nieder mit dem Kriegszustand in Polen und Russland!“

Der Erfolg dieser Aufforderung übertraf alle Erwartungen. Obwohl nach der Einstellung des Oktoberstreiks, der so viele und große Opfer gefordert hatte, kaum 2 Wochen vergangen waren, stellten die Arbeiter Petersburgs mit bewunderungswürdiger Einmütigkeit die Arbeit ein. Schon vor 12 Uhr streikten am 15. November alle großen Fabriken und Werke, die im Delegiertenrate vertreten waren. Viele mittlere und kleine Industriebetriebe, die noch keinen Anteil am politischen Kampf genommen hatten, schlossen sich jetzt dem Streik an, wählten aus ihrer Mitte Delegierte und entsandten sie in den Delegiertenrat. Das Gaukomitee des Petersburger Eisenbahnknotenpunktes schloss sich der Resolution des Delegiertenrates an, und alle Bahnen, ausgenommen die finnländische, stellten ihre Tätigkeit ein. Nach der Gesamtzahl der Arbeiter, die sich an ihm beteiligten, übertraf der Novemberstreik nicht nur den Streik im Januar, sondern auch den im Oktober. Es streikten nicht: Post- und Telegraphenbetriebe, Droschkenkutscher, die Pferdebahn und die Mehrzahl der Handlungsgehilfen. Von den Tageszeitungen erschienen nur: der Regierungsanzeiger, die Nachrichten des Petersburger Stadthauptmanns und die Nachrichten des Arbeiter-Delegiertenrates – die beiden ersteren unter militärischer Bedeckung, die letztere – unter dem Schutze bewaffneter Arbeitertrupps.

Diese Wendung kam Witte völlig überraschend. Zwei Wochen vorher hatte er geglaubt, dass ihm jetzt, wo die Macht in seinen Händen lag, nur übrig blieb, die Rolle des aufmunternden und hemmenden, drohenden und führenden Staatslenkers zu spielen. Der Novemberstreik, dieser zornige Protest des Proletariats gegen die Heuchelei der Regierung, belehrte ihn gründlich eines anderen und schlug ihn völlig aus seiner Position. Nichts charakterisiert so sehr seine Borniertheit in der Auffassung der revolutionären Ereignisse, seine kindliche Verwirrtheit und zugleich seinen aufgeblasenen Eigendünkel, wie das bekannte Telegramm, mit dem er das Proletariat zu beruhigen suchte. Es lautete wörtlich:

„Brüderchen, Arbeiter! Nehmt die Arbeit wieder auf, lasset ab von den Unruhen, habt Erbarmen mit Euren Frauen und Kindern. Folget nicht bösen Ratschlägen. Der Zar hat uns anbefohlen, der Arbeiterfrage besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zu diesem Zwecke hat seine Kaiserliche Majestät das Ministerium für Handel und Industrie eingesetzt, das die Aufgabe hat, gerechte Beziehungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern herzustellen. Lasset mir Zeit – und alles, was möglich ist, wird getan werden. Folget dem Ratschlage eines Mannes, der Euch gewogen ist und Euch Gutes wünscht. Graf Witte”

Dieses Telegramm, in dem feige Bosheit, mit dem Messer in der Tasche, sich zur Grimasse hochmütiger Leutseligkeit verzerrt, wurde in der Sitzung des Delegiertenrates am 16. November bekannt und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Unverzüglich wurde unter stürmischem Beifall eine von uns beantragte Antwort einmütig angenommen, die wir am folgenden Tage in den „Nachrichten des Delegiertenrates” veröffentlichten. Sie lautete: „Der Arbeiter-Delegiertenrat drückt nach Kenntnisnahme des Telegramms des Grafen Witte an die ‚Brüderchen, Arbeiter‘ vor allem sein höchstes Befremden aus über die Ungeniertheit des Zarengünstlings, der sich erlaubt, die Petersburger Arbeiter ‚Brüderchen‹ zu nennen. Die Proletarier stehen mit dem Grafen Witte in keinerlei verwandtschaftlichen Beziehungen.

Zur Sache selbst erklärt der Delegiertenrat folgendes:

    Graf Witte fordert uns auf, sich unserer Frauen und Kinder zu erbarmen. Der Arbeiter-Delegiertenrat erlässt als Antwort an alle Arbeiter die Aufforderung, festzustellen, um wie viel die Zahl der Witwen und Waisen in den Reihen der Arbeiterschaft zugenommen hat, seitdem Graf Witte im Besitz der Staatsgewalt ist.
     
    Graf Witte weist auf die gnädige Aufmerksamkeit hin, die der Zar der Arbeiterschaft unablässig schenkt. Der Arbeiter-Delegiertenrat braucht dem gegenüber das Proletariat Russlands nur an den Blutsonntag des 22. Januar zu erinnern.
     
    Graf Witte bittet, man möge ihm ‚Zeit&lbquo; lassen und verspricht ‚alles mögliche&lsqio; für die Arbeiter zu tun. Dem Arbeiter-Delegiertenrat ist bekannt, dass Graf Witte schon jetzt Zeit gefunden hin, um Polen militärischen Henkern auszuliefern, und der Arbeiter-Delegiertenrat zweifelt keineswegs, dass Graf Witte „alles mögliche“ tun wird, das revolutionäre Proletariat niederzuschlagen.
     
    Graf Witte versichert, dass er uns gewogen ist, uns zugetan und uns Gutes wünscht. Der Arbeiter-Delegiertenrat erklärt, dass die Arbeiterklasse der Gewogenheit zarischer Günstlinge nicht bedarf. Sie fordert die Einsetzung einer Regierung aus den Reihen des Volkes – auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.“

Gut informierte Personen teilten mit, dass der Graf einen Erstickungsanfall erlitt, als er die Antwort der streikenden „Brüderchen“ erhielt.

Am 18. November brachte die Petersburger Telegraphen-Agentur folgende Mitteilung: „In Anbetracht der in der Provinz (!) verbreiteten Gerüchte über die Anwendung des Kriegsgerichtes und der Todesstrafe gegenüber den Untermilitärs, die an den Unruhen in Kronstadt teilnahmen, sind wir berechtigt, zu erklären, dass alle derartigen Gerüchte verfrüht (?) und grundlos sind. ... Die Teilnehmer der Kronstädter Ereignisse wurden und werden nicht vom Feldgerichte abgeurteilt.“ Diese kategorische Erklärung bedeutete nichts anderes als eine Kapitulation der Regierung vor dem Streik, – diese Tatsache konnte zu einer Zeit, da das industrielle und Handelsleben der Residenz vom protestierenden Proletariat lahmgelegt worden war, durch den lächerlichen Hinweis auf Gerüchte in der „Provinz“ natürlich nicht vertuscht werden. In der Polenfrage gab die Regierung schon früher nach, indem sie ihre Absicht kundgab, den Kriegszustand in den polnischen Gouvernements aufzuheben, sobald dort „die Erregung nachgelassen hätte“. [A]

Am Abend des 18. November beantragte das Exekutivkomitee in der Sitzung des Delegiertenrates, von der Ansicht ausgehend, dass der höchste psychologische Moment schon erreicht sei, die Annahme einer Resolution zwecks Einstellung des Streiks. Zur Charakteristik der damaligen politischen Lage sei hier die Rede des Berichterstatters des Exekutivkomitees wiedergegeben:

„Soeben wurde hier“, so führte er aus, „ein Telegramm der Regierung verlesen, in dem erklärt wird, dass die Kronstädter Matrosen nicht dem Feldkriegsgericht, sondern dem Bezirksmilitärgericht übergeben werden sollen.

Das veröffentlichte Telegramm ist nichts anderes als eine Bestätigung unserer Macht. Wir können wiederum das Petersburger Proletariat zu einem ungeheuren moralischen Sieg beglückwünschen. Doch sagen wir es offen heraus: wäre diese Regierungserklärung nicht erschienen, wir wären trotzdem verpflichtet gewesen, die Petersburger Arbeiter aufzufordern, den Streik einzustellen. Aus dem heutigen Telegramm ist ersichtlich, dass allerorts im Reiche die DemonstrationsweIle im Abflauen begriffen ist. Unser heutiger Streik trägt den Charakter einer Demonstration. Nur von diesem Gesichtspunkte aus dürfen wir seinen Erfolg oder Misserfolg bewerten. Unsere direkte und unmittelbare Aufgabe war, der erwachenden Armee vor Augen zu führen, dass die Arbeiterklasse für sie eintritt, dass sie sie nicht stillschweigend in der Not verlässt. Haben wir etwa dieses Ziel nicht erreicht? Haben wir nicht die Herzen aller ehrlichen Soldaten gewonnen? Wer von Euch wird das verneinen? Ist dem aber so, können wir dann die Beilegung des Streiks als unsere Niederlage betrachten? Haben wir nicht dem ganzen Lande gezeigt, dass die Diszipliniertheit der Massen einige Tage nach den grandiosen Oktoberkämpfen, da die Arbeiter noch nicht Zeit gefunden hatten, das Blut abzuwaschen und ihre Wunden zu heilen, sich als so stark erwies, dass es bloß eines Wortes des Delegiertenrates bedurfte, damit sie wie ein Mann in den Streik traten? Seht, selbst die rückständigsten Fabrikbetriebe, die niemals bisher gestreikt hatten, schlossen sich diesmal dem Streik an, und hier im Delegiertenrate nehmen jetzt ihre Delegierten an unseren Sitzungen teil. Die vorgeschrittensten Elemente der Armee veranstalteten Protestmeetings und beteiligten sich an unserer Manifestation. Ist das nicht ein Sieg? Sind das nicht glänzende Erfolge?

Genossen! Wir taten, was wir tun mussten.

Die europäische Börse hat wiederum vor unserer Macht salutiert. Schon die Mitteilung über den Beschluss des Arbeiter-Delegiertenrates genügte, um einen enormen Kurssturz unserer Papiere im Auslande hervorzurufen. Jeder Eurer Beschlüsse, gleichviel ob er gegen den Graf Witte oder die gesamte Regierung gerichtet war, versetzte dem Absolutismus einen heftigen Schlag.

Einige Genossen verlangen, dass der Streik so lange anhalten soll, bis die Kronstädter Matrosen dem Geschworenengericht übergeben werden und der Kriegszustand in Polen aufgehoben wird, mit anderen Worten bis zum Sturze der gegenwärtigen Regierung; denn gegen unseren Streik wird der Zarismus – darüber, Genossen, müssen wir uns vollste Rechenschaft geben – alle seine Kräfte mobil machen. Wenn die Sachlage so aufgefasst wird, dass das Ziel unserer Aktion darin bestehen muss, die Selbstherrschaft zu stürzen, dann allerdings haben wir unser Ziel nicht erreicht. Von diesem Standpunkte aus mussten wir unsere Entrüstung gewaltsam unterdrücken und die Protestmanifestation ablehnen. Aber, Genossen, unsere Taktik entspricht durchaus nicht diesem Gedankengang. Unsere Aktionen sind eine Reihe aufeinanderfolgender Schlachten. Ihr Ziel ist Desorganisation des Feindes und Erringung neuer Freunde. Wessen Sympathie aber ist für uns wichtiger als die Sympathie der Armee? Vergegenwärtigt Euch die Sachlage: indem wir die Frage beraten, ob wir den Streik fortsetzen sollen oder nicht, erwägen wir in Wirklichkeit die Frage, ob der Streik seinen demonstrativen Charakter beibehalten oder aber in einen entscheidenden Kampf verwandelt, das heißt, bis zum vollen Sieg oder bis zur Niederlage fortgesetzt werden soll. Wir fürchten uns weder vor Kämpfen, noch vor Niederlagen. Unsere Niederlagen sind bloß Etappen für den künftigen Sieg. Wir haben das unseren Feinden nicht nur einmal zur Evidenz bewiesen. Allein für jede Schlacht wählen wir uns die für uns günstigsten Bedingungen. Die Ereignisse selbst wirken für uns. Wozu also ihren Gang forcieren? Ich frage Euch darum: für wen ist es vorteilhaft, den entscheidenden Zusammenstoß hinauszuziehen – für uns oder für die Regierung? Gewiss für uns! Denn morgen sind wir stärker als heute und übermorgen stärker als morgen. Für die Regierung ist es natürlich vorteilhafter, wenn sie uns jetzt, da wir für den Entscheidungskampf weniger gerüstet sind, niederknallen könnte.

Vergesst nicht, dass erst unlängst die Bedingungen geschaffen wurden, die uns gestatten, tausendköpfige Volksversammlungen einzuberufen, die breiten Massen zu organisieren und uns in revolutionären Pressorganen an die gesamte Bevölkerung zu wenden. Es ist nun notwendig, diese Bedingungen möglichst umfassend für eine weitzügige Agitation und Organisation in den Reihen des Proletariats auszunutzen. Die Periode der Schulung der Massen für entscheidende Aktionen müssen wir möglichst weit hinausziehen. Vielleicht einen Monat, Vielleicht zwei, um desto geschlossener und organisierter aufzutreten. Einige Genossen geben sich heute wie am Tage der Abänderung der Begräbnismanifestation folgender Befürchtung hin: werden wir, da jetzt der Rückzug angetreten wird, imstande sein, die Massen nochmals auf die Beine zu bringen? Werden sich die letzteren nicht vielleicht beruhigen? Ich antworte darauf: kann die jetzige Staatsordnung überhaupt Bedingungen der Beruhigung schaffen? Haben wir irgend einen Grund, zu befürchten oder zu erwarten, dass in Zukunft keinerlei Ereignisse eintreten werden, die die Massen zwingen, sich zu erheben? Glaubt mir, es wird deren genug geben – dafür wird schon der Zarismus selbst Sorge tragen. Vergesst ferner nicht, dass wir vor der Wahlkampagne stehen, die das gesamte revolutionäre Proletariat aufrütteln wird. Und wer weiß, ob die Wahlkampagne nicht damit endet, dass das Proletariat das ganze morsche Staatsgebäude in die Luft sprengt? Seien wir also nicht ungeduldig und greifen wir den Ereignissen nicht vor. Wir müssen mehr Vertrauen zum revolutionären Proletariat haben. Hat es sich etwa nach dem 22. Januar beruhigt? oder nach der Kommission des Senators Schidlowski? Oder nach den Ereignissen in der Schwarzmeer-Flotte? Nein, die revolutionäre Energie wächst und nicht mehr fern ist der Moment, da sie die absolutistische Ordnung mit sich fortreißt.

Wir stehen vor entscheidenden, schonungslosen Kämpfen. Stellen wir jetzt den Streik ein, begnügen wir uns mit seinem enormen moralischen Sieg und bieten wir alle unsere Kraft auf, das jetzt zu schaffen, was für uns das allerwichtigste ist, – Organisation und nochmals Organisation. Wenn wir Umschau ringsum halten. So sehen wir, dass jeder Tag neue Eroberungen bringt. Eben jetzt organisieren sich die Eisenbahnangestellten und die Post- und Telegraphenbeamten. Mit dem Stahl der Eisenbahnschienen und dem Draht des Telegraphen werden alle revolutionären Herde im Lande zu einem großen Ganzen verbunden. Sie werden uns die Möglichkeit geben, im gegebenen Moment ganz Russland in 24 Stunden auf die Beine zu bringen Man muss sich für diesen Augenblick vorbereiten und die Disziplin, sowie die Organisation bis aufs Äußerste entwickeln. Auf an die Arbeit, Genossen!

Es ist notwendig, sofort die Kampfesorganisation der Arbeiter und ihre Bewaffnung vorzunehmen. Bildet in jeder Fabrik Kampfeszehntschaften und -hundertschaften mit Führern an der Spitze und benennt einen Befehlshaber mit der Führung dieser Hundertschaften. Verstärkt die Disziplin dieser Gruppen so weit, dass die gesamte Arbeiterschaft der Fabrik in jedem gegebenen Moment auf die erste Aufforderung hin in den Kampf zieht. Seid dessen eingedenk dass Ihr beim Entscheidungskampf nur auf Euch selbst zu rechnen habt; die liberale Bourgeoisie beginnt schon jetzt, sich misstrauisch und feindselig gegen Euch zu Verhalten. Die demokratische Intelligenz schwankt. Der Verband der Verbände, der sich uns während des ersten Streiks so willig anschloss, unterstützte in weit geringerem Maße den zweiten.

Ein Mitglied des Verbandes sagte mir dieser Tage: „Mit Eurem Streik bringt Ihr die Gesellschaft gegen Euch auf. Glaubt Ihr denn wirklich nur aus eigener Kraft die Feinde zu bewältigen?“ Ich erinnerte ihn hierauf an folgenden Moment in der französischen Revolution, als der Konvent den Beschluss fasste: „Das französische Volk schließt auf seinem Territorium keinen Vertrag mit dem Feinde ab“, rief ein Mitglied des Konvents aus. „Habt Ihr denn mit dem Siege einen Vertrag geschlossen?“ Da antwortete man ihm: „Nein, wir haben einen Vertrag mit dem Tode geschlossen.“ Genossen! Wenn die liberale Bourgeoisie, gleichfalls als rühme sie sich ihres Verrates, uns fragt: „Gedenkt Ihr denn ohne uns allein zu kämpfen? Habt ihr denn einen Vertrag mit dem Siege geschlossen?“ so schleudern wir ihr dieselbe Antwort ins Gesicht.“

Der Arbeiter-Delegiertenrat fasste mit übergroßer Stimmenmehrheit den Beschluss, die Streikmanifestation Montag am 20. November, 12 Uhr mittags einzustellen. Gedruckte Plakate mit der Verordnung des Delegiertenrates wurden in den Fabriken und Werken verbreitet und in den Straßen ausgehangen. Zur festsetzten Zeit und Stunde wurde der Streik mit derselben Einmütigkeit eingestellt, wie er begonnen hatte. Er hielt 120 Stunden an – dreimal so kurze Zeit als der Kriegszustand in Polen.

Die Bedeutung des Novemberstreiks besteht selbstverständlich nicht darin, dass er einige Dutzend Matrosen vor dem Tode rettete – das spielte keine Rolle bei einer Revolution, die Zehntausende von Menschen mitleidslos verschlang – und auch nicht, dass er die Regierung zur eiligen Aufhebung des Kriegszustandes in Polen zwang – was bedeutete schließlich ein einmonatlicher überflüssiger Ausnahmezustand für dieses viel geprüfte Land? Nein der Novemberstreik war ein lauter Appell an das ganze Land, der klar und scharf auf die herrschende Gefahr hinwies. Wer weiß, ob nicht sofort nach dem erfolgreichen Experimente in Polen wilde Bacchanalien der Reaktion im ganzen Lande ausgebrochen wären, wenn nicht das Proletariat gezeigt hätte, dass es „Schildwache hält, bereit ist, jeden Schlag abzuwehren und jedes Opfer auf sich zu nehmen.“ [B] In einer Revolution, die sich durch die Solidarität der vielstämmigen Bevölkerung von den österreichischen Ereignissen des Jahres 1848 glücklicherweise unterscheidet, konnte und durfte nicht das Petersburger Proletariat, im Interesse der Revolution selbst, seine polnischen Brüder stillschweigend der andrängenden Reaktion preisgeben. Und wenn es so für den morgenden Tag sorgte, konnte und durfte es an dem Kronstädter Aufstand stillschweigend vorübergehen? Der Novemberstreik war ein Solidaritätsappell des Proletariats, der über die Köpfe der Regierung und der bürgerlichen Opposition hinweg an die Gefangenen der Kaserne gerichtet war. Und dieser Appell fand lauten Widerhall.

* * *

Der Korrespondent der Times führte in seinem Berichte über den Novemberstreik nachstehende Worte eines russischen Gardeobersten an: „Es kann leider“ – so erklärte der Oberst – „nicht verneint werden, dass das Dazwischentreten der Arbeiter, die für die Kronstädter Meuterer eintraten, von einem betrübenden moralischen Einfluss auf unsere Soldaten war.“ Dieser „betrübende moralische Einfluss“ ist das Hauptverdienst des Novemberstreiks. Mit einem Schlage rüttelte er die weitesten Kreise der Armee auf und rief schon in den nächsten Tagen eine ganze Reche von Meetings in den Kasernen der Petersburger Garnison hervor. Im Exekutivkomitee und selbst bei den Sitzungen des Delegiertenrates erschienen nicht nur einzelne Soldaten, sondern auch Delegierte aus ihrer Mitte, die Reden hielten und Unterstützung verlangten. Die revolutionären Verbindungen mit der Armee festigten sich, und Flugblätter fanden weite Verbreitung in ihren Kreisen.

Die Erregung in der Armee ergriff in jenen Tagen selbst ihre aristokratischen Spitzen. Schreiber dieser Zeilen hatte während des Novemberstreiks Gelegenheit als Redner an einer Militärversammlung teilzunehmen, die einzig in ihrer Art war. Es verlohnt sich, die Einzelheiten derselben hier wiederzugeben.

Mit der Einladungskarte der Baronesse X. in der Tasche, erschien ich um 9 Uhr abends in einer der vornehmsten herrschaftlichen Wohnungen Petersburgs, und mit der Miene eines Mannes, der den Beschluss gefasst hatte, sich während dieser Tage über nichts mehr zu wundern, war mir der Portier beim Auskleiden behilflich, nahm mir den Mantel ab und brachte ihn in Reih und Glied mit einer großen Anzahl von Offiziersmänteln. Der Diener wartete auf meine Visitenkarte. O weh! Welche Visitenkarte konnte ihm ein „Illegaler“ überreichen? Um ihn aus der Verlegenheit zu helfen, überreichte ich ihm die Einladungskarte der Dame des Hauses. Im Empfangszimmer erschien zuerst ein Student, dann ein radikaler Privatdozent, der Redakteur einer „soliden“ Zeitschrift, und endlich die Baronesse selbst. Offenbar hatte man erwartet, dass „von den Arbeitern“ eine mehr furchterweckende Persönlichkeit erscheinen werde. Ich nannte meinen Namen und man forderte mich auf das Liebenswürdigste auf einzutreten Die Portiere zurückschlagend, erblickte ich eine Gesellschaft von 60 bis 70 Personen. Auf in Reihen aufgestellten Stühlen saßen auf der einen Seite des Durchganges 30 höhere Militärs, darunter glänzende Gardeoffiziere, auf der anderen Seite Damen. Im Vordergrund war eine Gruppe schwarzer Röcke sichtbar, die der Publizistik und dem Advokatenradikalismus zugehörten. An einem Tischchen, das die Tribüne ersetzte, führte irgend ein altes Männchen den Vorsitz. Ich sah unter anderen Roditschew, den künftigen „Tribunen“ der Kadettenpartei. Er sprach gerade über die Einführung des Kriegszustandes in Polen, über die Pflichten der liberalen Gesellschaft und des denkenden Teiles der Armee gegenüber der polnischen Frage. Seine Rede war langweilig und monoton, die Gedanken banal und schlapp, und als er geschlossen, ertönten nur schwache Beifallsbezeugungen. Nach ihm sprach der „Stuttgarter Flüchtling“, Herr Peter Struve, der dank dem Oktoberstreik die Möglichkeit erlangt hatte, nach Russland zurückzukehren und diese Rückkehr dazu benutzte, sofort einen Platz auf dem äußersten rechten Finget des Semstwoliberalismus einzunehmen und von dort aus eine empörende Hetze gegen die Sozialdemokratie zu eröffnen. Ein trostlos schlechter Redner, versuchte er stotternd und sich überstürzend, zu beweisen, dass die Armee auf dem Boden des Manifestes vom 30. Oktober stehe und dieses gegen Angriffe von rechts wie von links verteidigen müsse. Diese konservative Schlangenweisheit erschien im Munde eines früheren Sozialdemokraten äußerst pikant. Ich lauschte seinen Worten und dachte daran, dass derselbe Mann vor sieben Jahren geschrieben hatte: „Je weiter gen Osten Europas, desto sklavischer, feiger und gemeiner wird in politischer Beziehung die Bourgeoisie.“ Er selbst hat sich später aus den Krücken des Revisionismus in das Lager der liberalen Bourgeoisie begeben und durch seine eigene politische Praxis die Richtigkeit seiner historischen These bewiesen ... Nach Struwe sprach über alles mögliche und unmögliche ein radikaler Publizist über den Kronstädter Aufstand, darauf ein gemaßregelter Professor, der zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie hin und her pendelte, und endlich ein angesehener Rechtsanwalt, der die Offiziere aufforderte, der Agitation in den Kasernen keine Hindernisse in den Weg zu stellen. Die Reden wurden immer entschiedener, die Atmosphäre heißer, die Beifallsbezeugungen des Publikums energischer. Ich meinerseits wies mit meinen Worten darauf hin, dass die Arbeiterschaft wehrlos sei und wehrlos mit ihr zugleich die Freiheit, dass die Offiziere die Schlüssel zu den Arsenalen der Nation in Händen hätten, und dass diese Schlüssel im entscheidenden Moment demjenigen übergeben werden müssten, dem sie von Rechts wegen gehörten – unserem Volke. Zum ersten- und wahrscheinlich letzten Mal in meinem Leben sprach ich vor einem solchen Auditorium. ...

Der „betrübende moralische Einfluss“ des Proletariats auf das Militär veranlasste die Regierung eine Reihe von Repressalien zu ergreifen. In einem der Garderegimenter wurden Verhaftungen vorgenommen und ein Teil der in Petersburg stationierten Matrosen unter starker Bedeckung nach Kronstadt übergeführt. Die Soldaten wandten sich von allen Seiten an den Delegiertenrat mit der Frage: Was nun? Wir antworteten ihnen mit folgendem Rufruf, der unter dem Namen des Manifestes an die Soldaten bekannt wurde:

„Der Arbeiter-Delegiertenrat antwortet den Soldaten:

‚Brüder, Soldaten der Armee und Flotte!

Ihr wendet Euch oft an uns, den Arbeiter-Delegiertenrat, um Rat und Hilfe. Als man die Soldaten des Preobraschenski-Regimentes verhaftete, batet Ihr uns um unsere Hilfe. Als man die Zöglinge der Kriegselektrotechnischen Schule verhaftete, batet Ihr um unseren Beistand. Als die Flottenmannschaften unter Bedeckung von Petersburg nach Kronstadt eskortiert wurden, suchten sie bei uns Schutz.

Eine ganze Reihe von Regimentern entsendet an uns seine Delegierten.

Bruder, Soldaten! Ihr tut recht daran! Ihr findet nirgends besseren Schutz, als bei der Arbeiterschaft. Treten die Arbeiter nicht für Euch ein, gibt es keine Rettung für Euch. Die verfluchte Kaserne erdrückt Euch in ihren Krallen.

Die Arbeiter treten stets für ehrliche Soldaten ein. In Kronstadt und Sewastopol kämpften und fielen die Arbeiter Schulter an Schulter mit den Matrosen. Die Regierung setzte für die Matrosen und Soldaten in Kronstadt ein Kriegsfeldgericht ein, und sofort legten die Petersburger Arbeiter allerorts die Arbeit nieder.

Sie sind bereit, zu hungern, sie wollen aber nicht ruhig zuschauen, wie man den Soldaten martert.

Wir, der Arbeiter-Delegiertenrat, rufen Euch, Soldaten, im Namen aller Petersburger Arbeiter zu:

Euer Leid ist unser Leid. Eure Not ist unsere Not, Euer Kampf ist unser Kampf. Unser Sieg wird auch der Eurige sein. Dieselben Ketten fesseln uns und nur die gemeinsamen Anstrengungen des Volkes und der Armee werden diese Ketten sprengen.

Wie soll man die Soldaten des Preobraschenski-Regimentes befreien? Wie die Matrosen und Soldaten in Kronstadt und Sewastopol retten?

Zu diesem Zweck müssen wir das Land von den Gefängnissen und Kriegsgerichten des Zaren säubern. Mit einer vereinzelten Attacke werden wir weder die Preobraschenski befreien, noch die Opfer in Sewastopol und Kronstadt retten. Es bedarf eines gemeinsamen, mächtigen Ansturms, um unser Vaterland von der Willkür und Eigenmacht zu befreien.

Wer kann dieses große Werk vollbringen?

Nur das arbeitende Volk im Bunde mit den brüderlich gesinnten Truppen.

Brüder, Soldaten! Wacht auf! Erhebt Euch! Nähert Euch uns! Ehrliche und mutige Soldaten! Vereinigt Euch in Verbänden.

Weckt die Schlafenden! Rüttelt die Rückständigen auf! Trefft Vereinbarungen mit den Arbeitern! Tretet mit den Arbeiterdelegierten in Verbindung!

Vorwärts für das Recht, für das Volk, für die Freiheit, für Eure Frauen und Kinder!

Seine brüderliche Hand streckt Euch entgegen

Der Arbeiter-Delegiertenrat.“

Dieses Manifest fällt in die letzten Tage der Existenz des Arbeiter-Delegiertenrates.

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Anmerkungen

A. Der Kriegszustand in Polen wurde durch den Erlass vom 25. November aufgehoben.

B. Aus der Resolution des Delegiertenrates.


Zuletzt aktualiziert am 2. Januar 2025